Buch lesen: «Inspiration 2/2021»
Impressum
47. Jahrgang – Heft 2, Mai 2021
ISSN 2366–2034
Die Zeitschrift »inspiration« erschien bis zum 41. Jahrgang 2015 unter dem Titel »meditation« mit der ISSN 0171–3841
Verlag: Echter Verlag GmbH, Dominikanerplatz 8, 97070 Würzburg
Telefon (09 31) 6 60 68–0, Telefax (09 31) 6 60 68–23, Internet: www.echter.de
Satz: Crossmediabureau, Jürgen Georg Lang, Gerolzhofen
Druck und Bindung: Pressel, Remshalden
Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt.
Redaktion: Maria Gondolf, E-Mail: mail@maria-gondolf.de, Tel.: 0 22 26/8 90 05 29;
Clarissa Vilain, E-Mail: clarissa.vilain@gmail.com
inspiration erscheint viermal im Jahr
Bezugspreis: jährlich: 30,00 €, Einzelheft 8,50 € zuzüglich Versandkosten
Auch als digitale Ausgabe erhältlich.
Informationen unter www.echter.de/zeitschriften/inspiration
Abonnementskündigungen nur zum Ende des jeweiligen Jahrgangs
Auslieferung: Brockhaus, Kommissionsgeschäft GmbH, Kreidlerstraße 9, 70806 Kornwestheim
Bildnachweis:
Titelmotiv: Panka Chirer-Geyer – www.panka.info
Diesem Heft liegen folgende Prospekte bei:
Hoffnungszeichen, Hoffnungszeichen e. V.
Katharina Ganz, Frauen stören, Echter Verlag
Wir bitten um Beachtung.
Inhalt
inspiration
Heft 2.21 · Wahrheit
Editorial
Georg Lauscher
Auf dem Weg der Wahrheit und des Lebens begleiten
Geistliche Begleitung
Isabel Klaus
Johannes 14,6
Prof. i. K. DDr. Herbert Frohnhofen
Können Religionen wahr sein?
Magdalena Thomas
Wahrhaftig – ein Blick hinter die Kulissen
Es ist viel einfacher.
Ein Gespräch mit Carsten Leinhäuser.
Karin Freist-Wissing
Zwischen Tod und Leben
Über die Vermittlung von Liebe, Selbsterkenntnis und Wahrheit in Bachs Musik der Matthäuspassion
Editorial
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Die Frage nach der Wahrheit lässt uns nicht los. Im Privaten wie im Öffentlichen ist sie der Maßstab für das Miteinander und die Voraussetzung für ein gelingendes Leben. Wahrheit scheint dabei aber heute durch die breiten, internationalen und zum Teil schwer überprüfbaren Kommunikationswege zur einer schillernden Größe zu werden. Was sind Fakten, was Fakes, gibt es die eine Wahrheit oder nur meine Wahrheit, wie erfahre ich, ob etwas wahr ist und kann es auch sein, dass etwas zwar wahr ist, aber als Teil eines Ganzen dann zur Unwahrheit wird? Diesen Fragen, denen sich schon Pilatus stellen musste, wollen wir ein wenig auf den Grund gehen. Nicht umsonst eröffnet Jesus in dem Wort: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben« (Joh 14,6), die ganze menschliche und übermenschliche Dimension und damit auch die Fragilität von Wahrheit in einer Welt, in der es (Gott sei Dank) allzu menschlich zugeht.
In dem vorliegenden Heft geht es um Wahrheit in der Gottesfrage und Wahrhaftigkeit in der Seelsorge. Sie werden mit dem Zweifeln darum konfrontiert, ob es denn überhaupt die eine Wahrheit gibt. Außerdem nehmen wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, mit auf eine spannende Reise durch die Matthäuspassion von Bach und dem, was auch auf den zweiten Blick an Wahrheit für unser Leben in ihr steckt – bis hin zu der Erkenntnis: wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.
Wir wünschen Ihnen ein inspirierendes Lesevergnügen.
Ihre
Maria Gondolf | Clarissa Vilain |
Georg Lauscher
Auf dem Weg der Wahrheit und des Lebens begleiten
Geistliche Begleitung
Was ist denn nun Wahrheit – ist sie das, was ich fühle? Das, was mir gesagt wird, das sie sei? Das, was überliefert wird? In der geistlichen Begleitung werden diese Fragen oft zu einem existentiellen Kristallisationspunkt des Prozesses. Wie man sich der Wahrheit im Glauben nähern kann und sie erleben beziehungsweise leben kann, bewegt Georg Lauscher in diesem Beitrag.
»Was ist Wahrheit?«, wird Jesus in seiner Passion gefragt. Darauf antwortet er mit keinem Wort. Weil er die Antwort ist und weil er sie lebt?
In diesem Beitrag zur geistlichen Begleitung geht es nicht um abstrakte Wahrheit(en). Im geistlichen Leben und Begleiten geht es nie um bloße Lehre, auch nicht um fromme Ideen. Wir nähern uns hier der Wahrheit von ihrem biblischen und existenziellen Sinn her. Emet – das hebräische Wort für Wahrheit – meint eine Zuverlässigkeit, Festigkeit, Tragfähigkeit, die sich in der Erfahrung bewahrheitet hat. Es ist bewährte, bewahrheitete Wahrheit. Sie ist nicht abstrakt; sie ist lebendige Wirklichkeit. Ihr biblisches Bild ist der Fels, der dem Menschen Grund und Standfestigkeit gibt. Jesus verheißt uns, so gegründet »werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien« (Joh 8,32). Diese Wahrheit verleiht also dem Menschen Grund, Aufrichtung und Freiheit gegenüber Dingen, Menschen und Situationen innerer und äußerer Prüfung. Wenn wir Amen sagen, das mit emet verwandt ist, bejahen wir aus Erfahrung und im Vertrauen diese Wahrheit.
Dazu steht in einer gewissen Spannung das griechische, neutestamentliche Wort für Wahrheit aletheia: Es ist jene verborgene Wirklichkeit, die sich selbst enthüllt und ereignet. Dieser Aspekt betont mehr die Entwicklung, den Prozess, in dem sich die Wahrheit allmählich oder plötzlich zeigt.
Existenzielle Wahrheit hält beide Seiten in Beziehung zueinander, und zwar im Guardinischen Sinn nicht als Widersprüche, sondern als Gegensätze, die einander bedürfen. Ohne freie Entwicklung tendiert das biblische Felsenbild leicht zur Starre. Anderseits wird ohne Festigkeit und Verlässlichkeit das, was sich in Freiheit ereignen will, beliebig und konturlos. Im Folgenden wollen wir beide Aspekte biblischen Wahrheitsverständnisse mit Blick auf den Begleitungsprozess in Beziehung und Spannung halten.
Im Konkreten gründen
Die Bergpredigt Jesu, das »Grundgesetz des Neuen Bundes«, gipfelt im Bild vom Haus auf dem Felsen: »Jeder, der diese meine Worte hört und danach handelt, ist wie ein kluger Mensch, der sein Haus auf Fels baute« (Mt 7,24).
In Krisenzeiten gerät die bislang sichernde Statik des Lebenshauses in Bewegung. Die Betroffene erzählt dann sehr aufgeregt, unruhig, fast pausenlos. Wer unter Stress steht, ist kaum bei sich zu Hause und im ruhigen Wahr-Nehmen der Wirklichkeit. Die Aufmerksamkeit auf die Ebene des Fühlens zu lenken kann darin unterstützen, wieder mit sich selbst in Kontakt zu kommen und ansatzweise »festen Boden unter den Füßen« zu finden: Was sagen die Gefühle?
Nach dieser ersten Erdung, nach dem Andocken an die persönlich »gefühlte Wahrheit« könnte in der Unruhe und Verwirrung die Frage gehört werden: Haben Sie eine Idee, wie Sie sich selbst unterstützen könnten? Wo könnten Sie Zuflucht und Halt finden? Was ist auch jetzt noch vertrauenswürdig und verlässlich? – Auch wenn sich da zu Beginn der Erschütterung noch wenig zeigen mag – zwei Schritte sind entscheidend und notwendend. Ein erster: der hier konkret »gefühlten Wahrheit« Raum geben, sie in aufrichtigem Selbstmitgefühl bejahen. Und ein zweiter: die – wenn auch noch so bescheidenen – realen Möglichkeiten, sich selbst zu unterstützen, wahrnehmen. Dann kann keimhaft eine Erfahrung dessen aufgehen, was die Bibel mit dem Bild des Felsens andeutet: tragfähiger Grund, verlässliche Wahrheit.
»Die Erde bebte, und die Felsen spalteten sich« (Mt 27,51). »Als sie sah, dass sie in Gefahr geriet, versteckte sie sich in einer Felsspalte« (vgl. 1 Sam 13,6). In solch einer Felsspalte provisorisch Schutz suchend hört sie womöglich den inneren Zuspruch Gottes: »Hier, diese Stelle da! Stell dich an diesen Felsen! Wenn meine Herrlichkeit (das heißt: meine elementare Wucht in deiner Krise) vorüberzieht, stelle ich dich in den Felsspalt und halte meine Hand über dich, bis ich vorüber bin« (Ex 33,21). Es ist kein Sich-Stellen in egozentrischer Manier, sondern in kaum wahrnehmbarer Beziehung: ein Sich-Stellen wie zugleich ein Gestellt-Werden. Dies ist zuerst dran: Erdung in gefühlter Wahrheit »auf dem Boden der Tatsachen«. Ein »Wahrsprechen über sich selbst«, reflektiert Michel Foucault, ist immer »eine Tätigkeit mit einem anderen, eine Praxis zu zweit«; »die Gegenwart dieses anderen« ist »unverzichtbar dafür, dass ich die Wahrheit über mich selbst zu sagen vermag«.
Nach einiger Zeit wird sich vermutlich zeigen: »auf den Boden der Tatsachen« zu kommen reicht nicht, um sich in Wahrheit zu gründen, in einer lebendigen und bewegenden Wahrheit. Da bedarf es nach der ersten Festigung und Sicherung zunächst einiger »Aufräumarbeiten nach dem Beben«. Im mentalen und emotionalen menschlichen Haushalt sammeln sich immer eine Menge Illusionen, Stimmungen, Bilder und Gedanken, die jetzt nach der Erschütterung wirr durcheinanderwirbeln. In geistlicher Begleitung geht es in dieser zweiten Phase der Wahrheitssuche um Klärung durch Unterscheidung von flüchtigen und festigenden Inhalten des Geistes und der Seele. Der Jesuit und Zen-Meister Ruben Habito spricht vom »Leeren«. Positiv gewendet: sich erleichtern, entschlacken, entlasten wie im Fasten. Denn die gesuchte Wahrheit ist nicht außerhalb des eigenen Lebens zu finden. Unser wahrer Schatz ist im eigenen, vielleicht vermüllten Lebensacker vergraben. In der geistlichen Begleitung steht die Begleitete vor der schwierigen, aber faszinierenden Aufgabe, diesen Schatz »auszugraben und ihn (und sich selbst) ans Licht zu bringen. Um zu diesem Schatz zu gelangen, muss sie in die Tiefen ihres eigenen Seins eintauchen – das einzige solide Fundament, auf dem irgendeine solide Struktur errichtet werden kann. Damit dies gelingt, müssen all die Pseudostrukturen enttarnt und aufgegeben werden, in denen ein Mensch irrtümlich Verlässlichkeit und Geborgenheit suchte.« Dieses Leeren, Klären und Einkehren in den Grund entspricht der kenotischen Bewegung Christi, der nicht daran festhielt, wie Gott zu sein, sondern sich entäußerte in ein zutiefst menschliches Leben hinein (Phil 2,5–7). Darin ganz gegründet war er ganz in Gott gegründet. Die geistliche Tradition nennt diesen Prozess purgatio – Reinigung, Läuterung.
»Auf den Boden der Tatsachen« zu kommen reicht nicht, um sich in Wahrheit zu gründen, in einer lebendigen und bewegenden Wahrheit.
Phasen des Lassens und Leerens sind schmerzliche Phasen. Es ist wie beim Schälen einer Zwiebel, das Tränen hervortreibt. Das Wenige, was Begleitende hier tun können, ist gerade das Wichtige: dabeibleiben, mitfühlen, aufnehmen und mitaushalten. »Containing« nennt es der englische Psychologe Wilfred Bion.
Der kostenlose Auszug ist beendet.