Buch lesen: «Geist & Leben 1/2020»
Inhalt
Heft 1 | Januar-März 2020
Jahrgang 93 | Nr. 494
Notiz
Die Jahreslosung – der letzte Schrei? Ralph Kunz
Nachfolge
Vom Nutzen der Heiligen
Peter Gemeinhardt
Akademie „Führung und Persönlichkeit“. Ignatianische Spiritualität für künftige Führungskräfte
Michael Bordt
SJ Johannes Lober
Anton Bruckners Frömmigkeit
Elisabeth Maier
Zur Spiritualität von Tibhirine. Tagungsbericht
Cornelius Roth
Nachfolge | Kirche
Mehr als Gehorsam – Gott zuliebe Bernd Liebendörfer
Brief an das Volk Gottes. Hinführung zur Lektüre
James Hanvey SJ
Theologie der geistlichen Gemeinschaften in der ev. Kirche? Werkstattgespräch (2.–4. April 2019)
Sr. Nicole Grochowina
Br. Franziskus Joest
Nachfolge | Junge Theologie
Erinnerung in ökumenischer Liturgie Verena Hammes
Reflexion
Göttliche und tierliche Transzendenz. Zu heidnischen Tiergottheiten und biblischem Bilderverbot
Thomas Ruster
Vergänglichkeit der Tiere?
Lisa-Marie Kaiser
Der Kuss des Kusses des Mundes. Das Hohe Lied
Martin Dieckmann
Lektüre
Wie das Hohelied emotional verbindet. Mit der Sprache der Liebenden zu Gott reden
Melanie Peetz
Eugènie Smet – Gründerin der Helferinnen
Michel de Certeau SJ
The Pillar of the Cloud
John Henry Newman
Buchbesprechungen
Impressum
GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik
Erscheinungsweise: vierteljährlich
ISSN 0016–5921
Herausgeber:
Deutsche Provinz der Jesuiten
Redaktion:
Christoph Benke (Chefredakteur)
Britta Mühl (Lektorats-/Redaktionsassistenz)
Redaktionsbeirat:
Bernhard Bürgler SJ / Wien
Margareta Gruber OSF / Vallendar
Stefan Kiechle SJ / Frankfurt
Bernhard Körner / Graz
Edith Kürpick FMJ / Köln
Ralph Kunz / Zürich
Jörg Nies SJ / Stockholm
Klaus Vechtel SJ / Frankfurt
Redaktionsanschrift:
Pramergasse 9, A–1090 Wien
Tel. +43–(0)664–88680583
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Ralph Kunz | Zürich
geb. 1964, Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN
ralph.kunz@theol.uzh.ch
Die Jahreslosung – der letzte Schrei?
Jahreslosungen begleiten die Gemeinde Jesu in das neue Jahr hinein und stiften Orientierung für eine Weggemeinschaft, die nach vorne blickt. Die Jahreslosung für 2020, „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“, spricht allerdings ein Thema an, das eher gegenläufig als eingängig ist. Tatsächlich ist der Ruf in Mk 9,24 wortwörtlich der letzte Schrei eines Menschen, der seine ganze verbliebene Hoffnung auf einen fremden Menschen setzt, dem er zum ersten Mal begegnet. Der Ausruf markiert den Wendepunkt in der berührenden Geschichte eines Vaters, der für seinen kranken Sohn glaubt. Was bedeutet es, wenn sein Schrei unsere Losung wird? Der Schrei ist sowohl Bitte als auch Bekenntnis. Indem sich der Bittende als ein Glaubender bekennt, der seinen Unglauben wahrnimmt, bekennt er zugleich seinen Unglauben. Aber als einer, der Jesus bittet, „hilf meinem Unglauben“, nimmt er auch seinen Glauben wahr! Glaubt er oder glaubt er nicht? Das ist ziemlich vertrackt. Umgangssprachlich bezeichnet „Glauben“ eine starke Meinung und ein schwaches Wissen. Wenn „Meinen“ ein problematisches oder vorläufiges Urteilen bedeutet, ist „Glauben“ das Fürwahrhalten eines Sachverhalts, das subjektiv für zureichend, aber objektiv für unzureichend gehalten wird. Unglauben wäre dann das, was ich für unwahrscheinlich halte.
Der sogenannte doxastische Glaube kann sich auf Kants Versuch beziehen, Meinen, Glauben und Wissen als unterschiedlich starke Arten der Wahrnehmung in eine Reihe zu bringen. Es liegt auf der Hand, dass es bei einer so gedachten Steigerung der Gewissheit immer geboten ist, Glauben in ein Wissen zu überführen, um vernünftiger leben und handeln zu können. Mit dem Glauben an Jesus Christus und dem Vertrauen in Gottes Güte hat dies aber herzlich wenig zu tun. Hilft die Losung, das andere Glaubensverständnis zu vertiefen? Mit der Brille dieser Unterscheidung gelesen, wird jedenfalls der Kontrast im Kontext der Geschichte noch schärfer. Jesus kommt mit drei Jüngern vom Berg der Verwandlung herab. Was sie jetzt erfahren, ist – in Umkehrung zum Pauluswort (2 Kor 5,6 f.) – ein Abstieg „vom Schauen zum Unglauben“, ein symbolischer Gang in die Niederungen der vom Bösen bedrängten Menschenwelt, die durch mangelnden Glauben geprägt ist. Was Jesus unten antrifft, entlockt ihm einen messianischen Seufzer: „O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein?“ (Mk 9,19) Damit ist das Thema des Unglaubens gesetzt. Doch jetzt richtet sich die „Kamera“ des Erzählers auf den, der sich als Vater eines kranken Knaben zu erkennen gibt. Jesus wendet sich ihm zu. Es bleibt nicht unbemerkt von der Macht, die durch den Auftritt Jesu provoziert wird. Der kurze Wortwechsel zwischen dem Vater und Jesus führt zu einer Attacke des Dämons. Jesus beobachtet den Angriff und fragt den Vater wie ein Arzt, der eine Anamnese vornimmt: „Seit wann geschieht ihm das?“ Man hört eine lange Leidensgeschichte und spürt die Frustration des Vaters. Die letzte Episode in dieser Kaskade der Enttäuschungen war das Versagen der Jünger. Jetzt steht der Vater vor dem Meister und packt die Gelegenheit beim Schopf. „Doch wenn du etwas vermagst, so hilf uns, indem du dich über uns erbarmst!“ In die Bitte mischt sich ein Vorbehalt. Der Zweifel spricht mit. „Hilf, wenn Du vermagst.“ Aber es spricht auch der Glaube. „Hilf, indem du dich erbarmst.“ Jesus antwortet mit einer Belehrung. Er nimmt die Formulierung des Vaters auf und kommentiert: „Was das ‚wenn du vermagst‘ betrifft, gilt, dass dem Glaubenden alles möglich ist.“ Das ist natürlich nicht nur für die Ohren des Gegenübers bestimmt. Auch die Jünger, die Herumstehenden und die Schriftgelehrten sollen es hören. Und der Vater hört die Ermutigung. Dem Glaubenden ist alles möglich! Er zögert keine Sekunde und schreit: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Die Losung ist geboren!
Im Zusammenhang erzählt, wird deutlich, dass von zwei verschiedenen Typen des Glaubens gesprochen wird. Einerseits dem Glauben an Jesus Christus, der sich als Bekenntnis ausspricht, und andererseits dem Vermögen bzw. dem Unvermögen, im Moment zu vertrauen. In der Figur des Vaters kommt beides zusammen. Er getraut sich nicht, sich ganz auf den Zuspruch Jesu zu verlassen und traut ihm doch zu, dass er sich seiner erbarmt. Der erste Glaube ist die Entscheidung, sich Jesus anzuvertrauen, der zweite Glaube die Erfahrung, die sich einstellt – oder nicht! Während der erste Glaube in der Begegnung mit Jesus geschenkt wird, verweist der zweite Glaube auf etwas, das vom Unglauben über den Kleinglauben bis zum Glauben, der Berge versetzt (Mk 11,24), wachsen oder aber in der Anfechtung – zum Leidwesen des Messias (Mk 9,19) – auch einmal schrumpfen kann.
Die Jahreslosung ist eine theologisch dichte Formel für die Spannung, in der wir ein Leben lang unseren Glauben erleben. Dazu passt, dass Jesus den väterlichen Schrei nicht kritisiert. Bei der Belehrung im Nachgang macht Jesus dann deutlich, dass die zwei Glaubensweisen zu unterscheiden, aber nicht zu trennen sind, indem er auf den Zusammenhang von Gebet und Glauben verweist. Es wäre schön, wenn wir in unserer Kirche mehr von diesem Glauben spürten. Unwahrscheinlich? Wir hoffen, hilf unserer Resignation!
Peter Gemeinhardt | Göttingen
geb. 1970, Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen
Peter.Gemeinhardt@theologie.uni-goettingen.de
Vom Nutzen der Heiligen
Die Frage „Was nützt das?“ ist allgegenwärtig. Sie richtet sich auf den Ertrag einer Tätigkeit („Wozu soll ich das tun?“), einer Kompetenz („Warum muss ich das können?“) oder einer Lebensweise („Weshalb soll ich mich einschränken?“). Nach dem Nutzen kann politisch, organisatorisch oder ökonomisch gefragt werden – und muss gefragt werden, damit nicht Zeit, Kraft, Geld und andere Ressourcen unnütz eingesetzt, im schlimmsten Fall vergeudet werden. Das erzeugt Rechtfertigungsdruck, zumal da, wo nach messbarem Nutzen gefragt wird. Nun gibt es im menschlichen Leben Dinge, die nicht messbar sind, deren Sinn deshalb aber trotzdem nicht zu bestreiten ist; in lockerer Anlehnung an Schleiermacher nenne ich Kunst, Bildung, Geselligkeit und auch Religion. Hier muss der Begriff des Nutzens anders bestimmt werden: Bildung ist zweifellos nützlich, insofern die Teilhabe am Bildungssystem berufliche und damit finanzielle Perspektiven eröffnet. Aber darin geht der Sinn von Bildung nicht auf. Wenn Bildung auf die Einübung eines reflexiven Verhältnisses zu Gott, Welt und Selbst zielt, darf sie auch dann noch als nützlich gelten? Oder ist sie in radikaler Weise „unnütz“? Sich zu bilden, hat seinen Zweck in sich, es dient der Bestimmung des Menschen, zu sich selbst zu kommen. Das fälschlich so genannte „Bildungssystem“ kann dies nicht operationalisieren, es kann allenfalls die Rahmenbedingungen schaffen, damit Menschen über sich selbst, ihre Mitmenschen sowie den Grund und das Ziel ihres Daseins ins Reflektieren kommen. Wo dieser transzendente – aus christlicher Perspektive schöpfungstheologische – Hintergrund ins Spiel kommt, kann Bildung grundsätzlich keinen verrechenbaren Nutzen haben.
Kann Heiligkeit einen Nutzen haben?
Auch Religion – so scheint es – ist immer unnütz. Religion einen (fragwürdigen) Nutzen zu attestieren, ist eine klassische Denkfigur der Religionskritik („Opium fürs Volk“). Religion ist kein Vehikel der Selbstoptimierung, Fasten kein Mittel der Gewichtsreduzierung, Spiritualität keine Technik zur Bewältigung des Alltags. All das sind vielleicht hilfreiche Strategien zum (Über-)Leben. Aber Religion ist mehr als das, woraus ich Nutzen ziehe.
Von hier aus kann die Frage, ob Heiligkeit einen Nutzen hat, eindeutig beantwortet werden: nein, natürlich nicht! Jedenfalls nicht in religiösem Sinne (dass sich z.B. mit Wallfahrten und Devotionalien ein gutes Geschäft machen lässt, ist eine andere Geschichte). Unter „Heiligen“ verstehe ich Menschen, deren Handeln von Zeitgenoss(inn)en und Nachwelt als authentisch christlich anerkannt wird. Heiligkeit bedeutet, den Ruf zur Nachfolge Jesu Christi, der allen Menschen gilt, in einer Weise umzusetzen, dass andere sehen und anerkennen: Ja, dieser Mensch hat dem heiligen Gott entsprechend gelebt (Num 19,2; 1 Thess 4,3)!1 Kann das einen Nutzen haben? Schon die frühen Christ(inn)en glaubten, dass die Märtyrer ohne Umweg in den Himmel gelangen würden2, das Erleiden des Todes für das Christusbekenntnis also ewigen Lohn nach sich ziehen würde. Aber dass sie zueinander gesagt hätten: „Es hat sich gelohnt, sich von den Römern hinrichten zu lassen“ – davon hören wir nichts. Umso bemerkenswerter ist es, dass von dem Theologen Origenes († 253) niemand anderem als Christus selbst die Frage des Nutzens seines Todes in den Mund gelegt wird: „‚Welchen Nutzen hat mein Blut, wenn ich zur Verwesung hinabsteige?‘ (Ps 30,10) Warum habe ich den Menschen solchen Nutzen gebracht? Was haben sie getan, das des Blutes würdig wäre, das ich für sie vergossen habe? (…) Ich bin vom Himmel hinabgestiegen, habe mich der Vergänglichkeit ausgeliefert, habe einen menschlichen Leib getragen. Was haben die Menschen Rechtes getan, das dessen würdig wäre?“3
Die modern scheinende Frage – „Was hat das gebracht?“ – wird Jesus selbst zugeschrieben: Wozu das Ganze? Wenn niemand meinem Beispiel folgt, war es dann unnütz? Origenes hört, nicht anders als seine Zeitgenossen, in den Psalmen Christus selbst reden; doch ist es ungewöhnlich, dass der, der das Heilswerk vollbracht hat, klagt, dass dies vergeblich gewesen sei! Wenn unter den Menschen jemand diese Klage Christi Lügen gestraft hätte, dann waren das in der Sicht der Alten Kirche die Heiligen, die authentischen Nachfolger(innen) Christi. Ich möchte daher die Frage nach dem Nutzen der Heiligkeit an einem besonders aussagekräftigen Beispiel bedenken: Wie kann ein Gott entsprechendes Leben „nützlich“ sein – und für wen?
Antonius – Ein „nützlicher“ Heiliger
Das semantische Feld und das theologische Konzept des Nutzens ist in spätantiken Viten von Heiligen unterschiedlich ausgeprägt. Besonders deutlich kommt es in der Vita Antonii zum Ausdruck; dies möchte ich im Folgenden etwas näher beleuchten und nach den Gründen dafür fragen. Antonius (ca. 251–356 n. Chr.) gilt in der Tradition als der erste Eremit – der erste, der sich in die Wüste zurückzog, um sich dort, wo Jesus Christus vierzig Tage lang vom Teufel versucht worden war (Mt 4,1–11), in dessen Nachfolge den Dämonen zu stellen und zu einem kontinuierlichen Leben mit Gott zu finden. Ob er tatsächlich der allererste war, der so etwas versuchte, sei dahingestellt; schon im 4. Jahrhundert behauptete Hieronymus († 419), in Wahrheit sei Paulus von Theben der wirklich erste Wüstenasket gewesen, und die spätere ikonographische Tradition stellte beide als Begründer des Eremitentums nebeneinander.4 In den Apophthegmata Patrum, den „Sprüchen der Wüstenväter“, steht Antonius allerdings als der Begründer der weltflüchtigen asketischen Lebensweise unangefochten an erster Stelle. Die breite Wirkung der Antoniusgestalt verdankt sich aber vor allem der Lebensbeschreibung, die Bischof Athanasius von Alexandrien († 373) bald nach dem Tod seines Protagonisten verfasste. Dieser Text wurde regelrecht zu einem Bestseller und wirkte stilbildend für die christliche Hagiographie.5
In der Vita Antonii ist nun auffallend oft von „Nutzen“ (griech. ōphéleia) die Rede. Was war es, das an diesem Heiligen so „nützlich“ erschien? Bereits im Prolog bekundet Athanasius, er sei der Bitte seiner ungenannten Adressaten – andere Mönche – gerne nachgekommen: „Denn auch für mich ist es ein großer Gewinn an Nutzen, mich an Antonius zu erinnern. Ich weiß aber, dass auch ihr, wenn ihr das gehört habt, diesen Mann nicht nur bestaunen, sondern auch seinem Vorsatz nacheifern wollen werdet. Für Mönche ist nämlich das Leben des Antonius ein geeignetes Leitbild der asketischen Übung“ (VA prol. 3).
Wir haben es also mit einem doppelten Nutzen zu tun: Zunächst für den Hagiographen, der nicht weiter spezifiziert, was genau er damit meint; erst später wird deutlich, dass Antonius hier in eine Reihe mit anderen Autoritäten, denen „Gedenken“ gebührt, gerückt wird, nämlich mit den Aposteln (VA 2,4) und der Heiligen Schrift (3,7). Der verstorbene Asket, so könnte man dies zuspitzen, setzt die Tradition der Apostel fort und lehrt und verkörpert wie diese die Botschaft der Bibel! Nutzen entsteht aber auch für die Empfänger seines Werkes, die sich darin als rechte Asketen erweisen, dass sie das Wunderbare, das Athanasius zu berichten weiß, nicht nur anstaunen, sondern Antonius’ Vorbild nachfolgen. Sein Leben soll für ihres wie ein „Prägestempel“ (charaktēr) sein, und zwar – das wird dann im Laufe der Erzählung deutlich – als eine Lebensform, die durch konsequente Bemühung (áskēsis) erworben werden will. Dämonen zu widerstehen, ins geistliche Zwiegespräch mit Gott einzutreten, körperliche Entbehrungen zu ertragen und in lebensfeindlicher Umgebung Freiheit zu erlangen – das will trainiert sein, und dafür bedarf es eines Leitbildes. Solche Freiheit wird also schwer erkämpft, trägt aber – wie Athanasius an Antonius’ Leben zeigen will – eine große Verheißung in sich: „Dies lest nun den anderen Brüdern vor, damit sie lernen, wie das Leben der Mönche sein muss, und sich überzeugen lassen, dass unser Herr und Erlöser Jesus Christus die preist, die ihn preisen, und die, die ihm bis zum Ende dienen, nicht allein in das Reich der Himmel führt, sondern auch schon hier diejenigen, welche verborgen sind und danach streben, sich zurückzuziehen, überall bekannt und berühmt macht um ihrer Tugend und ihres Nutzens für die anderen willen“ (VA 94,1).
Aus dieser Passage – dem vorletzten Satz der Vita – ist dreierlei festzuhalten: (1) Niemand anderes als Jesus Christus selbst schenkt seinen Nachfolger(inne)n ihren Lohn, nämlich ein Leben im Reich Gottes, wie es zuvor nur den Märtyrern zu winken schien; (2) die, die eigentlich gar nicht in die Öffentlichkeit streben, sondern sich aus ihr zurückziehen, macht er gerade in aller Welt bekannt; (3) und dies erfolgt aufgrund ihrer Tugendhaftigkeit, weshalb man seinerzeit die konsequenten Asketen auch die christlichen „Philosophen“ nannte – sowie „wegen ihres Nutzens für die anderen“. Zugespitzt gesagt: Antonius’ Vorbild dient anderen Asketen nicht nur zur Ausbildung einer gottgefälligen Lebensweise, sie werden damit selbst zu solchen, die anderen (hier nicht weiter konkretisierten) Menschen Nutzen bringen. Ist der erste Aspekt in der Hagiographie naturgemäß verbreitet, so ist der zweite durchaus nicht selbstverständlich. Heiligkeit6 bringt nicht nur denen etwas, die danach streben, sondern auch anderen, die sich nicht selbst um ein heiliges Leben bemühen, aber durchaus davon profitieren, dass andere das tun. Für Athanasius sind also nicht nur Wüstenmönche im Blick, von denen es bei Antonius’ Tod eine beträchtliche Anzahl gab, sondern auch Menschen in der „Welt“. Und wenn auch in der Vita eine Gruppe von Asketen angeredet wird, „für deren Lebensweise die Bezeichnung als Mönche etabliert ist“ (VA prol. 1), so zielt Athanasius doch ohne Zweifel auf eine Leserschaft jenseits geschlossener asketischer Zirkel – und auch diese Menschen sollen Antonius nicht nur bestaunen, sondern sich ein Beispiel an ihm nehmen.
Das heißt nun nicht, dass alle Welt auf Beruf, Familie und Privatbesitz verzichten und in die Wüste pilgern sollte. Antonius’ Vorbild und seine geistliche Lehre zog nach Athanasius eine Menge Gefolgsleute an, „und die Wüste wurde zu einer Stadt der Einsiedler, die ihren Besitz zurückgelassen (vgl. Lk 18,28) und sich für die Bürgerschaft im Himmel eingeschrieben hatten (vgl. Hebr 12,23)“ (VA 14,7). Das konnte von vorneherein nicht jedermanns Sache sein, und Athanasius, der Bischof von Alexandrien, der Metropole Ägyptens schlechthin, hätte kaum einer Entvölkerung seiner Gemeinden zugunsten einer „Mega City“ in der Wüste das Wort geredet. Aber genau hier stellte sich ihm anscheinend die Frage, was es denn dann bringen sollte, Antonius als das Leitbild weniger Hardcore-Asketen zu preisen – und darum, so meine Vermutung, werden der Begriff und das Konzept des Nutzens insbesondere in der zweiten Hälfte der Vita verstärkt gebraucht.
Nach der Schilderung der Herausbildung der asketischen Praxis des Antonius bis zu seiner Lebensmitte (VA 1–15), einer ausführlichen Unterweisung anderer Mönche über den Umgang mit Dämonen und Versuchungen (VA 16–43) und dem Rückzug des Antonius in die absolute Einsamkeit auf dem Berg Kolzim (VA 44–50) folgt nämlich ein beständiges Wechselspiel: Antonius verlässt regelmäßig sein Refugium auf dem „inneren Berg“, tief in der Wüste, und begibt sich an den Rand des Kulturlandes auf den „äußeren Berg“, den Berg Pispir, südlich von Memphis, wo er Besucher empfängt, lehrt, heilt und rät, bevor er wieder in die Einsamkeit geht, um sozusagen den asketischen Akku wieder aufzuladen. Zwar trifft er hier wiederum auf Mönche, denen er „wie ein Vater“ (vgl. VA 15,3; 16,2) „von dem mitteilt, was nützlich ist“ (VA 54,6) und denen er um ihres Nutzens willen sogar eine nächtliche Vision enthüllt (VA 66,8). Das Gros der Begegnungen, von denen Athanasius berichtet, sind allerdings Kontakte mit nicht-monastischen Personen: Nutzen empfangen Kranke und Besessene (VA 62,1), die geheilt wurden, ebenso wie Richter, denen Antonius zuredete, Gerechtigkeit walten zu lassen und Gottes Gericht zu fürchten (VA 84,6), schließlich auch Soldaten und Reiche. Deren Nutzanwendung des Gehörten und Erlebten bestand darin, dass sie „die Bürden dieses Lebens aufgaben und selbst Mönche wurden“ (VA 87,2). Antonius’ Wirken bezieht also den Leib und die Seele ein, so dass der folgende Satz, er sei „wie ein Arzt, der Ägypten von Gott geschenkt worden war“ (VA 87,3), sich nicht nur auf körperlich Kranke bezieht, zumal Jesus Christus in der Spätantike oft als Arzt – ebenfalls im ganzheitlichen Sinne – angesehen wurde. Umgekehrt zieht Antonius, der vor allem die innere Wachsamkeit vor den Dämonen lehrt, ganz handgreifliche Hoffnungen auf sich: Bei seinem Besuch in Alexandrien im Sommer 337 „wünschten viele Heiden den Greis nur zu berühren, weil sie glaubten, dass (ihnen) das nützen würde“, ähnlich wie die „blutflüssige Frau“ Jesus berühren wollte (Mt 9,20–22).
Der Heilige, die Kleriker und die Philosophen
Bemerkenswert sind schließlich zwei andere Professionen, die Nutzen empfangen: Athanasius betont das freundschaftlich-entspannte Verhältnis des Eremiten zu kirchlichen Amtsträgern (während es tatsächlich in der Spätantike – und nicht nur dann – verschiedentlich zwischen Mönchen und Klerikern heftig knirschte!). Konkret liest sich das so: Antonius „scheute sich nicht, vor den Bischöfen und Priestern das Haupt zu senken. Wenn nun ein Diakon um des Nutzens willen zu ihm kam, setzte er (ihm) auseinander, was von Nutzen sei; im Gebet ließ er jenem den Vortritt, da er sich selbst nicht zu lernen schämte. Er fragte oft und wünschte von den Anwesenden etwas zu hören; und er bekannte, Nutzen erfahren zu haben, wenn jemand etwas Hilfreiches gesagt hatte“ (VA 67,2 f.).
Nutzen zu schaffen ist also keine Einbahnstraße – der Lehrende kann auch lernen; das ist in den Apophthegmata Patrum sogar ein Konstruktionsprinzip.
Hier treten immer wieder „Väter“ als Schüler und umgekehrt auf. Zugleich fragt man sich, was mit „um das Nutzens willen“ eigentlich gemeint ist. Gängige Übersetzungen bieten etwa im Deutschen „der Erbauung wegen“ (Hans Mertel), im Französischen „dans un but d’édification“ (Gérard J. M. Bartelink), im Englischen „seeking help“ (Tim Vivian und Apostolos Athanassakis). Die Antonius zugeschriebene ōphéleia beinhaltet aber nicht nur den Aspekt der seelischen oder geistlichen Erbauung, sondern auch denjenigen der Bildung und Zurüstung für die Praxis des Glaubens, hier eines kirchlichen Amtsträgers.
Das wird ganz besonders deutlich in den Gesprächen des Antonius mit den „Philosophen“ und „Sophisten“, die ihn mehrfach auf dem äußeren Berg besuchen (VA 72–80) und ihn mit ihrer argumentativen Kunst ob seiner Unbildung verspotten wollen (VA 73,1). Antonius widerlegt sie mit seinem naturgegebenen, scharfen Verstand (VA 73,3 u.ö.) und hält ihnen eine lange apologetische Rede über den Glauben an die falschen Götter und über das Kreuz Christi.7 Die Sophisten „wunderten sich darüber, zogen sich, nachdem sie ihn umarmt hatten, zurück und bekannten, Nützliches von ihm empfangen zu haben“ (VA 80,7). Die philosophischen Streitgespräche schließen also – in Übereinstimmung mit dem Prolog der Vita Antonii – mit dem Staunen und mit der (hier nur impliziten) Erwartung, dass das Lebensvorbild und die Lehre des Asketen bei denen, die mit ihm in Kontakt kommen, Früchte tragen. Die Askese des Antonius erweist sich insbesondere daran für andere als fruchtbar, dass er seine Erfahrung zum Gegenstand der Belehrung macht (vgl. schon VA 16,2).
Das aber ist alles andere als eine Nebensächlichkeit. Vielmehr verbinden sich die Begriffe des Nutzens, der Lehre und der Askese genau zur Mitte der Vita zu einer bündigen Formulierung der Bedeutung des Antonius-Lebens für seine Mitwelt. Im Jahr 311, zur Zeit der Christenverfolgung unter Kaiser Maximinus Daia, begibt sich Antonius erstmals seit seinem Rückzug in die Wüste in die Zivilisation, konkret in die Metropole Alexandrien, „damit auch wir, wenn wir berufen werden, kämpfen oder wenigstens die Kämpfenden anschauen“ (VA 46,1); dabei geht es ihm natürlich nicht um Voyeurismus, sondern um ein geistliches Sehen (theōría). Das erwünschte Martyrium – der Tod als Blutzeuge – bleibt ihm jedoch verwehrt: „Er wünschte sich nämlich, dass auch er selbst Zeugnis ablegen dürfe. Es schien ihn sehr zu schmerzen, dass er kein Märtyrer geworden war. Der Herr selbst aber war es, der ihn zu unserem und zum Nutzen anderer bewahrte, damit er auch in Bezug auf die Askese, die er selbst aus der Schrift gelernt hatte, zum Lehrer für viele würde“ (VA 46,6).
Der Drang zum Martyrium, die Unterstützung für Verurteilte und schließlich die Bewahrung zum Nutzen anderer begegnen auch in Eusebs Bericht über Origenes8; hier ist das Vorbild für die Darstellung des verhinderten Märtyrers Antonius durch Athanasius zu suchen. Es ist entscheidend, dass Antonius das Martyrium nicht zufällig verpasst, sondern von Gott davor bewahrt wird, der ein Ziel mit dem Asketen verfolgt: ihn zum Lehrer „für viele“ zu machen, der den eigenen Lernprozess, der mit dem Hören der Bibellesungen im Gottesdienst (VA 3,7) begonnen hatte, zum Vorbild für andere macht. So ermahnt Antonius auf dem Totenbett seine Mönchsbrüder, „den festen Glauben an unseren Herrn Jesus Christus zu bewahren, den ihr aus der Schrift gelernt habt und den ich euch häufig in Erinnerung gerufen habe“ (VA 89,6).
Damit wird von der Mitte der Vita her klar, wie Antonius in die weitere Öffentlichkeit wirken soll (bzw. wie Athanasius diese Wirkung intendiert): Nach der Ausbildung der eigenen Form der Askese und der Vermittlung an Mönchskreise weitet sich der Horizont auf die Kirche, die Gesellschaft und alle Hilfsbedürftigen. Gerade als „Anachoret“ – „Zurückgezogener“ – gilt das Wirken des Antonius den „Vielen“. Die Frage, was Heiligkeit „bringt“ oder was sie nützt, beantwortet Athanasius glasklar: unglaublich viel für erstaunlich viele! Ein solcher Heiliger ist kein Aussteiger oder Sonderling, sondern steht im Leben, und an ihm können alle sehen und erfahren, wie Gott in einem authentischen Nachfolger Christi den Menschen nahekommt.
Vom Nutzen des Lesens über Heilige
Die Vita Antonii beantwortet – ohne dass man einen unmittelbaren Zusammenhang herstellen müsste – die von Origenes vorgetragene Klage Jesu, sein Tod habe keinen Nutzen gebracht. Antonius, der nicht mit seinem Blut Zeuge für Christus werden durfte, brachte als Lehrer des asketischen Lebens, Vorbild, Medium von Wundern und lebendiger Hinweis auf Gottes wirksame Gnade großen Nutzen. Athanasius machte das neue Ideal des Asketen eben mit dem Stichwort „Nutzen“ plausibel. Andere Hagiographen folgten ihm, z.B. Theodoret von Kyros, der ein Jahrhundert später seine Historia religiosa über Säulensteher, Kettenträger und Grasfresser im syrischen Hinterland schrieb: Auch diese brachten ihren Mitmenschen Nutzen – als Lebende, vor allem aber als Figuren in Theodorets hagiographischem Narrativ. Andere, das sei nicht verschwiegen, stellten den Nutzen nicht in den Vordergrund; es waren dann oft Autoren, die nicht als Bischöfe für die christliche Öffentlichkeit schrieben (wie Athanasius und Theodoret), sondern für die eigene Mönchsgemeinschaft. Gerade darum halte ich es für erhellend, wo in der Spätantike der Nutzen von Heiligkeit postuliert wurde, um das durchaus nicht einhellig begrüßte Ideal des Heiligen als eines Ausnahmemenschen für die vielen seltsamen Heiligen des Alltags anschlussfähig zu machen.
Dass der Verfasser dieser Zeilen als evangelischer Kirchenhistoriker dafür plädiert, nach dem Nutzen von Heiligkeit zu fragen, könnte befremden. Immerhin erklärte Martin Luther 1521 in seinem Traktat De votis monasticis, die „simulierte Heiligkeit“ der Mönche sei „ein doppeltes Unrecht, da offensichtlich ist, dass solche (sc. scheinbar heiligmäßigen) Werke nicht nur nicht notwendig, sondern gänzlich zu vermeiden und zu fliehen sind!“9 Aber es geht auch gar nicht darum, auf Werke von Heiligen zu vertrauen. Die Confessio Augustana hielt wenige Jahre später fest, was einen evangelischen „Heiligendienst“ ausmachen könnte: „Vom Heiligendienst wird von den Unseren so gelehrt, dass man der Heiligen gedenken soll, damit wir unseren Glauben stärken, wenn wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und auch wie ihnen durch den Glauben geholfen worden ist; außerdem soll man sich an ihren guten Werken ein Beispiel nehmen, ein jeder in seinem Beruf“ (CA 21).10
Das Heiligengedenken hat hiernach durchaus einen konkreten Nutzen, nämlich den Glauben zu stärken; dieser Nutzen erwächst aber aus dem Sehen und Staunen, das auch in der Vita Antonii immer wieder begegnet, aber nicht als Staunen über Antonius’ Macht, sondern – wie immer wieder betont wird – als Staunen über Gottes helfendes Handeln, das daher auch nicht dem Heiligen zuzuschreiben ist. Sich ein Beispiel zu nehmen, heißt entsprechend nicht, diesen oder jenen Heiligen eins zu eins kopieren zu wollen; es bedeutet vielmehr, „in meinem Beruf“ – da, wo Gott mich nun einmal hingestellt hat – die eigene Weise des Glaubens, Handelns und Lebens zu finden, dabei aber dankbar auf die zu blicken, bei denen ich und auch andere das sichere Gefühl haben: Hier ist Leben mit Gott gelungen, je und je oder auch dauerhaft.