Buch lesen: «Lebendige Seelsorge 3/2019»

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THEMA

Von der Last ein Opfer zu sein

oder: Von der Unmöglichkeit zu vergeben

Von Doris Reisinger

Beschämte Opfer, schamlose Vertuscher und unverschämte Täter

Strange Encounters mit der unheiligen Trinität des sexuellen Missbrauchs

Von Hans-Joachim Sander

Die zentrale Erkenntnis aus den Geschichten Betroffener

Die Replik von Doris Reisinger auf Hans-Joachim Sander

Die Möglichkeit der Vergebung

Die Replik von Hans-Joachim Sander auf Doris Reisinger

Missbrauch sind immer die anderen

Von Christiane Florin

PROJEKT

Die Macht der (nicht mehr) Ohnmächtigen

Von Petra Dankova

INTERVIEW

„Transparenz, Respekt und die Wahrung von Grenzen“

Ein Gespräch mit Hartmut Niehues

PRAXIS

Auf dem langen Weg in eine nach–klerikale Kirche

Von Rainer Bucher

Sexualisierte Gewalt an Schutzbefohlenen – Kirchenrechtliche Perspektiven

Von Peter Platen

Brauchen wir eine neue Sexualmoral?

Überlegungen infolge des Missbrauchsskandals

Von Martin M. Lintner

Frauen – die Lösung des Problems?

Von Sr. Katharina Ganz OSF

Prävention sexualisierter Gewalt – eine weltkirchliche Aufgabe

Von P. Hans Zollner SJ

FORUM

Zwischen der eigenen Professionalität und einem anspruchsvollen Ehrenamt in der Krankenhausseelsorge

Von Michael Fischer

POPKULTURBEUTEL

Religion als wirksames Mittel gegen Unruhe und Bruderzwist

Von Matthias Sellmann

NACHLESE

Re: Lecture

Von Barbara Vinken

Buchbesprechungen

Impressum


Hildegard Wustmans Mitglied der Schriftleitung

Liebe Leserin, lieber Leser,

die katholische Kirche in Deutschland steckt in einer tiefen Krise angesichts der Ergebnisse der sogenannten MHG-Studie vom September 2018. Nach dem Entsetzen und der Betroffenheit sind Maßnahmen der Aufarbeitung und Veränderung auf den unterschiedlichsten Ebenen und in ganz verschiedenen Bereichen zwingend erforderlich. Die „Lebendige Seelsorge“ möchte eine Stimme in diesem Prozess sein.

Im ersten Beitrag kommt Doris Wagner zu Wort. Sie ist eine Überlebende von spirituellem und sexuellem Missbrauch. Aus dieser Perspektive ist der Beitrag geschrieben. Sie kommt zu dem Schluss, dass sich ein echter Ausweg aus der Krise noch nicht abzeichnet. Hans-Joachim Sander beschreibt eine unheilige Trinität und stellt die These auf, dass strange encounters eine Möglichkeit sein könnten, den Opfern jenen Raum zu geben, der ihnen, ihren Stimmen und ihren Erfahrungen gebührt. Die Journalistin Christiane Florin lässt in ihrem Beitrag die bestürzende Strecke an Enthüllungen und die halbherzigen Reaktionen von Verantwortlichen vor Augen treten. Petra Dankova ist eine Stimme von Voices of Faith in Deutschland und stellt in ihrem Beitrag diese globale Initiative von katholischen Frauen vor. Im Interview widmet sich Regens und Sprecher der Deutschen Regentenkonferenz Hartmut Niehues aus Münster den Fragen, die den Fokus auf die Ausbildung der Seminaristen legen. Rainer Bucher zeigt auf, wie klerikale Überlegenheit in den Missbrauch führen kann. Dass auch das Kirchenrecht die Perspektive der Betroffenen einzunehmen hat und an welchen Stellen des CIC das unbedingt geschehen sollte, zeigt Peter Platen auf. Inhaltliche Änderungen sind ebenso im Bereich der Sexualmoral erforderlich. Welche Diskurse aufgegriffen und weitergeführt werden sollten, erfahren Sie im Beitrag von Martin Lintner. Die Ordensoberin Katharina Ganz lenkt den Blick auf ihre eigene Gemeinschaft und schildert, wie herausfordernd und zugleich alternativlos die Auseinandersetzung mit der Missbrauchsgeschichte in den Kommunitäten ist. Missbrauch ist ein weltkirchlicher Skandal. Der Leiter des römischen „Centre for Child Protection“ (CCP), P. Zollner SJ, stellt klar heraus, dass der Blick auf die Opfer zu lenken ist und dies gerade auch angesichts verschiedener kultureller und weltkirchlicher Systeme.

Zum Abschluss möchte ich noch auf die Re: Lecture von Barbara Vinken hinweisen. Sie erinnert, nur wenige Wochen nach dem Brand der Kathedrale von Notre Dame, an den Roman von Victor Hugo, Der Glöckner von Notre Dame. Liebe Leserinnen und Leser, ich wünsche Ihnen eine nachdenkliche Lektüre


Prof. Dr. Hildegard Wustmans

Von der Last ein Opfer zu sein

oder: Von der Unmöglichkeit zu vergeben

Das schrittweise Offenbarwerden unzähliger Missbrauchs- und Vertuschungsfälle in den vergangenen Jahrzehnten, mit immer neuen Fakten, Zahlen, Geschichten und Dimensionen hat die katholische Kirche in eine historische Krise geführt, aus der sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch kein Ausweg abzeichnet. Doris Reisinger

Wenn man sich mit den Augen eines anderen sieht und dabei so gesehen wird, wie man nicht gerne gesehen werden möchte, dann nennt man das Scham. Scham ist das Gefühl der Stunde, denn die Kirche steht so ganz anders da, als sie gerne wollte. Bischöfe beteuern, dass sie sich schämen. Priester schämen sich, Katholiken und Katholikinnen schämen sich für ihre Kirche. Alle scheinen sich in Äußerungen darüber zu überbieten, wie erschüttert sie sind, dass sie das alles gar nicht fassen können und nicht verstehen, wie das überhaupt möglich war und sich unendlich schämen.

SCHAM – DAS GEFÜHL DER STUNDE

Das Leiden an dieser Scham ist real und es wird insbesondere von Klerikern intensiv empfunden. Ein Freund erzählte mir neulich, wie ein befreundeter Priester, mit dem er über die Missbrauchskrise sprechen wollte, ihm ernsthaft den Vorwurf machte: „Du hast mich noch gar nicht gefragt, wie schwer das für mich jetzt ist.“

Manche sind da schon einen Schritt weiter. Sie haben die Scham (wenn auch nicht den Schmerz) hinter sich gelassen. Es sind Betroffene, Menschen, die sich lange geschämt haben für das, was ihnen angetan wurde, und die beschlossen haben, sich nicht mehr zu schämen, sondern zu reden. Wie gesagt, Scham heißt: Sich mit den Augen anderer so sehen, wie man nicht gesehen werden möchte. Niemand möchte dabei gesehen werden, wie er/sie missbraucht wird. Deshalb schämen sich Opfer von Gewalt, obwohl sie für diese Gewalt keine Verantwortung haben. Erst wenn sie über die erlittene Gewalt offen sprechen und erleben, dass sie in den Augen der anderen durch diese Gewalt nicht an Wert verloren haben – mit anderen Worten: erst dann, wenn Opfer Unterstützung finden –, wird die Scham gewissermaßen dahin transferiert, wo sie hingehört: zu den Tätern, Täterinnen und Wegguckern.

Was sich bei Tätern dann einstellt, ist nämlich tatsächlich Scham über ihr eigenes Fehlverhalten. Deshalb muss mit dieser Scham auch anders umgegangen werden: Ein Täter wird die Scham nicht los, indem er öffentlich über den von ihm begangenen Missbrauch spricht oder darüber, wie er unter dem Öffentlichwerden seiner Taten leidet. Ein Bischof wird die Scham nicht dadurch los, dass er darüber spricht, was ihm „angetan“ wird, wenn er für seinen Umgang mit Missbrauchsfällen befragt und kritisiert wird. Wer sich für das eigene Fehlverhalten schämt, wird diese Scham erst wieder los, wenn er/sie dieses Fehlverhalten – oder das eines Vorgängers – zugibt und korrigiert.

Doris Reisinger

geb. 1983, Theologin und Philosophin; ehemaliges Mitglied der Geistlichen Familie „Das Werk“; Verfasserin der Autobiographie „Nicht mehr ich – die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau“ (2014).

Trotz aller Beteuerungen und aller schon gegangenen anerkennenswerten kleinen Schritte lässt diese Einsicht und Korrektur nach wie vor auf sich warten. Stattdessen werden ständig weitere Details bekannt, neue Dimensionen des Missbrauchs deutlich, folgen weitere Entschuldigungen und Beteuerungen. Das hat auch zur Folge, dass die Scham unerträglich wird.

AUSWEG VERGEBUNG?

In dieser Situation erhofft sich mancher einen Ausweg durch Vergebung. Bisweilen wird das offen ausgesprochen, immerfort klingt es an, wenn kirchliche Verantwortungsträger um Verständnis werben: Es wäre eine andere Zeit gewesen damals. Man hätte solche Taten niemals für möglich gehalten und folglich allzu lange übersehen, man hätte auch noch nicht gewusst, welch tragischen Folgen diese Taten haben, man wäre an Geheimhaltungspflichten gebunden gewesen etc. etc. Subtext: Bitte klagt uns nicht an, habt Verständnis, seht es uns nach. Mit anderen Worten: Vergebt uns. Und darin die Hoffnung: Dann wird alles wieder gut und wir alle haben endlich wieder Frieden. Dieser Druck kommt zuweilen auch von wohlmeinenden Gläubigen oder sogar von Seelsorgenden und Angehörigen. Er kommt auf subtile Weise auch von Menschen, die auf einer sehr grundlegenden Ebene tatsächlich verstanden haben, was Missbrauch ist, und die deshalb meinen, auch die Täter seien Opfer des Systems Kirche geworden und müssten Vergebung erfahren. In diese Richtung gehen unter anderem Äußerungen Eugen Drewermanns, die er zuletzt in einem Interview mit Christiane Florin gemacht hat:

Drewermann: Ich kenne keinen Priester und ich behaupte, es gibt auch keinen, der sich weihen lässt in der Absicht, später solche Handlungen zu begehen. Das passiert. Das ist eine Tragödie, die sich lange vorbereitet. […] Da ist etwas lange unterdrückt worden. Das wurde mit heiligen Vokabeln, mit Askese, mit allen möglichen Transformationsprozessen die Sublimation aus dem Triebbereich ins Geistige verlagert. Das wurde rationalisiert. Man war auf der Flucht vor sich selber und konnte nicht wissen, dass all das, hinterherlaufend wie ein Schatten, irgendwann den Flüchtling einholen würde. Es wartet förmlich auf eine Gelegenheit, jemandem zu begegnen, der genauso hilflos ist, wie der Betreffende, der dann handelt […].

Florin: Aber, wenn Sie sagen, Tragödie, Leiden, damit machen Sie auch die Täter zu Opfern.

Drewermann: Absolut. Und das meine ich jetzt in vollem Ernst. […] Wir unterstellen praktischerweise auch, dass die Menschen frei sind. Und, wenn sie wissen, was Gut und Böse ist und tun trotzdem das Böse, in Freiheit, wie wir annehmen, sind sie zu bestrafen. Und je schlimmer das Vergehen, desto strenger. Das ganze bürgerliche Bewusstsein ist darauf aufgebaut. Das Christentum denkt vollkommen anders. Auch die Botschaft Jesu ist eine völlig andere. Die Menschen, die Böses tun, sind nicht böse. Sie wollen das nicht. Sie sind im Grunde wie Verlorene, Verlaufene, Verzweifelte. Und wie geht man sie jetzt suchen, um sie zurückzuholen? Das wäre die Aufgabe, aber nicht den Stab über sie zu brechen oder auf sie draufzuhauen. (Deutschlandfunk).

Diese Worte Drewermanns machen deutlich, dass hinter dem mehr oder weniger subtil geäußerten Wunsch, den Tätern und der Institution solle vergeben werden, noch viel mehr steckt als die unreflektierte Sehnsucht nach Entlastung und Frieden. Dahinter steckt ein, wenn nicht gar das Grundmotiv des Christentums: Erlösung durch Vergebung. Das macht es für die Opfer umso schwerer, denn die Verantwortung, die ihnen aufgebürdet wird, wenn man sich wünscht, dass sie vergeben sollen, ist damit nicht nur im Bereich der zwischenmenschlichen Streitbeilegung angesiedelt, sondern im Bereich der übernatürlichen Erlösung.

ERLÖSUNG DURCH VERGEBUNG?

Wer sich in der katholischen Kirche als Opfer outet, hat es schwer. Denn dafür, was Opfersein bedeutet und wie Opfer sich zu verhalten haben, gibt es im Katholizismus ein unerreichbares Vorbild: Jesus, das vollkommene Opfer, das Opfer schlechthin. Die neutestamentlichen Berichte über sein Leiden und Sterben haben das Opfernarrativ, das in westlichen Kulturkreisen gepflegt wird, maßgeblich geprägt. Dieses Narrativ verlangt, dass Opfer immer unschuldig sind, dass sie schweigen, sich nicht beklagen, das ihnen angetane Unrecht vergeben, es dadurch sühnen und somit das Heil in der Gemeinschaft wiederherstellen. Opfer, die sich anders verhalten, stoßen entsprechend auf Unverständnis. Dabei wäre ein ganz anderes Verhalten so viel nachvollziehbarer und verständlicher – und vermutlich auch aus psychologischer Sicht gesünder: Anklagen. Laut werden. Keine Ruhe geben. Forderungen stellen statt vergeben. Mit anderen Worten: Sich von Tätern und ihren Unterstützern abgrenzen, statt sich von ihnen Regeln diktieren zu lassen oder um ihren Seelenfrieden besorgt zu sein.

Weil sich uns katholisch geprägten Menschen dieses Narrativ gleichsam eingefleischt hat, sind wir, wenn es um die Frage nach der Möglichkeit oder Notwendigkeit der Vergebung von Kindesmissbrauch geht, hin und hergerissen: Als empathisch Empfindende wollen wir einerseits Opfern Wut auf ihre Täter und auf die Täterorganisation Kirche zugestehen. Als Katholiken wollen wir aber andererseits an das Vergebungs-Erlösungsnarrativ glauben.

Natürlich – würden wir sagen –, Betroffene sind völlig zu Recht wütend! Aber – würden wir ebenso, zögerlich vortastend, versuchen –, wird der Circulus vitiosus des Bösen nicht eben gerade durch großherziges Vergeben durchbrochen? Solange Menschen, denen Böses angetan wurde, es ihren Täter heimzahlen wollen, solange sie übersehen, dass diejenigen, die ihnen Böses angetan haben, selbst blind und stumpf geworden sind vom Schmerz ihrer eigenen Wunden, sodass sie diesen Schmerz wiederum anderen zufügen, solange das immer so weiter geht, bleiben wir da nicht alle im Hass gefangen? Ist das nicht das Tragische – und wo Vergebung gelingt, gerade das Wunderbare –, dass es deswegen eben gerade die Opfer sind, von denen die Erlösung kommt, kommen muss? Die Opfer, die die Kraft zur Vergebung aufbringen?

Natürlich, höre ich schon den ein oder anderen eifrig hinzufügen, das kann man von niemandem verlangen. Die Vergebung solcher Verbrechen ist fraglos eine supererogatorische Tat, etwas, das von niemandem gefordert werden kann, gerade wenn es um sexuellen Kindesmissbrauch geht – aber diese Vergebung ist doch auch etwas, was manche bewundernswerte Menschen fertigbringen, oder? Kann man also sagen: „Wo das Böse eingedämmt werden muss, muss einer über Gebühr lieben, andernfalls droht die Rache die Welt zu überschwemmen und zu ersticken“ (Papst Franziskus). – Was dann, wenn es um Missbrauch geht, in den Ohren der Betroffenen als absurder Fehlschluss heißen würde: „Ihr müsst vergeben, sonst hört das Böse nie auf“?

DIE UNMÖGLICHE VERGEBUNG

Wer so denkt, übersieht mindestens zweierlei: Erstens übersieht er, dass eben dieses Leidens-Vergebungs-Erlösungs-Narrativ nicht selten Bestandteil katholisch schmeckender Täter- und Vertuschungsstrategien ist. Täter manipulieren ihre Opfer, indem sie sie glauben machen, das Leid, das sie ihnen zufügen, wäre notwendig zur Sühne einer von ihnen begangenen Sünde. Sie manipulieren ihre Opfer, indem sie sich als Stellvertreter des Erlösers präsentieren und vermeintliche Gnaden austeilen oder vermeintliche Sünden vergeben. Vertuscher manipulieren Opfer, indem sie sie glauben machen, eine moralische Pflicht zum Schweigen zu haben, durch das die Kirche geschützt werde.

Beispielsweise habe der Bischof Henri Bricard zu der Betroffenen Marie-Laure Janssens gesagt: „Das Schweigen der Kirche ist ein Akt der Barmherzigkeit gegenüber Menschen. Schweigen ist keine Furcht vor der Wahrheit, wenn dieses Schweigen das Zeichen von Selbsthingabe ist, die Sprache des Dienens, wie die Jungfrau Maria sie uns gelehrt hat“ (Global Sisters Report, Übers. DR). Das heißt, wer tatsächlich glaubt, Vergebung wäre ein wünschenswerter Ausweg aus der Krise, wer das gar gegenüber Betroffenen in irgendeiner Weise zum Ausdruck bringt, bohrt in eben jener Wunde, die er heilen zu wollen vorgibt.

Wer Vergebung für einen Ausweg hält, übersieht aber auch etwas Anderes: Diese Vergebung ist schlicht und einfach logisch betrachtet gar nicht möglich. Denn Vergebung setzt Anerkennung persönlicher Schuld voraus. Solange es aber an dieser Anerkennung mangelt, können Opfer gar nicht vergeben, selbst wenn sie wollten, denn: Wem soll denn da was vergeben werden? Natürlich, wir haben das Wort „Schuld“ im Munde von Bischöfen oft gehört. Nur fehlte bislang immer das Subjekt, das „ich“ zu diesem Wort. So bleibt zwar die Schuld, aber es gibt keine Anerkennung persönlicher Schuld und somit auch keine Person, der vergeben werden könnte. Mehr noch: Diese Anerkennung wird nach wie vor von vielen Tätern und Vertuschern vehement zurückgewiesen.

Solange Täter ihre Opfer verklagen, weil sie ihre Taten öffentlich gemacht haben, solange Vertuscher Schweigegelder bezahlen, solange unabhängige Aufklärer kontrolliert und erpresst werden (vgl. Christian Pfeiffer), solange überführte Täter ihre Unschuld beteuern oder sich als ungerechterweise Verfolgte inszenieren, kann niemandem von ihnen vergeben werden. Selbst wenn ihre Opfer das tun wollten. So kommen wir zu obigem Satz zurück: Wer sich für das eigene Fehlverhalten schämt, wird diese Scham erst wieder los, wenn er/sie dieses Fehlverhalten zugibt und korrigiert. Und frühestens dann ist Vergebung, rein logisch betrachtet, überhaupt denkbar. Das heißt, der nächste Schritt in der Krise muss tatsächlich von der Seite der Täter und Vertuscher kommen. Und er heißt: Anerkennung persönlicher Schuld und Korrektur des persönlichen Fehlverhaltens. Ohne diesen Schritt gibt es keinen echten Ausweg aus der Krise.

DIE ERLÖSUNG

Aber gibt es ohne diesen Schritt auch keine Erlösung? Hören wir Jesus nicht am Kreuz sagen: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun?“ Ist Jesus nicht genau der, der die Verlorenen, Verlaufenen und Verzweifelten sucht und zurückholt, wie Drewermann das formuliert, anstatt den Stab über sie zu brechen? Oder umgekehrt: Kann es Menschen geben, denen wir keine Erlösung wünschen dürfen, nur weil sie uneinsichtig, verstockt und selbstgenügsam sind? Sind sie nicht gerade die erbärmlichsten Menschen, die man sich denken kann? – Und damit eben auch die, die der Erlösung am meisten bedürfen?

Mir scheint folgende Differenzierung an dieser Stelle von fundamentaler Bedeutung: Erstens: Missbrauchsbetroffene sind nicht Jesus. Sie können und müssen niemanden erlösen – schon gar nicht, indem sie über erlittenes Unrecht schweigen oder uneinsichtigen Tätern „vergeben“. Und zweitens: Menschen, die sich strafrechtlicher, kirchenrechtlicher und ethischer Verfehlungen schuldig gemacht haben, können nicht mit Verweis auf ihre Erlösungsbedürftigkeit für sich in Anspruch nehmen, vor den Konsequenzen ihrer Taten bewahrt zu werden. Die juristische Strafbewehrtheit einer Handlung, ihre sozialen Implikationen und ihre soteriologische Dimension müssen unterschieden werden, solange wir uns als Menschen noch unter den Umständen unserer irdischen Existenz wiederfinden – und eben: noch im Zustand der Erlösungsbedürftigkeit.

Diese Differenzierung vorausgesetzt bleibt die zutiefst christliche Hoffnung, dass es auch für die größten Übeltäter Erlösung geben kann. Aber diese Erlösung kann alleine von Gott kommen. Denn ihm – wenn überhaupt irgendjemandem – kann vielleicht doch gelingen, was Menschen nicht möglich ist: Die verhärteten Herzen der Täter zu berühren.

Unter allen biblischen Bildern liebe ich eines am meisten: Es ist das vom jüngsten Gericht. Wenn alle Menschen, die jemals auf dieser Welt gelebt haben, vor Gott treten. Wenn die, die nur Elend und Not gekannt haben, die in den Hungersnöten, Seuchen und Kriegen der Geschichte elende und grausame Tode gestorben sind, ihr Leben zurückbekommen – und was für ein Leben! Und wenn die größten Übeltäter und Verbrecher der Menschheitsgeschichte vor Gottes Angesicht treten müssen, die, die für diese ungerechten und grausamen Tode Verantwortung tragen, und wenn kein Geld sie mehr freikauft und keine Intrige sie mehr dem Blick ihres Richters entziehen kann und sie sich selbst nicht mehr belügen können. Wenn sie begreifen müssen, was sie getan haben – und was Gott wiedergutgemacht hat, sodass auch ihnen endlich vergeben werden kann. Als Letztes, am Ende der Weltgeschichte. Ich wünsche, dass das mehr ist als ein Bild. Ich jedenfalls möchte meine Täter zwar auf Erden nicht mehr wiedersehen. Aber ich hoffe, ihnen jenseits der Geschichte als erlösten Menschen wieder zu begegnen. Ich wünsche ihnen den Himmel.

LITERATUR

Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/drewermann-ueber-die-katholische-kirche-mir-tun-die.886.de.html?dram:article_id=446500.

Christian Pfeiffer im Interview mit GLAUBEN & ZWEIFELN, in: DIE ZEIT Nr. 17 vom 17. April 2019.

Global Sisters Report: https://www.globalsistersreport.org/news/trends/french-catholics-raise-voices-demand-measures-prevent-further-clergy-sex-abuse-56083.

Papst Franziskus in der Mittwochaudienz vom 24. April 2019: https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/papst-nicht-alles-lasst-sich-mit-gerechtigkeit-losen.

€5,99

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0+
Umfang:
140 S. 18 Illustrationen
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9783429064235
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