Geist & Leben 2/2021

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Annette Schleinzer | Röderhof

geb. 1955, Dr. theol., Exerzitienbegleiterin, Ordinariatsrätin und Theologische Referentin des Bischofs von Magdeburg

annette.schleinzer@t-online.de

Madeleine Delbrêl

Ein Interview mit Annette Schleinzer

Christoph Benke: Sehr geehrte Frau Dr. Schleinzer, Sie haben sich in mehreren Publikationen intensiv mit der Person und dem Werk Madeleine Delbrêls auseinandergesetzt. Was fasziniert Sie persönlich, immer noch und immer neu, an ihr?

Annette Schleinzer: Als ich Anfang der 1980er-Jahre anfing, mich mit Madeleine Delbrêl zu beschäftigen, bin ich oft nach Ivry zu ihren damals noch lebenden Gefährtinnen gefahren. Dort hat mich als erstes der einfache Lebensstil der Gemeinschaft fasziniert. Das Haus in der Rue Raspail Nr. 11 war ein „Haus der offenen Tür“. Wer vorbeikam, wurde mit großer Wärme und Herzlichkeit aufgenommen. Mir wurde sofort der Zugang zu allen Schriften Madeleines ermöglicht, die damals noch größtenteils unveröffentlicht waren. Dabei ist mir in diesen Texten und in den Gesprächen mit ihrer Gemeinschaft entgegengekommen, wie lebendig, wie zeitgemäß und zugleich wie geerdet ihre Spiritualität ist. Gedichte wie „Die Liturgie der Außenseiter“, „Fahrradspiritualität“ oder „Der Ball des Gehorsams“ spiegeln etwas von ihrer Frische und Originalität wider. Jenseits traditioneller pastoraler Konzepte ging sie zusammen mit ihren Gefährtinnen einen ganz eigenständigen kirchlichen Weg, um Gott mitten im atheistischen Milieu einer Arbeiterstadt „einen Ort zu sichern“.

Je mehr ich mich mit ihr und ihren Schriften beschäftigt habe und in verschiedenen Veranstaltungen mit anderen über sie ins Gespräch kam, desto bewusster wurde mir, wie sehr sie eine Gotteszeugin für unsere heutige Zeit ist. Sie legt „uns das Zeitalter nach dem Konzil“ aus, schreibt einer ihrer engsten Freunde, der Dominikaner und spätere Arbeiterpriester Jacques Loew.1

Dabei leuchtet für mich inzwischen eine frappierende Verwandtschaft mit Papst Franziskus auf. Ich halte sie für eine Prophetin einer „Kirche im Aufbruch“, wie sie dem Papst so sehr am Herzen liegt. Sie ist ganz buchstäblich „an die Ränder“ gegangen und hat ihr Leben mit den Armen geteilt. Wie Papst Franziskus war sie durch die Intuition ihres Herzens ein „Genie der Begegnung“.

Das ist es wohl auch, was bei vielen Menschen ihrer Umgebung über ihre Texte hinaus einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Ob das nun ein emeritierter Professor war, Jugendliche aus der Nachbarschaft, traumatisierte ehemalige Kriegsgefangene oder die zahlreichen Priester und Ordensleute, die mit ihr in Kontakt kamen: Dem Charme ihrer Persönlichkeit konnte sich kaum jemand entziehen. Mit ihrem südfranzösischen Temperament, ihrer Vorliebe für Rotwein und Gauloises hat sie Grenzen überwunden und Brücken gebaut. Sie war „eine Lebende“, wie eine Freundin einmal schrieb – eine lebensfrohe, Mut machende Frau, und dies trotz zahlreicher schwerer Schicksalsschläge und immer wiederkehrender Krankheiten. Was sie mir persönlich am tiefsten bedeutet, habe ich in dem Satz eines ihrer marxistischen Freunde wiedergefunden: „Wenn man Madeleine kennenlernte, lernte man etwas vom Antlitz Gottes kennen.“

Christoph Benke: Stoßen die Person und das Werk Madeleine Delbrêls heute noch im deutschsprachigen Raum auf Interesse? Wird sie in Frankreich rezipiert?

Annette Schleinzer: Ich nehme wahr, dass das Interesse an Madeleine Delbrêl im deutschsprachigen Raum seit einigen Jahren immer mehr zunimmt. Ihre Texte sind bei den verschiedensten Menschen, Gruppen und Gemeinschaften nach wie vor sehr gefragt und werden als Inspiration für die eigene Berufung und alltägliche Lebenshilfe empfunden. Das betrifft Familien und Einzelne genauso wie Ordenschrist(inn)en, und inzwischen auch evangelische Christ(inn)en. Ich weiß, dass nicht wenige engagierte Gläubige in ihr eine prophetische Gestalt für den Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland sehen.

In Frankreich gibt es inzwischen ebenso eine stärkere Rezeption, was sich z.B. darin zeigt, dass es sowohl in Paris als auch in der Diözese Lille Gruppen gibt, die gemeinsam nach einem Weg suchen, miteinander im Geist Madeleine Delbrêls zu leben.

Christoph Benke: Zuletzt haben Sie die Übersetzung der Biografie verantwortet. Auf welche Neuigkeiten sind Sie dabei gestoßen? Welche Zusammenhänge waren auch Ihnen so bisher nicht bekannt?

Annette Schleinzer: Neu waren für mich vor allem die Briefe, die Madeleine Delbrêl einige Jahre nach ihrer Konversion an ihren geistlichen Begleiter, Abbé Lorenzo, geschrieben hat. Diese Briefe wurden erst im Jahr 2004 gefunden und der damaligen Verantwortlichen ihrer Gemeinschaft übergeben. Sie spiegeln eine ganz innige Christusbeziehung wider, ohne die sich die Entscheidung für ihre Lebensform und viele ihrer späteren Texte in ihrer Tiefe kaum verstehen lassen. Neu war für mich auch, dass sich Madeleine und Frère Roger Schutz im Dezember 1959 in Taizé getroffen haben, um sich über das Thema Taufe auszutauschen.

Christoph Benke: Madeleine Delbrêl wollte nichts weiter als in Gemeinschaft „nach dem Evangelium leben“. Dennoch spielte in der Geschichte der Equipe Madeleine Delbrêls deren kirchenrechtliche Einordnung eine nicht unwesentliche Rolle. Gibt es dazu neue Erkenntnisse?

Annette Schleinzer: Madeleine Delbrêl bezeichnete ihre Gemeinschaft gern als „inclassable“: als kirchenrechtlich nicht einzuordnen. Auch wenn es ihr immer wichtig war, „echte Laien“ zu bleiben, denen die Taufe als Grundlage genügt, so gab es in ihrer Lebensform doch auch eine innere Verwandtschaft mit dem Ordensleben. „Wir sind ein lebender Widerspruch“2, schrieb sie einmal. Diesen Widerspruch auszuhalten, fiel einigen Mitgliedern ihrer Equipe nicht leicht. Zudem gab es auch von außen immer wieder Anfragen zu ihrem Status, gerade von Seiten ihrer Pfarrei.

Als 1947 die (faktisch damals bereits bestehenden) Säkularinstitute durch die Konstitution „Provida Mater“ kirchlich approbiert wurden, sahen viele ihrer Gefährtinnen eine Lösung darin, sich einem Säkularinstitut anzuschließen. Es kam dann tatsächlich zu Gesprächen mit dem Institut „Caritas Christi“. In der Biografie wird dieses für Madeleine sehr schmerzhafte Ringen ausführlich dargestellt; vor allem wird deutlich, wie sehr der spätere Pariser Kardinal Veuillot von Anfang an Vorbehalte gegen einen solchen Anschluss hatte. Er half dann der Gemeinschaft, sich ihrer ursprünglichen Berufung zu vergewissern.

Christoph Benke: Wie geht es der Equipe heute?

Annette Schleinzer: Die ursprüngliche Equipe existiert nicht mehr. Die letzte von Madeleines Gefährtinnen ist 2018 im Alter von fast 100 Jahren gestorben. Es gibt aber einen sehr engagierten Verein (Association des Amis de Madeleine Delbrêl), der ihr Anliegen in verschiedener Weise weiterträgt. Zum Beispiel wird drei Mal im Jahr ein sogenannter „Freundesbrief“ herausgegeben, der inzwischen 400 Adressat(inn)en hat, darunter zahlreiche Personen außerhalb Frankreichs, viele davon in Italien. Darin wird über aktuelle Veranstaltungen, Entwicklungen und Publikationen berichtet.

In mehreren Ländern – vor allem in Italien, aber auch in Deutschland und Österreich – haben sich zudem Menschen zusammengefunden, die sich spirituell an Madeleine Delbrêl orientieren. Seit zwei Jahren beschäftigt sich zum Beispiel in Paris eine Gruppe von derzeit 20 Personen mit der Frage, eventuell eine neue Gemeinschaft im Geist Madeleines zu gründen.

Christoph Benke: Im Folgenden beziehe ich mich auf die Biografie: Abbé Lorenzo war viele Jahre der Beichtvater von Madeleine Delbrêl. Wie würden Sie dabei das Verhältnis von Geistlicher Führung, Gehorsam und Freiheit (die Madeleine sich gelegentlich Abbé Lorenzo gegenüber herausnahm) sehen?

Annette Schleinzer: Das Thema Gehorsam war für Madeleine Delbrêl zentral. Gehorsam stand für sie immer im Dienst der Freiheit: der Freiheit, sich ganz und gar von Gott erfüllen zu lassen. „Der rein äußere Gehorsam hat [deshalb] keinen Wert“, schreibt sie. „Er ist vielleicht eine Übung der Disziplin, aber das ist noch keine Liebe. Gehorsam ist vielmehr die Lust, in Gottes Hand zu sein.“3

Eine wichtige Hilfe auf diesem Weg war für sie die geistliche Begleitung, vor allem durch Abbé Lorenzo, nach seinem Tod durch Kardinal Veuillot. Gerade in der Zeit nach ihrer Konversion hat Abbé Lorenzo ihr geholfen, sich ihrer eigenen Berufung zu vergewissern. Sie hat sich ihm deshalb zutiefst anvertraut. Zugleich behielt sie sich aber vor, sich kritisch mit ihm auseinanderzusetzen. Denn Abbé Lorenzo war von seiner Veranlagung her eher zurückhaltend und „nicht besonders auf Abenteuer aus“4. So blieb er in Bezug auf die eigenständige Berufung ihrer Gemeinschaft zeitlebens skeptisch. „Unsere Familie ist sozusagen trotz M. l’abbé zustande gekommen, aber ohne ihn hätte sie natürlich auch nicht existiert“5, schrieb sie einmal an Jacques Loew.

Christoph Benke: Heute wird in kirchlichen Kreisen viel von Mission und missionarischer Spiritualität gesprochen. Wie würden Sie Madeleine Delbrêls Sicht von Mission skizzieren?

Annette Schleinzer: Wie beim Thema Gehorsam gehören für Madeleine Delbrêl Mission und Freiheit untrennbar zusammen. Sie ist weit davon entfernt, andere „bekehren“ zu wollen oder Mitglieder für die Kirche zu gewinnen: „Wenn Pierre kein Christ ist, dann geht es mir nicht in erster Linie darum, dass er wie ich katholisch wird und der Kirche angehört“, schreibt sie. „Was ich mir für ihn wünsche, ist, dass er den Gott des Evangeliums und dadurch auch seine eigene Bestimmung kennenlernt.“6 Wenn sie so zutiefst die Freiheit anderer Menschen und deren ganz persönliche Lebensgeschichte respektiert, hält sie zugleich mit ihrem eigenen Glauben nicht hinter dem Berg. Vielmehr möchte sie von dem unvergleichlichen Glück erzählen, das Gottes Existenz für sie selbst bedeutet. Leidenschaftlich ist sie daran interessiert, dass die Menschen seine heilende und befreiende Liebe erfahren, für die Jesus Christus in die Welt gekommen ist. Sie möchte ihnen so begegnen, dass etwas von seiner Lebensdynamik überfließen und ihr Herz erreichen kann.

 

Untrennbar davon ist ein weiteres missionarisches Motiv, das für sie im Grunde immer das erste ist: Gott zu bezeugen aus Liebe zu ihm. Sie spricht in diesem Zusammenhang von Verherrlichung: „Die Verherrlichung Gottes [ist] schließlich das höchste Motiv jeder missionarischen Bemühung.“7 Je mehr Gott für das Leben vieler Menschen überflüssig geworden ist, desto mehr fühlt sich Madeleine gedrängt, ihn sichtbar und hörbar werden zu lassen. Vor aller Augen will sie ihm den Vorzug geben, um seinetwillen, um der Liebe willen, mit der er geliebt werden will.

In alldem ist Mission für sie keine „Zutat“ zum „normalen“ christlichen Leben. Sie ist auch nicht die besondere Berufung derer, die „in die Missionen gehen“. Das Evangelium zu verkünden ist vielmehr die „normale Reaktion unseres Organismus auf die Entchristlichung“8. Das setzt voraus, sich selbst der Liebe Gottes zu öffnen. Wenn dann „so die Liebe Gottes in uns frei wird, weil wir uns ganz und gar ihr ausliefern, dann ist Gott nicht nur gegenwärtig, sondern auch offenbar; etwas von ihm wird den Menschen sichtbar – uns selbst und den anderen.“9

Christoph Benke: Welche Sicht von „Welt“ hat Madeleine Delbrêl? Was empfiehlt sie den Christ(inn)en von heute für das Zugehen auf eine säkulare Welt? Welche „Ausstattung“ benötigen sie?

Annette Schleinzer: Madeleine Delbrêl verwendet das Wort „Welt“ in zweifacher Bedeutung. Zum einen ist die Welt (le monde) für sie die irdische Wirklichkeit, Gottes Schöpfung, die wir verantwortlich mitzugestalten haben. Gott ist überall in dieser Welt zu finden, nicht nur an den Orten, an denen er aus dem Blickwinkel traditioneller Kirchlichkeit vermutet wird. Sie hat ihn z.B. im Lärm der Straße entdeckt, in einem Pariser Szene-Café, überall dort, wo Menschen leben, in der ganzen Schöpfung. Deshalb gibt es für sie im Grunde auch nichts „Profanes“; der Alltag wird zum „Ort“ der Gotteserfahrung.

Zum anderen verwendet sie das Wort „Welt“ (le Monde) im Sinne des Johannesevangeliums: die Menschenwelt, die aus sich selbst und für sich selbst da sein will und sich Gott gegenüber verschließt. Es ist jene Welt, mit der Jesus letztlich in einen tödlichen Konflikt geraten ist, die er aber durch seinen Tod und seine Auferstehung überwunden hat (vgl. Joh 16,33).

Darum müssen sich Christ(inn)en, wenn sie auf die „säkulare Welt“ zugehen, dieser doppelten Bedeutung von „Welt“ bewusst sein. Richtschnur ist ihr dabei das Doppelgebot der Liebe. Das bedeutet: Ganz „in der Welt zu sein“, den Menschen zugewandt, bereit zum Dialog und zum leidenschaftlichen Einsatz für die Benachteiligten. Eine elementare Aufgabe der Kirche und damit der Gläubigen ist es deshalb, „aus sich herauszugehen“, wie Papst Franziskus immer wieder schreibt. Dazu ist es erforderlich, sich auf die jeweilige Zeit mit ihren Bedingungen und Erkenntnissen einzulassen. Christ(inn)en müssen, so Madeleine, „den Menschen dieser Welt als (…) Schicksalsgefährten verbunden sein wollen“10. Ja, noch mehr: „Können die anderen in unserem Gesicht das Antlitz Christi erkennen, das wir ihnen schulden“11? Und umgekehrt: Entdecken wir Christus im Gesicht anderer, vor allem auch im Gesicht der Fremden?

Zugleich kommt es darauf an, „nicht von der Welt“ zu sein, d.h. aus dieser doppelt-einen Liebe heraus eine kritische Distanz zu wahren, wo diese Liebe verraten oder mit Füßen getreten wird; einerseits aus ganzem Herzen auf das Gelingen menschlichen Lebens zu hoffen und dafür zu kämpfen, andererseits zu wissen, dass es eine letzte Erfüllung dieser Hoffnung nur von Gott her gibt. Für Madeleine Delbrêl bedeutet dies z.B. die Weigerung, in die Kommunistische Partei einzutreten, obwohl sie keinerlei Berührungsängste mit den führenden Parteigenossen hatte und sich als Sozialarbeiterin Seite an Seite mit ihnen für bessere Lebensbedingungen der Menschen einsetzte. Der Glaube ließ sie hellsichtig dafür werden, dass die Wirklichkeit ambivalent ist: Überall ist Gott am Werk, überall kann sich aber auch ein Widerstand gegen Gott und seine universale Liebe verbergen, mitten in der Kirche und im Herzen jedes Christen und jeder Christin.

Diese „Unterscheidung der Geister“ zählt für Madeleine zum „christlichen Realismus“. Er erfordert letztlich vor allem eines: die eigene Umkehr zum lebendigen Gott. Der Glaube muss „zu seinen Grundlagen zurückkehren. Man kann nicht länger Energie an das verschwenden, was peripher und nicht grundlegend ist. Menschen müssen zum Zentrum zurückkehren, zum Kern dessen, was allein nähren und das Herz im Winter wärmen kann.“12 Madeleine Delbrêl ist davon überzeugt, dass das eine immer neue Bewusstseinsbildung erfordert. Den Getauften ihre Würde und ihre Verantwortung lediglich zuzusprechen, genügt nicht. Erforderlich sind vielmehr Erfahrungsräume, in denen sich Erwachsene existentiell mit ihrem Glauben auseinandersetzen und ihn vertiefen können. „Heutzutage brauchen wir“, so schreibt Madeleine, „zuallererst eine Unterweisung im Glauben“, und das ist noch einmal etwas Anderes als „ein Unterrichtsprogramm“, das absolviert wird.13 Es geht um ein persönliches Verhältnis zu Gott, um eine Lebensgemeinschaft mit Jesus Christus und um die daraus hervorquellende Hoffnung für sich selbst und für andere.

Christoph Benke: Das weltanschauliche Gegenüber, mit dem sich Madeleine Delbrêl auseinanderzusetzen hatte, war der Marxismus. Der Marxismus hat – pauschal formuliert – einem weltanschaulichen Pluralismus, einer gewissen Gleichgültigkeit bzw. einer „religionsfreundlichen Gottlosigkeit“ (J. B. Metz) Platz gemacht. Wie würde Madeleine Delbrêl darauf reagieren?

Annette Schleinzer: Madeleine Delbrêl hat eine solche Entwicklung Anfang der 1960er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts selbst schon vorausgesehen. So schreibt sie in einem Text, um den sie zur Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils gebeten worden war: „Lautlos naht der Kirche eine Grundgefahr: die Gefahr einer Zeit, einer Welt, in der Gott nicht mehr geleugnet, nicht mehr verfolgt, sondern ausgeschlossen, in der er undenkbar sein wird; einer Welt, in der wir seinen Namen herausschreien möchten, es aber nicht können, weil uns kein Platz bleibt, wo wir unsere Füße hinstellen könnten.“14

In diesem Text wirbt sie eindringlich dafür, dass sich der Glaube in jeder Zeit neu verleiblichen muss. Sie war davon überzeugt, dass wir einen tiefen Wandel durchleben, in der sich die Gestalt von Glaube und Kirche verändert. Werden Traditionen und Strukturen hingegen als unveränderlich betrachtet und deshalb nur bewahrt, hält Madeleine das für eine „christliche Mentalität“, die der lebendigen Weitergabe des Glaubens im Weg steht15. Dann verkünden wir „nicht mehr die ‚Gute Nachricht‘, weil das Evangelium keine neue Nachricht mehr für uns ist: Wir sind daran gewöhnt, es ist eine alte Nachricht geworden. Der lebendige Gott ist kein ungeheures, umwerfendes Glück mehr; er ist etwas, was uns zusteht, der Hintergrund unseres Daseins. (…) Wir teilen nicht die ewige Neuigkeit Gottes mit, sondern sind Polemiker, die eine Lebensanschauung verteidigen, die überdauern soll. Somit wäre es unnütz, anderen nahe zu sein, um gehört zu werden, ihre Sprache zu sprechen, für sie präsent und lebendig zu sein, falls wir (…) nicht selber die vollständige Botschaft wiedergefunden hätten, die wir empfangen haben und weitergeben müssen.“16

Solchen Texten, die Madeleine Delbrêl Anfang der 1960er-Jahre geschrieben hat, entnehme ich, dass sie heute ähnlich reagieren würde wie zu ihrer Zeit. Ein weltanschaulicher Pluralismus oder eine „religionsfreundliche Gottlosigkeit“ bzw. auch eine Gottvergessenheit wären für sie vermutlich sogar noch eine tiefere Provokation „zur einfachsten und größten menschlichen Berufung: der Berufung für Gott, der Berufung zu Gott hin, der Berufung des glaubenden Menschen, sich selbst und alles, was existiert, an Gott zu binden“17. Und dies „ohne Propaganda und ohne Inkognito“18. Damit meinte sie, Taktiken und Werbestrategien zu vermeiden – zugleich aber nicht davor zurückzuschrecken, sich ggf. offensiv in das vielstimmige Konzert der Meinungen einzubringen. „Wir haben“, schreibt sie, „nicht nur als Christen zu leben, sondern Christus auch laut zu verkünden.“19

Was ihr bei alldem zu Lebzeiten das Wichtigste war, wäre es dann wohl auch heute: das Gebet, und dabei vor allem die Anbetung. Anbetung ist für sie mehr als eine Gebetsweise unter anderen. In der Anbetung ist von uns „nicht die Rede, da sie auf Gott als Gott hinzielt“20. Sie erscheint ihr als ein „Akt elementarer Gerechtigkeit“ gegenüber Gott und zugleich als „die größte Wohltat, die man der Welt erweisen kann“21. Es ging ihr darum, kontemplativ mitten in der Welt zu leben, Gott „einen Ort zu sichern“. „Vor allem der Anbetung überantwortet sein. (…) Erkennen, dass hier der eigentliche Akt der Erlösung geschieht; glauben im Namen der Welt, hoffen für die Welt, lieben im Namen der Welt.“22

Christoph Benke: Was würde Madeleine Delbrêl der Kirche in Deutschland, Österreich oder in der Schweiz heute empfehlen? Ihre (fiktive) Eingabe an den Synodalen Vorgang – wie lautet dieser?

Annette Schleinzer: Dazu möchte ich ein Zitat von Madeleine Delbrêl anführen, das teilweise aus dem vorhin erwähnten Text zur Vorbereitung des Konzils stammt und das meines Erachtens an Aktualität nichts eingebüßt hat: „Der Schallraum, den das Wort des Herrn von uns fordert, ist unser ‚Heute‘: die Umstände unseres Alltags und die Bedürfnisse unseres Nächsten; die Ereignisse und Forderungen des Evangeliums, die von uns stets dieselben Antworten verlangen, aber in einer täglich erneuerten Gestalt.

Wir können nicht außerhalb von Raum und Zeit aus dem Wort des Herrn heraushören, was er heute von uns will. Unser Beitrag besteht darin, heute, in der heutigen Welt und in der heutigen Zeit darauf zu lauschen, was der Herr seit jeher für heute von uns will, für die heute lebenden Menschen, für unseren heutigen Nächsten, und dafür zu beten, dass wir es sehen und begreifen (…).

Wenn wir versuchen, einfach nur den Glauben zu bewahren, einfach nur Christen zu bleiben, verkümmert unser Glaube meist, und meist bleiben wir gerade dann keine echten Christen mehr. Denn der ‚Status quo‘ scheint uns, von nahem betrachtet, die tödlichste Einstellung zu sein – vielleicht, weil er in Bezug auf den Glauben sozusagen gegen die Natur ist.“23

Christoph Benke: Zuletzt bitten wir Sie noch um eine Leseempfehlung. Welches (im Handel derzeit erhältliche) Buch eignet sich als Einführung in Madeleine Delbrêls Leben und Werk?

Annette Schleinzer: Aufgrund von Rückmeldungen scheinen sich diese Bücher als Einstieg zu eignen:

– Madeleine Delbrêl, Gott einen Ort sichern. Texte – Gedichte – Gebete. Kevelaer: Topos-Taschenbuch 620 20 (Neuauflage);

– Annette Schleinzer, Madeleine Delbrêl. Prophetin einer Kirche im Aufbruch. Impulse für Realisten. München: Verlag Neue Stadt 22018;

– Rosemarie Nürnberg, Ergriffen von Gott. Exerzitien mit Madeleine Delbrêl. München: Verlag Neue Stadt (Neuausgabe 2017).

1 M. Delbrêl, Wir Nachbarn der Kommunisten. Diagnosen. Übers. u. Vorwort v. H. U. von Balthasar. Einsiedeln 1975, 9.

2 M. Delbrêl, J’aurais vouluTextes à ses équipières 1950–1956. Vol. 2. Paris 2016 (= Œuvres complètes Tome XIV), 273.

3 M. Delbrêl, Indivisible Amour. Pensées détachées inédites. Préface de J. Sommet, Introduction de C. de Boismarmin. Paris 1991, 40.

4 G. François / B. Pitaud, Madeleine Delbrêl. Die Biografie. München 2019, 102.

5 Ebd., 103.

6 A. Schleinzer, Madeleine Delbrêl. Prophetin einer Kirche im Aufbruch. Impulse für Realisten. München 22018, 55.

7 M. Delbrêl, Auftrag des Christen in einer Welt ohne Gott. Vollständige u. überarb. Neuausgabe. Einsiedeln 2000, 41.

 

8 M. Delbrêl, Gebet in einem weltlichen Leben. Ausgewählt, übers. u. eingel. v. H. U. von Balthasar. (Einsiedeln 1974) Einsiedeln 51993, 102.

9 M. Delbrêl, Auftrag des Christen, 184 [s. Anm. 7].

10 M. Delbrêl, Wir Nachbarn der Kommunisten, 167 [s. Anm. 1].

11 M. Delbrêl, La question des prêtres-ouvriers. La leçon d’Ivry. Textes missionnaires. Vol. 4. Paris 2012 (= Œuvres complètes Tome X), 252.

12 E. A. Johnson, Der lebendige Gott. Eine Neuentdeckung. Freiburg i. Br. 2016, 53.

13 M. Delbrêl, La question des prêtres-ouvriers, 193.203 [s. Anm. 11].

14 M. Delbrêl, Athéismes et évangelisation. Textes missionnaires. Vol. 2. Paris 2010 (= Œuvres complètes Tome VIII), 119f.

15 M. Delbrêl, La femme, le prêtre et Dieu. Au cœur du mystère intime de l’Église. Textes missionnaires. Vol. 3. Paris 2011 (= Œuvres complètes Tome IX), 196f.

16 M. Delbrêl, Wir Nachbarn der Kommunisten, 237f. [s. Anm. 1].

17 M. Delbrêl, Auftrag des Christen, 142 [s. Anm. 7].

18 Vgl. A. Schleinzer, Madeleine Delbrêl, 97f. [s. Anm. 6].

19 M. Delbrêl, Auftrag des Christen, 103 [s. Anm. 7].

20 M. Delbrêl, Frei für Gott. Über Laien-Gemeinschaften in der Welt. Übers. u. Vorwort v. H. U. von Balthasar. Einsiedeln 1976 (Freiburg i. Br. 21991), 133.

21 M. Delbrêl, La joie de croire. Préface de J. Guéguen. Avant-Propos de G. Lafon. Paris 1968, 160; dies., Gebet in einem weltlichen Leben, 56 [s. Anm. 8].

22 M. Delbrêl, Frei für Gott, 14 [s. Anm. 20].

23 M. Delbrêl, Gebet in einem weltlichen Leben, 89f. [s. Anm. 8]; dies., Athéismes et évangelisation, 100f. [s. Anm. 14].

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