Spaghetti extra scharf

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2. Kapitel

Ich erinnerte mich an jenen Ort am Niederrhein, wo ich einmal einen Kurzurlaub verlebt hatte. Untereschenbach hieß das kleine, verträumte Nest, etwa vierzig Kilometer von Düsseldorf entfernt. Am Wochenende fuhr ich wieder hin und sah mich dort um.

In Untereschenbach lebten damals genau 2575 Einwohner. Schmucke Fachwerkhäuser. Kopfsteinpflaster auf engen Straßen, durch die sich tagsüber Schlangen von Pkws quälten. Im Mittelalter ahnte man noch nichts von unseren perversen Lebensgewohnheiten.

Alles war gepflegt und picobello. Eine wohlhabende Gemeinde.

Den Mittelpunkt bildete der Marktplatz mit einem Märchenbrunnen. Ein tanzender Zwerg mit Zipfelmütze hielt einen Krug aus Blech in der Hand, aus dem sich unaufhörlich ein Wasserstrahl in ein rundes Becken ergoss. Über Geschmack lässt sich schlecht streiten.

Viele kleine Geschäfte waren herausgeputzt für die Touristen, die im Sommer in die Stadt einfielen und ihr Geld hier ausgaben. Eine sichere Einnahmequelle für die Ladenbesitzer und den Stadtsäckel.

Untereschenbach war Ausgangspunkt für laufwütige Besucher, die Tagesausflüge in die fraglos schöne Umgebung machen wollten. Manche kamen allein, andere mit einem Wanderverein.

Eine Boutique neben der anderen. Die Leute hatten scheinbar nichts anderes zu tun, als mit überflüssigem Geld Klamotten einzukaufen. Dazwischen luden Restaurants dazu ein, den verbliebenen Rest bei gutbürgerlichem Essen und Trinken zu verprassen.

Eine Bäckerei lockte mit ofenfrischen Brezeln. Ich kaufte zwei davon. Das erlaubte mein schmaler Geldbeutel gerade noch.

Mich interessierten andere Sehenswürdigkeiten. Es gab da eine Sparkasse, die meine Aufmerksamkeit erregte. Ich betrat den Schalterraum. Als harmloser Tourist füllte ich eine Überweisung aus, während ich aus den Augenwinkeln die Räumlichkeiten sondierte.

Außer der Kassiererin gab es nur drei Angestellte, die damit beschäftigt waren, Kunden mit überflüssigen Informationen vollzuquatschen oder Kreditanträge auszufüllen.

Die nächste Polizeidienststelle befand sich im Nachbarort Obereschenbach. Das mussten mindestens fünfzehn Minuten Fahrtzeit sein. Eine kleine Seitenstraße führte aus dem Ort hinaus und zum Bahndamm. Hinter Büschen und dichtem Gestrüpp konnte man sich gut verstecken. Für meine Zwecke war das geradezu ideal.

Ich hatte gesehen, was ich sehen wollte, und machte mich wieder vom Acker.

Eine Woche später. Am Morgen trat ich mit einer großen Segeltuchtasche unter dem Arm aus der Haustür und fuhr wieder nach Untereschenbach.

Im Zug suchte ich bald die Toilette auf. Dort machte ich eine erstaunliche Verwandlung durch. Mit grauhaariger Perücke und Schminke war ich um mindestens zwanzig Jahre gealtert. Ich schlüpfte in eine blaue Latzhose, die nicht ohne Absicht etwas zu groß geraten war. Die Lücken hatte ich mit Schaumstoff gefüllt. Ein netter, korpulenter Herr um die fünfzig. Gutmütig und harmlos. So kehrte ich wieder in das Zugabteil zurück.

Ein kleines Mädchen mit roter Strickweste spielte mit seiner Puppe. Die langen, schwarzen Haare waren am Hinterkopf zu einem Zopf gebunden, an dessen Ende eine Haarspange mit einer rosa Quaste bei jeder Bewegung hin und her baumelte.

Gelangweilt popelte die Kleine in einem Nasenloch, während sie alles in ihrer Umgebung genau registrierte.

Später erzählte sie der Mutter, sie hätte einen Mann in die Toilette gehen sehen. Es wäre aber ein ganz anderer Mann wieder herausgekommen. Die Mutter beachtete es nicht. Vorläufig jedenfalls nicht. Kinder haben Fantasie und erfinden gerne Geschichten.

„Das kommt vor“, sagte sie und blätterte weiter in einer Zeitschrift.

Davon bekam ich nichts mit. In Untereschenbach stieg ich aus dem Zug und lief wieder zum Marktplatz. Ich setzte mich auf eine Bank und packte in aller Seelenruhe belegte Brote aus. Ein Handwerker, der auf seine Kollegen wartete und die Zeit für eine Mahlzeit nutzte.

Von hieraus konnte ich die Sparkasse gut beobachten. Mehrere Kunden betraten das Gebäude und verließen es wenig später wieder. Ich hatte es nicht eilig und kaute bedächtig an meinem Käsebrot.

Die Turmuhr des historischen Rathauses schlug. Es war zwölf Uhr am Mittag. Ich erinnerte mich an Filme, in denen jetzt die entscheidende Szene folgte. Der unvermeidliche Showdown. Schließlich war John Wayne auch nur Schauspieler mit einer Spielzeugpistole im Halfter.

Einer der Angestellten verließ die Sparkasse. Wahrscheinlich der Filialleiter. Mittagspause. Ich wartete noch ein paar Minuten. Dann erhob ich mich schwerfällig, meinem neuen Alter angemessen. Breitbeinig schritt ich hinüber. Ich betrat die Sparkasse und stellte mich an der Kasse hinter einer Kundin an, die gerade ihr Sparbuch erleichterte. Ich war gut erzogen. Dann kam ich an die Reihe. Ich legte eine Plastiktüte auf den Tresen und zog die Pistole aus der Tasche.

„Überfall! Alles Geld her! Schnell!“

Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn einer der Angestellten auf die Idee käme, Widerstand zu leisten. Eine leichte Krümmung meines Zeigefingers am Abzug, und ein Wasserstrahl würde dem Spielverderber ins Gesicht sprudeln und schließlich in einem dünnen Rinnsal auf Kragen und Jacke tropfen. Aber es leistete niemand Widerstand.

Die Kassiererin brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, was ich von ihr wollte. Sie hatte noch keine Erfahrung mit Überfällen. Dann reichte sie mir mit zitternden Fingern Geldscheine heraus, und ich steckte die niedlichen kleinen Päckchen in eine Plastiktüte. Erst die Fünfhunderter, dann die Hunderter, dann die Fünfziger.

„Das reicht!“, sagte ich entschlossen. Zu lange wollte ich mich hier nicht aufhalten. Ich hatte nicht mitgezählt, aber es schien mir sowieso genug Zaster zu sein. Mit der Plastiktüte in der einen Hand und der Pistole in der anderen trat ich langsam zur Tür.

„Keiner rührt sich! Zehn Minuten! Sonst schieße ich!“

Wie ein harmloser Bürger trat ich wieder auf den Gehweg und lief durch die kleine Seitenstraße zum Bahndamm. Niemand folgte mir. Ich konnte es nicht glauben. Mein Plan hatte funktioniert.

Hinter Gebüsch versteckt entledigte ich mich meiner Verkleidung. Unter dem blauen Arbeitsanzug trug ich eine leichte Sommerhose und ein ärmelloses T-Shirt. Ich zog die klobigen Arbeitsschuhe von den Füßen und schlüpfte in meine weißen Turnschuhe. Mit Feuchttüchern wischte ich mir die Schminke aus dem Gesicht, und ich nahm die grauhaarige Perücke ab, die bei der sommerlichen Wärme schon an einigen Stellen Juckreiz verursachte. Die ganzen Sachen legte ich auf das Geld in der Plastiktüte. Und die Plastiktüte warf ich in meine Segeltuchtasche. Ich wollte keine Spuren hinterlassen. In aller Seelenruhe trabte ich zum Bahnhof. Ich löste eine Fahrkarte und fuhr zurück nach Düsseldorf.

Zu Hause fiel ich erst einmal völlig erledigt in einen Sessel. Zum Glück fing ich erst jetzt an zu zittern wie die Pappel im Wind. Wie hätte das in der Sparkasse ausgesehen.

Wie leichtsinnig die Leute doch sind, dachte ich. Geben einfach alles Geld her, wenn man nur ein bisschen droht. Aber schließlich hatten die in der Sparkasse auch genug davon.

Ich packte die Plastiktüte aus und zählte meine Beute. Ein unbeschreibliches Gefühl. Das Knistern von Geldscheinen ist was Besonderes. Vor allem, wenn es so viele auf einem Haufen sind. Vor mir lagen sortiert und gebündelt zwanzigtausend Deutsche Mark. Eine hübsche Summe. Ich hatte effektiv gearbeitet. Aber ich musste an die Zukunft denken. Wenn man keine vernünftige Arbeit hat, dann ist das auch nicht gerade viel. Ich nahm mir vor, die Sparkasse noch einmal heimzusuchen. Ein paar Wochen wollte ich warten. Erst sollte sich die Aufregung wieder gelegt haben.

Ich entsorgte die Sachen, die ich bei dem Überfall getragen hatte, in die Mülltonne, auch die grauhaarige Perücke.

Die Pistole habe ich dann doch noch meinem Neffen geschenkt, als Zugabe zu seinem Geburtstagsgeschenk. Der Gedanke machte mir Freude, dass er jetzt täglich mit einer Pistole, die bei einem Überfall benutzt worden war, auf Verwandte zielte.

Vorläufig rührte ich das Geld nicht an. Ich wollte mich nicht verdächtig machen. Sicher ist sicher. Mein Leben sollte vorläufig weiterlaufen wie bisher.

Bald fand sich auch ein geeignetes Versteck für die Beute. Der Keller in unserem Haus war verwahrlost und schmutzig, mit unverputzten Wänden. Selten ließ sich hier einer der Hausbewohner blicken. Höchstens einmal, um ausgediente Möbelstücke zu deponieren, die anderswo im Weg herumstanden. Ich rückte einen losen Ziegelstein aus einer Wand und legte das Geld in die Öffnung dahinter. Wer würde schon vermuten, dass dieses alte Gemäuer einen Schatz hütete. Ich fühlte mich wieder wie ein Mensch, der das Glück für sich gepachtet hatte.

Später las ich beim Frühstück in der Tageszeitung alles über den gemeinen Überfall auf eine Sparkasse in Untereschenbach. Das Foto der Überwachungskamera zeigte einen älteren Herrn, der gerade mit einer Pistole die Angestellten bedrohte.

Vom Täter keine Spur.

Wer kennt den grauhaarigen Mann?

Ich grinste und hatte meinen Spaß an diesem Artikel.

In einem anderen Stadtteil und in einem anderen Haus saß eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter ebenfalls beim Frühstück. Auch die Mutter las in der Zeitung.

Die kleine Ida deutete mit dem Finger auf ein dort abgebildetes Foto: „Den Mann kenn ich.“

Die Antwort der Mutter war knapp und unmissverständlich: „Iss dein Müsli.“

Aber die kleine Ida ließ nicht locker. „Das ist der Mann aus dem Zug. Der aus der Toilette gekommen ist, obwohl er gar nicht reingegangen ist. Das hab ich dir doch erzählt.“

 

Die Mutter interessierte das nicht. Sie hatte andere Sorgen. „Iss endlich“, sagte sie. „Du kommst noch zu spät zur Schule.“

In Gedanken war sie bereits bei den Einkäufen, die sie zu erledigen hatte. Sie stand auf und holte aus dem Schrank eine Schultasche. Für sie war die Angelegenheit damit erledigt. Sie hatte nicht mit der Hartnäckigkeit einer Sechsjährigen gerechnet.

Am nächsten Morgen filzte die kleine Ida heimlich den Mülleimer in der Küche. Sie holte die Tageszeitung vom Vortag heraus und steckte sie unbemerkt in ihre Schultasche.

Schulstunden können langweilig sein. Wer hat schon Lust, blöde Rechenaufgaben zu lösen, wenn es Wichtiges zu erledigen gibt.

Als Ida am Mittag aus der Schule kam, machte sie sich nicht wie gewöhnlich auf den Heimweg. Sie lief in die andere Richtung zum Polizeipräsidium.

Der diensthabende Polizist schaute etwas ratlos, als ihm ein kleines Mädchen, das kaum mit dem Scheitel über den Tresen reichte, eine Tageszeitung überreichte und dazu eine unglaubliche Geschichte erzählte. Ida hatte sogar eine Zeichnung von dem verschwundenen Mann gemalt, die sehr einem bunten Strichmännchen ähnelte.

„Weißt du, wir haben hier auch Leute, die zeichnen können“, sagte der Beamte. „Möchtest du dir das mal ansehen?“

Ida war einverstanden.

Der Beamte hielt die Aussage der Kleinen für glaubhaft und er holte einen Mitarbeiter der Kripo dazu. Das war Paul Wenig, ein dicker und gutmütiger Polizist, wegen seines Bauchumfangs von allen nur Bärchen genannt und erst sechsundzwanzig Jahre jung.

Ein Protokoll wurde aufgenommen. Die Verbindung zu dem Überfall auf die Sparkasse in Untereschenbach war schnell hergestellt. Es gab nicht viele grauhaarige Männer mit Arbeitsanzug, die an jenem Tag in dem kleinen Ort aus dem Zug gestiegen waren.

Der Polizeizeichner fertigte nach Idas Angaben ein Bild an, das zur Fahndung nach dem Sparkassenräuber eher geeignet zu sein schien. Danach war für Ida klar, was sie später einmal werden wollte: Zeichnerin bei der Polizei.

Eine Kleinigkeit fehlte allerdings noch. Die kleine Ida reckte keck den Kopf nach oben. „Gibt es dafür auch eine Belohnung?“

Verlegen sahen sich die beiden Polizisten an.

Der dicke Paul fasste mit der Hand an sein Doppelkinn und überlegte. „Mal sehen … Eigentlich schon … Bei wichtigen Hinweisen ist das immer so … Dafür gibt es ein extra großes Kindermenü von Burger King. Wie hört sich das an?“

Ida strahlte.

Paul lief ins Nebenzimmer und entleerte das weiße Sparschwein mit der rosa Schnauze. Die Kaffeekasse der Abteilung.

„Mist. Reicht nicht“, schimpfte er.

Die wenigen Münzen, die aus dem Bauch des Sparschweins herausrollten, raffte er mit einem Handgriff zusammen. Dann eilte er an seinen Spind und holte seine Brieftasche.

Ein Kollege unterbrach seine Schreibarbeit und sah ihm interessiert zu. „Darf man wenigstens wissen, wohin du mit unserem Geld durchbrennst?“

„Ich muss mal eben weg“, sagte der dicke Paul. „Eine Dame ausführen. Ist übrigens dienstlich. Wir sind da an einer wichtigen Sache dran.“

„Hört sich ja toll an. Hoffentlich weiß sie, dass Polizisten wenig verdienen.“

Bald darauf lief Paul mit der kleinen Ida an der Hand die Straße hinunter in Richtung Burger King.

Das Kindermenü bestand aus einem Hamburger, einer großen Portion Pommes, einem Milchshake und einem in Plastik verpackten Spielzeug als Zugabe. Zum Nachtisch gab es ein Eis mit einer Schicht Schokolade darauf.

Paul war eigentlich auf Diät, wie meistens. Und wie meistens löste sich dieser Vorsatz beim Anblick der vielen Leckereien in Wohlgefallen auf, und er bestellte sich einen Hamburger als Doppeldecker.

Man kann sagen, da saßen zwei beisammen, glücklich und ziemlich gefräßig.

Der dicke Paul fragte sich, ob so eine kleine Ida einmal ihm gehören würde. Dazu fehlte ihm allerdings noch die passende Frau. Am besten eine gute Köchin, die füllige Männer mochte.

In der Zwischenzeit verständigten Kollegen die Mutter von Ida. Die reagierte wie alle Mütter erst ängstlich und besorgt, als ein Polizist anrief und ihr mitteilte, dass sie Ida auf dem Revier hatten. Dann war sie aber mächtig stolz auf ihre Tochter. Allen Nachbarn und Freundinnen musste sie sofort die Geschichte von ihrer klugen Ida erzählen, die bei der Jagd auf den Räuber einen entscheidenden Hinweis gegeben hatte.

Noch einen Tag später. Wieder las ich beim Frühstück in der Tageszeitung einen Artikel über den Überfall auf die Sparkasse. Diesmal war neben dem Bild aus der Überwachungskamera ein gezeichnetes Phantombild abgebildet. Es zeigte einen jungen Mann. Dazu wurde die Geschichte eines kleinen Mädchens erzählt, das die wahre Identität des Räubers kannte.

Ich war erstaunt, aber nicht beunruhigt. Der junge Mann auf dem Phantombild hatte ein alltägliches Gesicht. Die Beschreibung passte auf viele Männer dieses Alters. Sollten sie ruhig weiter suchen. Ich hatte zu tun. Emsig arbeitete ich bereits an einer neuen Verkleidung für meinen nächsten Besuch in der Sparkasse.

Für die Einwohner von Untereschenbach und Obereschenbach war der Überfall auf die Sparkasse ein Skandal, der ausgiebig diskutiert werden musste. Und die Lokalzeitung hatte eine Schlagzeile für die erste Seite.

Die Polizisten mit ihren ständigen Fragen hatten in der Sparkasse schon für genug Wirbel gesorgt. Jetzt waren sie fort. Dafür erschien ein Mann von der Versicherung, um den Schadensfall vor Ort aufzunehmen. So ein Typ mit schwarzem Anzug und schwarzer Aktentasche unter dem Arm. Sichtlich unzufrieden schritt er die Räume ab und ließ sich diese unglaubliche Tat in allen Einzelheiten schildern. Die Sicherheitsmaßnahmen hatten nicht ausgereicht. Er fand auch gleich den Fehler im System: Nur die Kassiererin in ihrer Kassenbox hatte einen Notknopf, mit dem sie Hilfe herbeirufen konnte. Er erklärte dem Filialleiter, dies sei auf keinen Fall hinnehmbar.

Der war sowieso schon mit den Nerven am Ende. Mit rudernden Armbewegungen versuchte er, imaginäre Flutwellen beiseitezuschieben. Er versprach, sofort für Abhilfe zu sorgen.

Zwei Tage danach traf ein Fachmann für Sicherungsanlagen in der Sparkasse ein. Unter den Schreibtischen der drei Angestellten im Schalterraum verlegte er ein kompliziertes Netz von Drähten und Schaltern. Nun konnte jeder der Angestellten einfach mit einer Fußbewegung Alarm auslösen. Zu einfach, wie sich bald herausstellte. Immer wieder kam es vor, dass jemand, ohne es zu merken, versehentlich an den Schalter geraten war. Sehr zum Unmut der Polizeibeamten in Obereschenbach, die den weiten Weg in die Nachbargemeinde regelmäßig umsonst machten.

Es entwickelte sich zu einem immer wiederkehrenden Ritual. Ein Polizeibeamter steckte den Kopf zur Tür herein, und die Kassiererin signalisierte ihm mit einer abwehrenden Handbewegung, dass alles in Ordnung war. Kein Räuber in Sicht. Nur Frust bei den Uniformierten.

Die Akte über den Raub landete auf dem Schreibtisch von Kommissar Lesot. Die kleine Ida wusste nicht nur zu berichten, dass ein junger Mann auf einer Zugtoilette auf sonderbare Weise verschwunden war. Sie hatte auch gesehen, an welcher Bahnstation der Mann eingestiegen war. Vermutlich lebte der Täter in Düsseldorf.

Bei Kommissar Lesot hielt sich die Begeisterung in Grenzen, als ihm der dicke Paul den Bericht auf den Schreibtisch legte. Über Mangel an Arbeit konnte er sich wirklich nicht beklagen. Es passte ihm gar nicht, dass er noch einen neuen Fall dazu bekam. Sein erster Arbeitstag nach einem Urlaub von nur vierzehn Tagen. Das fing ja gut an. Den Letzten kriegen sie dran. Und das war wieder einmal er.

Er öffnete das Fenster und atmete die von Abgasen verpestete Luft ein. Aber das bemerkte er schon nicht mehr. Sein Büro lag an der Hauptverkehrsstraße. Den Rest von Sauerstoff, den der Tross von stinkenden und hupenden Blechkarossen übrig ließ, verschluckte eine drückende Hitze. Irgendwo da draußen gab es einen Saukerl, der es fertigbrachte, ihm den Morgen und das dazugehörige Frühstück zu vermiesen. Musste der unbedingt hier wohnen. Es hätte auch die Kollegen in einer anderen Stadt treffen können.

Der selbst gebraute Kaffee aus seiner privaten Kaffeemaschine schmeckte heute doppelt so schlecht wie sonst.

Er beschimpfte die Kaffeemaschine, was zu seinen morgendlichen Gewohnheiten gehörte. „Was kannst du eigentlich? Kaffeekochen wird es jedenfalls nicht sein. Ach, leck mich doch.“

Danach fühlte er sich wieder besser.

Zumindest waren die Brötchen essbar. Er holte sie sich regelmäßig vor dem Dienst im Kiosk an der Ecke. Frisch geschmiert von Opa schmeckten sie am besten.

Eigentlich hieß der Inhaber Theodor Kocks. Aber alle nannten ihn Opa. Und alle hofften, dass der alte Mann noch eine Weile durchhalten und den Kiosk weiterbetreiben würde. Opa war ein Original und immer ein Lichtblick an einem arbeitsreichen Tag.

Seinen Namen verdankte Kommissar Lesot Vorfahren aus dem Elsass. Zum Glück gab es in seiner Umgebung nicht viele Leute, die der französischen Sprache so mächtig waren, dass sie die Bedeutung kannten. Er fand es schön, einen französisch klingenden Namen zu haben. Mit dem Vornamen Dieter, den ihm seine Eltern dazugegeben hatten, mochte er sich allerdings nicht abfinden. Mit Hartnäckigkeit gelang es ihm schließlich, die Behörden von der Notwendigkeit einer Namensänderung zu überzeugen. Jetzt hieß er Francois. Seine Kollegen und Freunde fanden das albern. Sie nannten ihn weiter Didi, was ihn sehr ärgerte.

Nochmals blätterte er den Bericht durch und las die Zeugenaussagen. Wenn er sich einmal richtig in einen Fall verbissen hatte, ließ er nicht mehr locker. Ein harter Knochen war das.

Er nahm die Sonnenbrille aus der Schublade und einen Strohhut vom Kleiderständer, den er aus dem Urlaub mitgebracht hatte. Dann verließ er das Büro. Seinen Dienstwagen ließ er diesmal stehen. Die paar Haltestellen zum Hauptbahnhof fuhr er mit der Straßenbahn.

Nach Untereschenbach gab es keine direkte Zugverbindung und er musste einmal umsteigen. Er fuhr jetzt die gleiche Strecke wie der Räuber. Der Kommissar benutzte sogar die Zugtoilette. Er umarmte das Waschbecken und versuchte sich vorzustellen, wie er geschminkt und umgezogen eine neue Identität angenommen hatte.