Ich höre, was die Seelen sprechen

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Der Tag, auf den die Seelen gewartet hatten

Im Jahr 1982 heiratete ich Bret, den Mann meiner Träume. Ich liebte meinen Mann schon, als er noch nicht einmal wusste, wer ich war. In dem Augenblick, als ich ihn mit vierzehn bei einem Basketballspiel sah, verliebte ich mich in ihn. Er war damals sechzehn und ging auf die Highschool. Es dauerte noch viele Jahre, bis er mich als reife, attraktive Frau wahrnahm, mit der er eine Zukunft aufbauen könnte. Wir hatten beide schon den Highschoolabschluss und einen Job, als unsere Beziehung anfing. Auch wenn wir beide noch jung waren, heirateten wir mit Anfang zwanzig. Unser Hochzeitstag fiel auf den 11. September 1982 – wir ahnten nicht, was für ein tragisches Datum dies später für Amerika bedeuten würde. Für mich war es der glücklichste Tag meines Lebens.

Mein Mann ging bald darauf in die Navy. Er verpflichtete sich für ganze sechs Jahre. Das gab uns genügend Zeit, um eine Familie zu gründen. Da wir in Deutschland stationiert waren, hatten wir das Vergnügen, viele schöne und aufregende Orte in Europa kennen zu lernen. Während der Zeit in der Navy bekamen wir drei wundervolle und lebhafte Jungen, die wir geradezu anbeten. Ich war mit allen möglichen Jobs, Babysitten und meinem Haushalt vollauf beschäftigt. Bei all unseren Reisen wurde Deutschland mein Lieblingsland. Mich faszinierte die Geschichte dieses alten Landes, und ich genoss die Erlebnisse und Erfahrungen, die es mir bieten konnte. Wir flogen zwar so oft wir konnten nach Hause, doch wir freuten uns immer, wenn wir zu unserem geruhsameren Leben auf dem Land zurückkehrten. Wir hatten auch das Glück, in Deutschland viele gute Freundschaften zu schließen, die es leichter machten, weit weg von der Heimat zu sein.

1987 kündigte mein Bruder an, dass er und seine Frau uns in Deutschland besuchen wollten. Am 24. Mai würden sie ihren ersten Hochzeitstag feiern. Ich war überglücklich, da ich Tausende von Meilen von meiner Familie getrennt war und sie sehr vermisste. Ich komme aus einer engen Familiengemeinschaft und war es nicht gewöhnt, so lange von Zuhause weg zu sein. Die Vorstellung, meinen Bruder und seine Frau wiederzusehen, war himmlisch! Meine Schwägerin war eine gute Freundin von mir und ich konnte die Ankunft der beiden kaum erwarten. Wir alle freuten uns sehr darauf.

Nach ihrer sicheren Landung in Deutschland feierten wir das Wiedersehen. Sie erzählten mir alle Neuigkeiten über die Familie zu Hause. Wir nahmen sie mit zu Fußballspielen, machten Ausflüge und zeigten ihnen die Landschaft. Wir besuchten Schlösser, Geschäfte und die herrlichen kleinen Restaurants in der Gegend. Es war Ende Mai und das Wetter war mild. Ich war so glücklich. Alles schien vollkommen zu sein. Was könnte jetzt noch schief gehen?

Nach einem besonders ereignisreichen Tag kamen wir nach Hause zurück und gingen zu Bett. Die beiden Jungen schliefen sofort ein, und es dauerte nicht lange, bis auch die Erwachsenen fest schliefen.

Am nächsten Tag wachte ich auf und machte Frühstück. Es war ein ganz gewöhnlicher Tag, außer dass meine Verwandten zu Besuch waren. Wir frühstückten gemütlich und besprachen unsere Pläne für den Tag. Ich hatte gerade damit angefangen, das Geschirr abzuräumen, als das Telefon klingelte.

Nur wenige Minuten vorher hatte Linda sich im Bad die Haare getrocknet, während die beiden Jungen im Fernsehen Cartoons sahen. Ich ging gerade aus der Küche ins Schlafzimmer. Dort roch ich den starken Duft eines bestimmten Parfüms. Ich rief Linda und fragte sie, welches Parfüm sie verwendete. Als sie ins Schlafzimmer kam, sagte sie, dass sie kein Parfüm nach Deutschland mitgenommen hätte.

»Das ist doch Halston, oder?«, meinte sie.

»Weißt du, wer das immer benutzt?«

»Wer?«, fragte ich.

»Heather. Sie trägt das immer.«

Linda und meine jüngere Schwester Heather waren eng miteinander befreundet, und Linda war sicher, dass dies derselbe Duft war. Sobald sie es ausgesprochen hatte, klingelte das Telefon. Linda ging zurück ins Bad und ich nahm den Hörer ab. Es war mein Vater aus Maine.

»Es ist Dad«, sagte ich zu Bret und Chuck, die mich fragend anschauten.

»Ach, der Boss? Er will sicher wissen, wie es uns geht.« Doch dann starrte Bret mich erschrocken an. »Da drüben ist es jetzt drei Uhr morgens!«

»Ich habe eine schlechte Nachricht«, sagte mein Vater.

»Was ist es?«, fragte ich zögernd.

»Wir haben heute Nacht Heather und Tom verloren«, antwortete er. Tom war Heathers Mann.

Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte. »Wie meinst du das - wir haben sie verloren?«

»Sie hatten einen tödlichen Autounfall, Liebling.«

Ich wiederholte die Worte meines Vaters laut, noch bevor ich ihre Bedeutung begriff.

»Heather und Tom sind heute Nacht bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«

Dann setzte ich mich stumm und wie betäubt hin, den Hörer ans Ohr gepresst.

Mein Vater, der offensichtlich selbst immer noch unter Schock stand, sagte: »Es tut mir so Leid, Liebling. Ich kann jetzt nicht reden. Ich ruf dich wieder an, sobald wir mehr wissen.«

Ich antwortete: »Es ist okay, Dad. Alles wird gut sein.«

Während ich den Hörer auflegte, glaubte irgendetwas in mir tatsächlich, dass alles gut sein würde. Es war das erste Mal für mich, jemanden zu verlieren, der mir so nahe stand. Es schien undenkbar. Meine Eltern, Heather und dieser Unfall waren so weit weg von Deutschland, dass ich die Realität nur sehr schwer begreifen konnte. Bis zu diesem Augenblick hatte sich alles in meinem Leben immer wieder zum Guten gewendet, doch ich spürte, diesmal würde es anders sein. Ich fühlte, dass mein Leben sich auf mehr als eine Weise verändern würde und nichts mehr so sein würde wie vorher.

Zwei Tage lang war ich unfähig zu weinen. Wahrscheinlich war ich so viele tausend Meilen von zu Hause entfernt, dass ich keine Verbindung mehr spürte. Am zweiten Abend telefonierte ich mit meiner Mutter. Sie hatte erfahren, dass das kleine Auto von Tom und Heather nur wenige hundert Meter von ihrem Haus von einem anderen Wagen erfasst worden war. Ein Jugendlicher hatte den Unfallwagen gefahren. Er und seine drei Freunde hatten es anscheinend für cool gehalten, ohne Scheinwerfer durch ein Stoppschild zu rasen, und so war der Wagen mit der Längsseite von Heathers und Toms Auto kollidiert. Heather und Tom hatten sie noch nicht einmal kommen sehen und waren sofort tot. Der jugendliche Fahrer des anderen Wagens, der für den Unfall verantwortlich war, kam mit geringfügigen Verletzungen davon.

Der Klang der Stimme meiner Mutter brach den Damm. Endlich konnte ich weinen. Meine Tränenflut wollte gar nicht mehr aufhören.

»Wird das Leben je wieder so sein, wie es war?«, fragte ich sie schluchzend.

»Mit der Zeit wird es das«, sagte sie.

Ich glaubte ihr jedes Wort, wohl weil ich so verzweifelt daran glauben wollte. Jeder Gedanke an eine Zukunft ohne meine jüngere Schwester stach mir ins Herz, und plötzlich kamen mir tausend Fragen, auf die es keine Antwort gab. Warum ausgerechnet Heather? Warum musste sie so jung sterben? Hatten sie und Tom leiden müssen? Und wo waren sie jetzt?

Ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Im Bett tröstete Bret mich, bis ich erschöpft in seinen Armen einschlief. Mitten in der Nacht wachte ich auf und hörte mich »Was?« fragen. Es war, als hätte jemand im Traum meinen Namen gerufen und meine Antwort hatte mich geweckt. Ich sah auf die Uhr; es war 2:45 Uhr morgens. Irgendwie wusste ich, dass ich aufstehen und ins Wohnzimmer gehen sollte. Zuerst versuchte ich, mich so leise wie möglich zu verhalten, um Bret nicht zu wecken. Aber ich spürte, dass er nicht aufwachen würde, egal wie laut ich wäre. Als ich ins Wohnzimmer kam, schliefen Chuck und Linda auf dem Ausziehsofa, das rechts stand. Wieder wusste ich irgendwie, dass sie nicht aufwachen würden. Ich warf einen Blick auf die Kuckucksuhr und sah, dass sie um genau 2:45 Uhr stehen geblieben war.

Es kam mir nicht wie ein Traum vor, auch wenn alles seltsam surreal wirkte. Ich spürte eine Gegenwart zu meiner Linken. Als ich den Kopf wandte, sah ich meine Schwester Heather, die in Brets Sessel saß. Ihr Mann Tom saß mit gekreuzten Beinen vor ihr auf dem Boden. Ich werde nie vergessen, was sie anhatte: eine pinkfarbene Bluse, dazu Bluejeans und pinkfarbene Stöckelschuhe. Tom trug einen weiten cremefarbenen Wollpullover, Jeans und Turnschuhe. Sie schienen auf mich gewartet zu haben.

Mein erster Gedanke war: »Gott sei Dank! Es ist nicht wahr! Ihr seid nicht gestorben.« Dann stand Heather auf und ich sah ein helles Schimmern um ihren Kopf. Beide hatten eine strahlende Schönheit, die übernatürlich war. Ich stand wie betäubt im Wohnzimmer und starrte die Vision an. Da wurde mir klar, dass sie wirklich von uns gegangen waren. Sie waren ganz offensichtlich nicht mehr auf dieser Erde.

Ohne etwas zu sagen, kam Heather auf mich zu und legte die Arme um mich. Während wir uns umarmten, konnte ich sie spüren, doch es war mehr als nur eine körperliche Berührung. Es war, als könnte ich ihr Wesen in allen Körperzellen wie eine tröstliche Energie aus Wärme, Liebe und Frieden fühlen. Während sie mich in den Armen hielt, kam mir sofort jede einzelne glückliche Erinnerung unseres ganzen gemeinsamen Lebens wieder in den Sinn. Ich spürte ihre tiefe Liebe zu mir und all die wunderbaren Gefühle, die wir geteilt hatten, in einem einzigen überwältigenden Augenblick. Ich wollte den Moment für immer festhalten. Freudentränen liefen mir über das Gesicht. Schließlich ließ Heather mich los und Tom stand langsam auf. Sie trat zurück, als er mich zur Begrüßung umarmte. Wieder spürte ich eine Welle der liebevollen Energie, auch wenn sie nicht so intensiv war wie die Energie, die von Heather ausgegangen war. Dann hörte ich seine Stimme in meinem Kopf, obwohl seine Lippen sich nicht bewegten. Er kommunizierte in Gedanken mit mir.

 

»Warum setzt du dich nicht, jetzt, da du weißt, dass wir hier sind? Wir müssen über ein paar Dinge reden«, sagte er ohne Umschweife. Er war sanft und zugleich ernst, so als müssten wir gleich zur Sache kommen. Ich sah Heather an. Sie nickte und beide setzten sich. Ich setzte mich auf ein Sofa, das nicht von Chuck und Linda benutzt wurde, die beide fest auf dem anderen Sofa schliefen. Ich kuschelte mich in ein paar Kissen und wischte mir die Tränen ab.

Hunderttausend Fragen schwirrten mir durch den Kopf. »Wie ist es passiert? War es Zeit für euch zu gehen? Musstet ihr leiden?«

Heather und Tom hörten meine Gedanken. »Beruhige dich«, sagte Heather. »Ja, unsere Zeit war gekommen. Als der Unfall geschah, habe ich sofort meinen Körper verlassen. Wir haben nicht gelitten. Das ist der Normalfall. Die Seele verlässt den Körper noch vor dem Zusammenprall, wenn der Tod unausweichlich folgen wird.«

«Seid ihr in ein Licht gegangen? Haben Verwandte schon auf euch gewartet? Ist euer Leben vor euren Augen wie ein Film abgelaufen? Wie ist es da, wo ihr jetzt seid?«

Tom sah mich liebevoll an und sagte: »Ja, das stimmt alles. Aber Vicki, das musst du doch nicht fragen – du kennst die Antworten längst. Kannst du dich noch an unsere Gespräche über das Leben nach dem Tod erinnern, und an den ganzen atheistischen Quatsch, den ich gesagt habe?«

Ich nickte. Ich konnte mich gut an die langen Gespräche erinnern, die ich mit Tom über Spiritualität und das Leben nach dem Tod geführt hatte.

»Du hattest so Recht«, sagte er nun. »Es tut mir Leid, dass ich dir nicht geglaubt habe. Durch deine Erfahrungen weißt du mehr, als dir bewusst ist, und das sollst du wissen. Vicki, du würdest nicht glauben, wie schön es hier ist.«

Ich weiß nicht, ob es sein Blick oder seine Worte waren, doch plötzlich wurde ich von Glückseligkeit überwältigt. Es war nicht, weil ich Recht behalten hatte und er sich über das Leben nach dem Tod geirrt hatte, sondern weil alles, an was ich bisher geglaubt hatte, nun von zwei Menschen bestätigt wurde, die ich liebte und denen ich vertrauen konnte.

Dann sagten mir Heather und Tom, dass sie gekommen waren, um mir über das Leben nach dem Tod und damit verbundene spirituelle Dinge zu berichten. Dies war der richtige Augenblick, um ihnen all meine Fragen zu stellen und von ihnen alle Antworten zu erhalten, die ich brauchte. Sie wollten mir helfen, das zu bestätigen, was ich im Grunde schon wusste, und die spirituellen Eingebungen, die ich aus meinen Erfahrungen mit Seelen, die ich gesehen hatte, auf eine neue Bewusstseinsebene zu bringen.

Schweigend saß ich auf dem Sofa und nahm alles in mich auf, als Heather das Gespräch unterbrach: »Willst du das Ganze nicht lieber aufschreiben?«

Sie zeigte auf einen Stift und einen Schreibblock neben mir. Ich weiß nicht, ob die Schreibutensilien schon dort gelegen hatten oder ob Heather und Tom sie irgendwie herbeigezaubert hatten, aber sie waren real. Ich fing an, alles aufzuschreiben, während ich ihnen in Gedanken Fragen stellte.

»Wie ist es dort, wo ihr seid?«, fragte ich.

»Kannst du dich denn nicht daran erinnern?«, erwiderte Heather.

»Nein, natürlich nicht.«

»Ja, das ist ein Teil des Problems«, sagte Heather. »Wir vergessen es. Am Anfang des Lebens erinnern wir uns als Kinder noch daran, doch wenn wir älter werden, vergessen wir es. Aber man muss es nicht vergessen. Wir vergessen es, weil wir nicht innehalten, um uns daran zu erinnern. Dies wird natürlich von einer Kultur gefördert, die uns nicht beibringt, uns zu erinnern. Es ist genauso, wie wenn man aus einem Traum aufwacht. Wenn man gleich aus dem Bett springt und in Bewegung bleibt, vergisst man, was man geträumt hat. Aber wenn man sich nach dem Erwachen einen Augenblick lang darauf besinnt, sich an den Traum zu erinnern und darüber nachzudenken, bleibt er einem für immer im Gedächtnis. Das ist sehr schade, denn wenn wir uns nicht mehr an den Frieden und das Glück unserer wahren Heimat erinnern, fühlen wir uns auf der Reise durch das Leben abgeschnitten und haben Angst. Aber wir sind nicht allein, Vicki. Wir sind viel mehr miteinander verbunden, als wir wissen, und du wirst in deinem späteren Dienst anderen dabei helfen, sich daran zu erinnern.«

Ich hatte keine Ahnung, was sie mit »Dienst« meinte, aber ich war sicher, dass es mir später klar werden würde.

Als ich mich an die Kommunikation über Gedanken gewöhnt hatte, merkte ich, dass man so viel schneller miteinander kommunizieren kann. Auf jede Frage folgte sofort die Antwort. Was gewöhnlich Minuten gedauert hätte, verbal zu äußern, wurde in Sekunden gedacht. Auch war dies eine völlig neue Lernmethode für mich. Es war nicht wie das Lernen aus einem Buch oder in einem Klassenzimmer, wo man Informationen durch ständiges Wiederholen aufnimmt. Ich nahm alles, was Heather und Tom mir beibrachten, sofort auf und wusste auch gleich, dass es die Wahrheit war. Obwohl ich ein paar Details aufschrieb, merkte ich, dass die Notizen mich behinderten, und so schrieb ich nur wenig nieder.

So vergingen drei Stunden. Sie kamen mir wie zwanzig Minuten vor. Ich hatte zwar mehrere Blätter mit Notizen voll geschrieben, doch ich fragte mich, wozu ich sie überhaupt brauchte, da alle Informationen in meinem Gehirn gespeichert waren. Es gab keinen Abschied von Heather und Tom. Mir war klar, dass ich sie wiedersehen würde, auch wenn ich nicht wusste wann. Gegen 5:45 Uhr morgens fand ich mich im Türrahmen zu unserem Schlafzimmer wieder. Mein erster Gedanke war, dass ich alles nur geträumt hatte. Dann sah ich den Schreibblock, den Stift und meine vielen Notizen. Darüber war ich so glücklich, dass ich Bret aufweckte und ihm von dem nächtlichen Besuch erzählte. Er schien mir zu glauben, doch vielleicht wollte er mich auch nur beruhigen, weil ich am Abend davor so verzweifelt gewesen war.

Seitdem habe ich Heather und Tom fünfzehn bis zwanzig Mal wiedergesehen. Wie oft kann ich nicht genau sagen, denn viele ihrer Besuche waren nur ganz kurz. Und dennoch erfüllte jeder ihrer Besuche einen Zweck. Einige Male lehrten sie mich nur etwas Bestimmtes, andere Male brachten sie mir viele verschiedene Dinge bei, doch keiner ihrer späteren Besuche war so überwältigend wie diese erste Begegnung.


3

Der Anfang meiner Berufung

Deine Seelenmission ist der Grund deines Daseins, dein Lebenssinn. Sie ist deine Berufung im Leben – zu wem du dich berufen fühlst, zu was du dich berufen fühlst.

Die Mission ist eine Energie, die durch dich fließt – eine Antriebskraft, Stimme oder Passion, die du nicht ignorieren kannst ... Sie ist das, was du im Innersten deines Herzens spürst ausleben zu müssen, wenn du inneren Frieden und Harmonie erfahren willst.

Alan Seale


Ein paar Monate nach Heathers und Toms erstem Besuch bei mir erhielt ich die Nachricht von Zuhause, dass mein Vater im Alter von neunundvierzig unheilbar an Knochenkrebs erkrankt war. Bret beantragte seine Versetzung in die Air Force, um zurück in die Heimat gehen zu können, und innerhalb von drei Monaten lebte ich wieder in den Vereinigten Staaten. In den nächsten Jahren machte ich Erfahrungen mit einer anderen Art von Sterben. Im Gegensatz zu dem plötzlichen und unerwarteten Tod meiner Schwester war der Tod meines Vaters langsam und schmerzhaft.

Die Erfahrungen mit dem Sterben meines Vaters und Heathers machten mich meiner Sterblichkeit sehr bewusst. Ich fing an, mich über den Sinn meines Lebens zu fragen. Ich hatte das sehr starke Gefühl, irgendeine Aufgabe zu haben, doch ich hatte keine Ahnung, was das für eine Aufgabe war. In den darauf folgenden Jahren gebar ich noch zwei Kinder. Bret und ich bauten ein Haus und ich machte eine Ausbildung zur Krankenschwester. Bald darauf arbeitete ich in einem Pflegeheim.

Die Arbeit als Krankenschwester in einem Altersheim war ganz anders als ich es mir vorgestellt hatte. Auch wenn ich sehr gern mit alten Menschen arbeitete, störte mich von Anfang an die Art, wie einige der Ärzte und Schwestern die Sterbenden behandelten. Viele der medizinisch ausgebildeten Fachkräfte zeigten weder Mitgefühl noch Interesse an den alten Menschen, die im Sterben lagen. Mir war zwar auch bewusst, dass sie nicht das Privileg meiner spirituellen Erfahrungen mit anderen Menschen hatten, doch sie wollten auch nichts davon hören. Wenn sie sahen, dass ich mich um die Sterbenden kümmerte und ihnen manchmal auch Botschaften von ihren Lieben überbrachte, deren Seelen auf sie warteten – was immer eine beruhigende und tröstende Wirkung auf die Patienten hatte –, mahnten sie mich ab oder machten sich über mich lustig.

Nach einem langen, frustrierenden Kampf mit dem Status Quo hängte ich den Beruf der Altenpflegerin an den Nagel, um der Frustration zu entgehen, die aus dem Wissen entstand, dass meine Begabung zwar Menschen Trost spenden konnte, doch dass mir nicht erlaubt wurde, sie zu nutzen. Ende der achtziger Jahre und Anfang der neunziger Jahre war es nicht gesellschaftsfähig, ein Medium zu sein. Es gab auch keine Fernsehsendungen, in denen ein Medium die spirituelle Kommunikation mit den Zuschauern demonstrieren konnte, und die meisten Leute wussten auch nicht, was der Unterschied zwischen einem Wahrsager und einem Medium ist. Meine Fähigkeit, mit Seelen zu kommunizieren, war für die meisten Leute noch nichts Interessantes, sondern eher etwas Merkwürdiges und Ungewöhnliches. Wenn sie damit konfrontiert wurden, wussten die Meisten nicht, was sie davon halten sollten.

Da ich den starken Drang verspürte, meiner Fähigkeit zu entrinnen, suchte ich nach einem Beruf, der eher physisch als metaphysisch war. So wurde ich Mechanikerin in einer Autowerkstatt. Ich machte Ölwechsel, wechselte Reifen und holte mir schwarze Fingernägel. Zuerst war es ein herrlicher Job, denn außer dem Mädchen am Empfang arbeitete ich ausschließlich mit einem Haufen Männer zusammen, die sich einen Dreck um meine übernatürlichen Erlebnisse scherten. Mir war zwar klar, dass dieser Berufswechsel etwas extrem war, doch ungewöhnliche Umstände rufen nach außergewöhnlichen Maßnahmen. Im Rückblick versuchte ich wahrscheinlich, den Konflikten aus dem Weg zu gehen, die durch das Sehen und Hören der Seelen verursacht wurden. Dieser Job war vermutlich so weit davon weg wie nur möglich. Das Komische am Schicksal ist jedoch, dass das Leben uns nicht nur eine Chance bietet, es zu ergreifen. Wenn wir eine Gelegenheit versäumen, unsere Aufgabe in diesem Leben zu erfüllen, warten die nächsten Chancen gleich hinter der nächsten Ecke auf uns. Es muss wohl nicht erwähnt werden, dass ich in dem Augenblick um die Ecke bog, in dem ich dies am wenigsten erwartete.

Ich genoss meinen neuen Job in der Autowerkstatt, ohne einen Gedanken an Seelen oder die spirituelle Welt zu verschwenden. Doch als ich eines Tages in das Auto eines Kunden stieg, um einen Ölwechsel vorzunehmen, war alles plötzlich wieder da. Ich wusste sofort, dass das Auto in einen Unfall verwickelt gewesen war, bei dem jemand verletzt worden war. Meine spirituellen Fähigkeiten meldeten sich wieder. Ein paar Tage später hörte ich die Stimme einer Frau, die auf der Toilette der Werkstatt sang. Das war nichts allzu Ungewöhnliches – bis ich merkte, dass ich die Einzige auf der Toilette war – das heißt, die einzige Frau in einem menschlichen Körper. Anscheinend war die Werkstatt auf dem ehemaligen Grundstück eines Privathauses erbaut worden und die Frau war auf dem Grundstück begraben worden. Wieder gaben meine Fähigkeiten mir Informationen, um die ich nicht gebeten hatte.

Bald stellte ich fest, dass ich meiner spirituellen Begabung nicht entfliehen konnte. Nachdem die Faszination des neuen Jobs verklungen war, holte mich der innere Drang, der mich zur Ausbildung als Krankenschwester und der Arbeit im Altersheim gebracht hatte, wieder ein. Ich wusste, es gab etwas, das ich tun sollte, doch ich hatte immer noch keine Ahnung, was es war. Vielleicht fragen Sie sich, warum mir meine Berufung zur spirituellen Kommunikation nicht längst klar war, warum ich meine Fähigkeit, mit Seelen zu sprechen, nie als Karrierechance ansah. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, meine Begabung in einem Beruf auszuüben, und wer würde mich dafür bezahlen, wenn so viele Leute mir nicht glaubten, dass ich Seelen hören und sehen konnte? In meinem Denken passten die Begabung, die ich gelernt hatte zu verbergen, und die Leere in meinem Leben, die ich füllen wollte, nicht zusammen. Obwohl es im Rückblick so offensichtlich erscheint, sah ich es damals noch nicht.

 

Also suchte ich mir wieder einen Job, von dem ich mir die Erfüllung erhoffte. Ich hatte schon immer Pferde geliebt und so wurde ich Verwalterin eines 300 Jahre alten Gestüts mit intakten Pferdeställen. Doch sobald ich mich dort eingelebt hatte, wurde mir die Vergangenheit des Gestüts bewusst. Das heißt, ich begann wieder, Seelen zu sehen. Ich sah Soldaten im Bürgerkrieg, Soldaten im Unabhängigkeitskrieg und eine Frau, die im Stall erhängt wurde. Ich sah, dass dort einst ein Feuer gewütet hatte. Hätte ich verstanden, dass all das eine Bedeutung für mich hatte, dass es eine Übung für das, was später kommen sollte, war, dann hätte ich die Erfahrung vielleicht positiver angesehen. Doch stattdessen verwirrten meine Visionen mich, und ich verstand nicht, warum ich Dinge sah, die kein anderer sehen konnte. Da die Menschen immer noch die Augen verdrehten, wenn ich über meine Erlebnisse redete, behielt ich sie meistens für mich. Wie zu erwarten war, konnte auch diese Arbeit das Gefühl in meinem Herzen nicht verdrängen, dass ich eigentlich etwas ganz anderes tun sollte.


Da ich auf der Schwesternschule gewesen war und mich schon immer für ganzheitliche Heilung interessierte, ging ich zurück auf die Schule, um Naturheilpraktikerin zu werden. Meine Studien der Naturheilkunde erfüllten mich mehr als alles, was ich bisher versucht hatte, und so tauschte ich während des Studiums meinen Job auf dem Gestüt gegen eine Stelle in einem Reformhaus ein.

Die Naturmedizin faszinierte mich, und mit den Kunden im Laden über das zu reden, was ich gerade lernte, befriedigte mich. Ich hatte das Gefühl, etwas zu erreichen, indem ich anderen helfen konnte. Nachdem ich den ersten Abschluss in Naturheilkunde in der Tasche hatte, arbeitete ich als Naturheilpraktikerin, während ich weiter studierte, um den Doktortitel zu machen. Alles fühlte sich richtig an, und ich glaubte, endlich meine Zukunft zu kennen.

Als Verkäuferin durfte ich keine ganzheitlichen Beratungen durchführen, doch der Geschäftsführer erlaubte mir, meine Geschäftskarten auf die Theke zu legen, auf denen ich meine Dienste als Naturmedizinerin anbot. Nun konnte jeder Kunde, der erfahren wollte, welche Vitamine, Mineralien, Kräuter und natürlichen Heilmittel seine Beschwerden erleichtern würden, mich für mein Wissen bezahlen. Innerhalb von ein paar Tagen steckte eine Kundin meine Karte ein und rief mich wegen einem Beratungstermin an.

Als Elisabeth in mein Büro kam, wollte sie nur eine ernährungswissenschaftliche Beratung. Doch während der Untersuchung hörte ich plötzlich einen lauten Schlag auf meinem Schreibtisch und fuhr zusammen. Interessant war, dass Elisabeth anscheinend nichts gehört hatte. Dann sah ich den Geist ihrer Großmutter. Sie versuchte, mich auf sich aufmerksam zu machen, indem sie mit ihrem Stock auf meinen Schreibtisch klopfte. Sie bestand darauf, dass ich Elisabeth sagen sollte, dass sie da war. Zuerst dachte ich: ›Redet diese Seele wirklich mit mir?‹ Außer den Seelen von Freunden und Verwandten hatte bisher noch keine Seele eines Fremden direkt zu mir gesprochen, das heißt, mich gebeten, jemandem eine Botschaft zu überbringen, den ich nicht kannte. Ich konnte es kaum glauben – und das während meiner ersten naturmedizinischen Beratung! Das behagte mir ganz und gar nicht. ›Auf keinen Fall‹, dachte ich. ›Hier sitzt meine erste Klientin. Sie wird mich für verrückt halten.‹ Ich versuchte, Elisabeths Großmutter zu ignorieren, doch sie blieb beharrlich. ›Sagen Sie ihr, dass ich hier bin‹, drängte sie. ›Sie muss es erfahren.‹ Als mir klar war, dass sie nicht verschwinden würde (das war, bevor ich lernte, bei Seelen Grenzen zu ziehen), fragte ich Elisabeth, ob sie eine Großmutter hätte, die verstorben war. Dann sagte ich ihr, dass ihre Großmutter hinter ihr stand und ihr vermitteln wollte, dass sie da war. Es stellte sich heraus, dass Elisabeth erfrischend offen für diese Information war, was mich immens erleichterte. Ich setzte die naturmedizinische Beratung fort, die sich als Erfolg erwies, doch es waren die Botschaften ihrer verstorbenen Großmutter, von denen Elisabeth später ihren Freunden erzählte. Bevor ich mich versah, schickte sie mir ihre Bekannten. Sie alle wollten keine Beratung in Ernährungsfragen, wofür ich jahrelang studiert hatte, sondern mit den Seelen ihrer Verstorbenen kommunizieren – das, was ich schon immer gekonnt hatte. Die Ironie des Ganzen entging mir nicht.

Elisabeth schickte mir eine Gruppe von drei Leuten, die sich eine Sitzung und das Stundenhonorar teilten. Das war ein so neues Terrain für mich, dass ich Angst hatte, die gerufenen Seelen könnten nicht erscheinen, doch ich beruhigte mich damit, dass ich kein Honorar verlangen bräuchte, wenn nichts passierte.

Die Seelen der Verstorbenen erschienen tatsächlich und ich überbrachte meinen Klienten ihre Botschaften. Einer meiner Klienten hieß Derek. Er war von der Sitzung besonders berührt. Ein paar Tage später empfahl er mich seinem Schwager, einem Mann, der mein Freund und Geschäftspartner wurde. Ich nenne ihn John.

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