Aviva und die Stimme aus der Wüste

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Der Wächter schaute Leroy misstrauisch an. „Hm, Lendor hat da so etwas erwähnt, glaube ich.“ Mehr konnte Aviva nicht verstehen, aber sie beobachtete die beiden Männer, während sie sich unterhielten. Sie befürchtete, Rab würde Leroy abwimmeln. Aber Basko bellte immer wieder aufgeregt dazwischen. Dann kratzte er am geschlossenen Tor, beschnupperte es und bellte wieder laut. Aviva sah, wie Rab endlich unbeholfen die Pforte öffnete und dabei leicht schwankte. Basko sprang als Erster durch die Öffnung. Rab stemmte die Hände in seine breiten Hüften und folgte Basko hinaus. Leroy drehte sich kurz zu Aviva um und winkte ihr zu, dann verschwand er ebenfalls durch das Tor.

Aviva ging mit raschen Schritten zum Tor, das noch einen schmalen Spalt offen stand. Hinter den Palisaden war es viel dunkler, der Schein des Feuers reichte nicht über die Höhe der Holzpfähle hinaus. Sie spähte in die Dunkelheit. Rechts von sich hörte sie Rab und Leroy miteinander reden. Schnell huschte sie zur linken Seite und lief tief gebückt im Schutz der Dunkelheit die Palisadenwand entlang, bis sie sich traute, den schmalen Weg, der zum Wald führte, zu überqueren. Mittlerweile hatten sich ihre Augen an das Mondlicht gewöhnt.

„Bring bitte das Lamm zu seiner Mutter in den Stall. Ich mache nur einen kurzen Rundgang und bin bald wieder zurück“, hörte sie Leroy sagen, während sie sich hinter einem breiten Baumstamm versteckte. Noch bevor der Wächter einen Einwand vorbringen konnte, war Leroy schon im Wald verschwunden. Rab brummte unverständliche Worte und kehrte zum Tor zurück. Aviva konnte gerade noch erkennen, dass er ein Bündel im Arm hielt. Das ist das verletzte Lamm, dachte sie. Deswegen war Basko so aufgeregt. Leroy muss es absichtlich draußen liegen gelassen haben. Etwa meinetwegen?

Der Wächter schloss das Tor wieder. Er schüttelte den Kopf, nahm eine kleine Flasche aus seiner Hosentasche und trank einen tiefen Schluck daraus. „Seltsamer Hirte mit seinem Mädchen“, murmelte er. Dabei taumelte er ein wenig. Ein unbehaglicher Gedanke schlich sich in seinen Kopf: Wo war die junge Frau? Soeben hatte sie doch noch mit dem Hirten hier gestanden. Er hatte nicht daran gedacht, nachzuschauen, wer das gewesen war. Ach, bestimmt ist sie zum Feuer zurückgegangen, beruhigte er sich selbst. Etwas benommen trottete er zum Stall und legte das Lamm zu den anderen Schafen.

Sobald Rab das Tor von innen verriegelt hatte, lief Leroy in Avivas Richtung. Basko eilte voraus und sprang geradewegs zu dem Baum, hinter dem sich Aviva versteckt hatte. Sie atmete tief durch, als Leroy vor ihr stand. Wortlos umarmten sie sich. Aviva spürte seine Herzenswärme, die sie wie ein Umhang der Geborgenheit umgab. Tief atmete sie seine Nähe ein. Dann löste sie sich aus seiner Umarmung und schaute ihm direkt in die Augen.

„Danke, Leroy“, sagte sie leise. „Ich weiß jetzt, was ich tun muss. Der Bann wurde über mir ausgesprochen und ich hätte Rapos Sklavin werden sollen. Ich werde von hier weggehen.“ Während sie das sagte, fühlte Aviva, wie sie auf eine geheimnisvolle Weise innerlich aufgerichtet wurde. Ihre Augen bekamen einen Glanz, der sogar im Dunkel der Nacht erkennbar war.

„Ja, ich weiß“, entgegnete Leroy und wich ihrem Blick nicht aus, wie sie es von den anderen gewohnt war. Wieder dieses Leuchten in seinen Augen, dachte sie, und diesmal war sie sich sicher, dass es nicht der Mondschein war.

„Ich werde dich jetzt zu meinem Lagerplatz bringen. Ruh dich dort aus und mach dich erst im Morgengrauen auf den Weg.“ Leroy nahm wieder ihre Hand und übernahm die Führung. Schweigend gingen sie nebeneinander her, so schnell Aviva mit ihren Verletzungen laufen konnte. Der Mond leuchtete ihnen den Weg und Aviva konnte den schmalen Pfad erkennen, der zur Weide führte. Leroy war der Erste, der die Stille durchbrach. „Was glaubst du, Aviva, woher stammen wir?“, fragte er plötzlich wie aus dem Nichts.

Verwundert über seine Frage antwortete sie: „Du weißt, man erzählt sich, dass wir dem Erdgott Veles angehören, der zornig ist und nie genug hat. Manche nennen ihn deshalb den Gierigen. Je mehr wir tun, was er verlangt und ihm Opfer bringen, desto eher bekommen wir, was wir uns erhoffen.“ Vielleicht gibt es auch mehrere Mächte in der Schöpfung, überlegte sie. Und sie bekämpfen sich gegenseitig. Oder der Schöpfer ist ein launisches Wesen, der manchmal beschützt und dann wieder straft. So wie Veles. Bei diesem Gedanken verspürte Aviva eine Enge in ihrer Brust.

„Ich bin mir nicht so sicher, ob wir wirklich ihm angehören“, sagte Leroy da mit einer ruhigen und nachdenklichen Stimme. Dieser Veles, so vermutete er schon lange, war nicht der wahre Schöpfer. Vielmehr schien er ein Naturgott zu sein, der sich in eine Schlange oder einen Drachen verwandeln konnte. Laut fuhr Leory fort: „Für mich klingt es komisch, dass wir alle zu ihm gehören. Aber einige Menschen können ihn sehen, oder zumindest seine Diener, die sich für die meisten Menschen unsichtbar machen.“

Aviva musste unwillkürlich an die roten Augen im Wald denken. Ihr schauderte. Schnell ergriff sie wieder das Wort: „Die meisten Dorfbewohner haben große Angst vor Veles. Sonst würden sie ihm nicht regelmäßig Opfergaben in den Wald legen. Das ‚kleine Volk‛, so wird seit Generationen erzählt, holt die Gaben ab und bringt sie ihm. Manche im Dorf haben aber keine Angst vor ihm – im Gegenteil, sie kontrollieren andere und sind selbst sehr böse.“ Im Stillen fragte Aviva sich, ob sie überhaupt ein Herz hatten. Vielleicht war es wie bei Rapo, eingeschlossen im Tausch gegen eine Furcht vertreibende Macht. Dann sprach sie weiter:

„Es scheint so, als ob Veles jeden Fehler findet, den man begangen hat, und einen dafür bestraft. Es ist, als ob wir Menschen beweisen müssten, dass wir in allem bereit sind, dem Schöpfer zu dienen. Und wenn wir perfekt sind und Veles glauben, wird er uns zu Gott, dem wahren Schöpfer, führen. Wir müssen Prüfungen bestehen. Dann werden wir belohnt.“ Bei diesem Satz stutze Aviva. Obwohl sie lange selbst daran geglaubt hatte, fühlte es sich nicht richtig an. Ihre Brust fühlte sich wieder an wie eingeschnürt und sie begann, schwerer zu atmen.

Leroy schaute sie für einen Moment von der Seite an und flüsterte beinahe: „Ich weiß, aber die Stimme sagt mir etwas anderes.“

Aviva glaubte, sich verhört zu haben. Die Stimme? Was meinte Leroy damit? Sie traute sich nicht, genauer nachzufragen, vielleicht meinte er einfach seinen Instinkt. Sie hatte noch nie jemandem erzählt, dass eine geheimnisvolle Stimme zu ihr sprach. Jetzt war auch nicht der richtige Augenblick dafür.

Aviva erinnerte sich an eine Geschichte, die von den vorbeiziehenden Nomaden erzählt wurde. „Es gibt da noch eine andere Geschichte über einen Schöpfer und ein Wunder, das er gewirkt hat“, begann sie vorsichtig. Sie suchte die richtigen Worte, da sie selbst nicht genau verstanden hatte, um welches Wunder es eigentlich ging. Eine seltsame Ruhe legte sich auf Avivas Gemüt und die Enge in ihrer Brust verschwand.

Eine Erinnerung stieg in ihrem Geist auf. Es war kalt und windig draußen gewesen. Sie sah sich und ihre Geschwister um den warmen Ofen am Boden sitzen und Bohnen verlesen. Zwei vorbeiziehende Nomaden waren auch im Haus und tauschten gerade mit Großmutter Kala Leder und Kaffeebohnen. Die Kinder wollten alles hören, was gesprochen wurde. Die Neugier auf die Welt außerhalb der Palisaden war groß.

„Leroy, ich erinnere mich gerade an eine Geschichte, die ich als kleines Kind gehört habe. Die Nomaden waren bei uns zu Besuch und erzählten sie. Sie sagten, dass die Menschen Kruna, den wahren Gott, vergessen haben, weil ihre Gedanken in einem Netz gefangen waren, gefangen von einem mächtigen Herrscher dieser Erde.“ Bei diesen Worten stockte Aviva und ihr kam ein Gedanke: Ich glaube, die Nomaden redeten von Veles.

Dann fuhr sie fort: „Aber Kruna beschloss, den Menschen zu helfen. Die Nomaden sagten, dass er die Menschen liebt, wie ein Vater seine Kinder liebt. Dass unser wahres inneres Wesen ihm gleicht, weil er uns erschaffen hat und wir dadurch mit ihm verbunden sind. Er glaubt, dass wir im Grunde genommen gut sind und seine Liebe nicht erst verdienen müssen, so wie bei Veles. Darum leidet er auch, wenn er sieht, wie viel Leid die Menschen ertragen müssen. Deshalb hat Kruna den Himmel geöffnet.“

„Was hat er getan?“, fragte Leroy.

„Die Nomaden sprachen davon, dass er einen neuen König – Masia soll er heißen – direkt vom Himmel auf die Erde sandte, der etwas Außerordentliches bewirkte. Nur er war so mächtig, es zu tun. Masia soll die gleiche Kraft wie der Schöpfer besitzen, die stärker ist als Veles’ Macht. Welches Wunder er tat, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass Großmutter plötzlich unruhig wurde und die Nomaden das Haus verlassen mussten.“

Leroy hatte ihr aufmerksam zugehört. Da fing Basko, der ihnen vorauslief, auf einmal an zu knurren. Leroy bedeutete Aviva, sich nicht zu bewegen. Plötzlich raschelte es im Busch vor ihnen und ein kleines Pelztier jagte eilig in die hügelige Landschaft davon. „Nur ein Wiesel!“, sagte Leroy erleichtert.

In der Ferne konnten sie bereits Leroys Schafherde erkennen. Die Tiere standen eng aneinandergedrängt. Etwas weiter hinten sah man die Rinder, die Leroy für Avivas Sippe hütete. In dieser Nacht sah alles friedlich aus. Und doch wusste Aviva von den roten Augen der Schattenwesen, die aus der unsichtbaren Welt in den Wäldern lauernd die Menschen beobachten. Das sind Veles’ Wächter, dachte sie. Im Wald waren die Augen in Gruppen zu erkennen gewesen. Die Gestalten selbst waren nie zu sehen, nur dunkle Umrisse. Auch wenn man sie nicht sah, wusste Aviva, dass sie da waren und hatte das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen. Doch hier, auf dem offenen Land, war es anders.

 

Endlich waren sie an Leroys Lagerplatz angekommen. Aviva erkannte die Stelle wieder, wo sie sich am Morgen getroffen hatten. Es kam ihr vor, als ob seitdem eine Ewigkeit vergangen wäre.

„Leg dich jetzt schlafen.“ Leroy deutete auf Felle, die am Boden lagen. „Basko wird diese Nacht bei dir bleiben.“ Er griff in seine Seitentasche und holte in Stoff gewickelten Proviant heraus. „Nimm das, du wirst es auf deiner Reise brauchen. Ich muss zurück, damit die Wache nicht misstrauisch wird. Wenn ich dort bin, werden sie dich diese Nacht nicht bei mir suchen, sofern sie vor dem Morgengrauen feststellen, dass du verschwunden bist. Ich werde unten im Stall schlafen.“

Aviva kämpfte mit den Tränen. „Wir werden uns wiedersehen“, fügte Leroy hinzu und strich ihr mit seiner Hand über den Kopf. Er beugte sich zu Basko hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann ging er den Weg zurück.

Aviva spürte immer noch seine Hand auf ihrem Haar, als sie ihm nachschaute. Seltsam, dachte sie, wie ein großer Bruder hat er mich behandelt. Sie hatte immer noch seinen Umhang an und war sehr dankbar dafür, denn langsam fröstelte sie. Es war nicht nur die Kälte der Nacht, sondern das, was sie heute alles erlebt und überlebt hatte. Erschöpft ließ sie sich auf die Felle sinken und zog den Umhang noch enger um sich. Basko legte sich neben sie.


Trotz ihrer Erschöpfung traute Aviva sich nicht, einzuschlafen. Ihre Gedanken wanderten wieder zur letzten Nacht und dem schwarzen Raubtier. Wo ist sie wohl jetzt, die schöne große Katze?

Aviva fühlte sich wie in einem Traum. Unfassbar, was alles an diesem Tag geschehen war. Wie ist es möglich, so viele und so verschiedene Abenteuer an einem Tag zu durchleben? In ihr wirbelten die Gefühle durcheinander. Sie empfand große Freude, denn sie war frei – frei von Rapo, frei von der Unterdrückung und frei davon, nichts wert zu sein. Dann jedoch musste sie an die Verurteilung und die Misshandlungen denken. Sie hatte die Schläge der Männer nicht wirklich gespürt. Umso mehr jetzt, wo es still um sie war. Ihr ganzer Körper tat weh. Bei der kleinsten Bewegung durchzuckte sie ein Schmerz, der ihr den Atem nahm. Ihr Rücken war sicher voller blauer Flecken und Striemen. Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie endlich eine erträgliche Liegeposition eingenommen hatte.

Als Nächstes kamen ihr ihre Geschwister in den Sinn. Eine tiefe Traurigkeit holte sie ein, als sie an Gora, Jada und Salin dachte. Sie hatte niemanden, an den sie sich halten konnte, niemanden, der für sie sorgte oder für den sie sorgen konnte. Der Kummer wurde immer stärker und drückte heftig gegen ihren Brustkorb, sodass sie einen schmerzhaften Riss in ihrem Herzen verspürte. Die Hitze im Brustkorb breitete sich aus, es brannte, tief im Inneren spürte sie einen fast unerträglichen Schmerz, als wenn ihr ein Glied abgerissen worden wäre. So war es auch, der letzte Faden ihrer Bindung zur Sippe war gerissen. Avivas Finger krallten sich in den Umhang, als ein heftiges Schluchzen aus ihrer Brust hervorbrach und ihr zierlicher Körper anfing, sich unkontrolliert zu schütteln. In diesem Moment ließ Basko ein mitfühlendes Winseln ertönen. Eine Weile lag sie so da, bis allmählich die heftige Spannung in ihr nachließ und sie einschlief.

***

Aviva öffnete die Augen. Wo bin ich? Träume ich?

Sie blickte umher. Etwas stimmte nicht. Ein eigenartiges Gefühl beschlich sie. Tatsächlich, sie schien sich an einem anderen Ort zu befinden! Sie schaute sich um. Es musste eine Grotte sein, in der sie stand. Unter ihren Füßen war felsiger Boden und nur aus einer Richtung drang Tageslicht in diese Grotte. Vor ihr war eine Felswand. Irgendetwas war darin verborgen. Als sie sich die Wand genauer anschaute, konnte sie es erkennen: Es war eine Skulptur, die aussah wie ein Mensch, gemeißelt in die Felswand. Ein sehr großer Mann in einem langen Kleid.

Plötzlich merkte Aviva, dass diese Skulptur gar nicht in die Felswand gemeißelt war, sondern aus der Wand hervortrat und lebendig wie ein Mensch vor ihr stand. Aviva konnte nicht anders, als staunend vor ihm zu stehen. Wie gebannt betrachtete Aviva sein Gesicht. Ein strahlendes Gesicht mit leuchtenden Augen. Aviva war zutiefst ergriffen, denn solch gütige Augen hatte sie noch nie zuvor gesehen. Ob sie aus Feuer oder Lichtfunken waren, konnte sie nicht unterscheiden, doch sie fühlte dafür umso mehr eine vertraute Gegenwart in ihrem Herzen.

„Aviva!“, hörte sie ihn sagen. Kam die Stimme aus ihrem Herzen oder aus den gütigen Augen der Erscheinung? Sie wusste es nicht, aber in ihr machte sich ein unverkennbares Glücksgefühl breit. Es war die Stimme, ihre Stimme, die zu ihr sprach!

„Du gehörst mir“, erklang sie wieder.

Aviva schossen Tränen in die Augen. Seine Stimme war erfüllt von Zärtlichkeit und Liebe, nicht besitzergreifend und doch bestimmt.

Ich gehöre ihm? Masia?

Ein erneutes Staunen löste die Tränen ab, denn jetzt streckte er ihr seine Hand entgegen und Aviva verspürte ein Verlangen danach, sie zu berühren. Als sie es tat, spürte sie eine Liebe, wie sie sie noch nie empfunden hatte. Sie wurde von einem Licht ergriffen, das ihren Arm hochstieg und ihren ganzen Körper erfasste. Sie fühlte sich wie ein strahlender Fluss aus Licht. Aviva verwandelte sich. In ihren Gedanken konnte sie die ganze Welt erfassen und sie vor allem verstehen. Sie wurde von einer Intelligenz und einer Liebe durchdrungen, die sie nie mit Worten würde erklären können. Die Liebe war so intensiv und die Kraft so stark, dass sie über sich selbst und alles, was auf dieser Welt war, emporgehoben wurde.

***

Es war früh am Morgen, als Aviva ihre Augen öffnete. Tiefe Geborgenheit und Freude erfüllten ihr Herz. Im ersten Augenblick wusste Aviva nicht, wo sie war. Sie genoss einfach diesen Moment der Zufriedenheit. Dann war sie plötzlich ganz wach. Wo bin ich?

Sie setzte sich auf. Dann erkannte sie den Lagerplatz von Leroy. Sie wusste wieder, wo sie sich befand und was alles geschehen war. Sie streifte Leroys vom Tau feuchten Umhang ab und stand auf. Sie musste fort von hier. Leroy hatte ihr geraten, in der frühen Stunde zu gehen. Die Landschaft vor ihr sah friedlich aus und es lag Tau auf den Gräsern. Sie bewegte ihre Glieder ein wenig. Neben ihr lag der Pfeil.

Als sie aufstand, fiel ihr auf, mit welcher Leichtigkeit sie das tat. Ihre Knie schmerzten nicht mehr und sie fühlte sich wohl in ihrem Körper. Etwas war anders. Dann kam ihr plötzlich der Traum der vergangenen Nacht in den Sinn. Die Grotte, das Licht! Habe ich wirklich nur geträumt? Mit dem Verstand konnte sie es nicht erklären, aber trotz allem, was am Tag zuvor geschehen war, fühlte sie sich verwandelt und gestärkt. Eine liebevolle Gegenwart umgab sie spürbar. Sie fühlte sich nicht mehr allein.

Sie nahm etwas von dem Proviant, aß ein Stück getrocknetes Fleisch und trank aus der kleinen in Leder eingebundenen Flasche. Nachdem sie ihre Kleider notdürftig etwas geordnet hatte, schaute sie sich nach Basko um, doch er war nirgends zu sehen. Trotzdem zog sie mutig los, dem Sonnenaufgang entgegen, ostwärts. Ihr Entschluss stand fest: Sie wollte in das Land hinter der Wüste.

Mehrere Pfade lagen vor ihr. Aviva kannte die Wege nicht; sie wusste nur, dass einige davon zu den Dörfern anderer Sippen führten. Sie musste gut achtgeben, welchen von ihnen sie wählte. Sie beschloss, als Orientierung stets die Wüste im Blick zu behalten. Aber zunächst musste sie möglichst schnell weit weg von Cagor, ihrem Dorf, und dabei möglichst keinem Menschen begegnen, den sie kannte. Erst auf einem der weit entfernt gelegenen Märkte würde sie sich wieder verpflegen können. Bis dahin vertraute sie darauf, dass die Natur ihr geben würde, was sie benötigte. Aviva folgte ihrem Instinkt. Der gewählte Pfad führte sie zuerst einen Hang hinunter und über eine Weide. Dahinter lag ein Wald mit uralten Bäumen. Die Stämme waren so dick, dass es Aviva ein Leichtes war, sich dahinter zu verstecken, wenn Gefahr drohte. Der Weg war so schmal, dass sie ihre nackten Füße gerade so nebeneinander stellen konnte.

Mit flinken Schritten eilte sie voran. Der Boden war immer noch nass vom Tau und Aviva bemerkte trotz ihrer Eile die einzelnen Tropfen auf den Gräsern, in denen sich die verschiedensten Farben spiegelten. Diese Farben hatte sie früher ab und zu am Himmel gesehen, wenn ein farbig leuchtender Bogen den Himmel mit der Erde zu verbinden schienen. Aber niemand in ihrem Dorf hatte sich getraut, dieses Ereignis offen zu bewundern. Aviva war es, als ob sich ihr eine neue Welt zeigte. Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Während sie die Schönheit der Landschaft und das bezaubernde Farbenspiel in den Wassertropfen in sich aufsog, kam ihr wieder die letzte Nacht in den Sinn.

Es war kein Traum gewesen, das wusste Aviva auf einmal, ohne begründen zu können, warum. Sie spürte jetzt noch die Leichtigkeit, die sie erfüllt hatte, als das Licht in jede ihrer Zellen gedrungen war, bis sie selbst nur noch aus Licht bestand. Aviva wusste nicht, wie das hatte passieren können, aber sie war sich sicher, im Schlaf etwas Wahres erlebt zu haben. Intuitiv ahnte sie, dass sie mit etwas in Berührung gekommen war, was eigentlich ein Geheimnis war. Sie fühlte sich darin eingeweiht, ohne zu wissen, was sie damit anfangen sollte. Dennoch erfüllte sie eine tiefe Ruhe und Zuversicht.

Aviva lief mehrere Stunden lang durch den Wald und folgte kurvigen und steilen Wegen, die sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelten. Es ging Hänge hinauf und steile Schluchten hinunter. Nicht immer war in der Ferne die Wüste zu sehen. Oft war Aviva der Blick versperrt, aber sie versuchte, ihre ursprüngliche Richtung beizubehalten. Inzwischen musste es schon Mittag sein, denn die Sonne stand hoch. Obwohl Aviva im Schatten der Bäume lief, schwitzte sie und ihre Füße schmerzten. Da gabelte sich vor ihr der Weg. Der breitere Weg führte sie nach links zu einer Lichtung. Neben der Lichtung war ein schmaler Pfad, der von der Lichtung wegführte. Ich muss diesen Pfad nehmen, dachte sie, er führt Richtung Wüste.

Aviva blieb stehen. Sie musste sich eine Pause gönnen, denn vom langen Laufen war sie außer Atem geraten. Erst als ihr Atem ruhiger wurde, konnte sie ein Rauschen hören. Wasser! Aviva war sehr durstig und erleichtert, sich bald erfrischen zu können. Das Rauschen kam aus der Richtung der Waldlichtung. Aviva schaute nochmals auf den anderen, schmaleren Pfad, als sie aus der Ferne Geräusche vernahm. Hinter ihr flogen plötzlich Vögel aus den Baumkronen in den Himmel hinauf, als ob sie verscheucht würden.

Aviva hielt den Atem an und lauschte. Oh nein! Nicht mehr allzu weit von sich weg hörte sie Hundegebell. Es mussten viele Hunde sein, die wild kläfften. Ihr Herz fing an zu rasen und ohne zu überlegen rannte Aviva in Richtung des breiteren Weges, auf die Waldlichtung zu. Sie hoffte auf einen Bach, der ihre Spuren verwischen konnte.

Vor ihrem geistigen Auge tauchte plötzlich Rapos wutentbranntes Gesicht auf. Als Jäger war er erfahren darin, Fährten zu lesen. Ja, es war sicher Rapo, der sie suchte. Ich muss hier weg!, dachte sie. Aviva setzte alles daran, so schnell sie konnte zum Wasser zu gelangen und beschleunigte ihre Schritte. Das Gebell der Hunde wurde immer lauter. Dann hörte sie jemanden rufen: „Da ist sie, in diese Richtung!“ Es war nicht Rapos Stimme, also waren noch andere Jäger dabei. Sie würde ihnen nicht entkommen. Doch ihre Beine bewegten sich wie von selbst und sie rannte und rannte. Das Entsetzen wollte sie packen. Verzweifelt dachte sie: Lieber sterbe ich, als zurück zu müssen.

Dann spielte sich alles blitzschnell ab. Auf einmal sah Aviva vor sich ein schimmerndes Licht. Das muss die Waldlichtung sein! Die Hunde waren ihr dicht auf den Fersen und jetzt sah sie auch Rapo auf sich zurennen. Als er sie fast erreicht hatte, stolperte Aviva, aber sie fühlte weder einen Aufschlag, noch den Boden unter sich. Es war, als ob sich die Erde geöffnet und sie wie ein großer Mund verschlungen hätte. Das Letzte was sie sah, bevor die Dunkelheit sie umfing, war die Waldlichtung. Sie bestand jedoch nicht aus festem Boden, sondern aus einem tiefen Abgrund mit einem riesigen Wasserfall, der aus einem Felsen strömte. Dann sah sie nichts mehr, nur das Tosen des Wassers rauschte laut in ihren Ohren.

Aviva sank tiefer und tiefer. Entsetzen machte sich in ihr breit und sie wollte schreien, brachte aber keinen Laut über ihre Lippen. Sie fühlte sich wie gelähmt und die Angst krallte sich um ihr Herz, als sie aus der Ferne Stimmen hörte. Es waren die Jäger, sie fluchten wütend. Ihre Hunde hingegen verstummten allmählich.

 

„Wie konnte sie bloß entkommen?“, hörte Aviva die Jäger aufgebracht ausrufen.

„Sie ist in den Abgrund gestürzt, das Wild wird sie holen.“ Rapo stieß heftige und boshafte Flüche aus. Er war als Mann und Jäger gedemütigt worden und machte seiner Wut Luft.

Die Stimmen und auch das Rauschen des Wassers schienen sich immer weiter zu entfernen. Aviva empfand nur noch Angst vor der Dunkelheit, die sie umgab. Je tiefer sie stürzte, umso schwindeliger wurde ihr, bis sie in eine dämmrige Benommenheit sank. So muss sich Sterben anfühlen, war ihr letzter Gedanke, bevor sie ohnmächtig wurde.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?