Hexenhammer 2 - Alles Leid währt Ewigkeit

Text
Autor:
Aus der Reihe: Hexenhammer #2
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Nammöd!«, keucht er. »Nammöd!«

»Was wollt Ihr mir damit sagen?«

»Nammöd! Der Ort, an dem …«

Mit einem Aufstöhnen verschied er mitten im Satz.

Behutsam ließ ich seinen Kopf zu Boden gleiten.

Nammöd! Der Ort, an dem …

Der Ort, an den man die Bramsche verschleppt hatte, um das Kind auszutragen? Ich wusste es nicht, hatte nie von einem solchen Ort gehört. Doch ich schwor mir, es herauszufinden.

Ich erhob mich und sah mich in dem Zimmer um. Nun, da der Dämon vernichtet war, war es nicht mehr ganz so finster, die Schwärze verschluckte nicht länger das Flammenlicht.

Der Raum war karg eingerichtet. Eine Bettstatt, eine Kommode, mehr war es nicht, was ich vorfand. Vielleicht hatten Diebe auch schon das meiste geraubt.

Als ich jedoch die angrenzende winzige Kammer betrat, stockte mir der Atem. Dort stand eine hölzerne Kinderwiege.

Sie begann in dem Moment zu schaukeln, als ich ihrer ansichtig wurde.

Mit zwei Schritten hatte ich sie erreicht und sah hinein.

Sie war leer.

Ich habe die Gabe.

Doch was nützt sie mir, wo ich versage, wenn ich doch helfen will.

Wo ich versage, wenn ich erlösen will.

Wo ich versage, wenn ich Leben retten will.

Mein Kampf gegen das Böse hatte mir bisher nur vor Augen geführt, wie viel ich noch lernen musste, um mich als würdig zu erweisen, Gott zu dienen.

Die Verluste, die meinen Weg säumten, waren zu zahlreich, als dass ich mich wirklich freuen konnte.

Zuletzt also hatte es den armen Pfarrer getroffen. Stunde um Stunde hatte ich gegrübelt, was es mit diesem Ort namens Nammöd auf sich hatte und wo er wohl liegen mochte.

Der Zufall wollte es, dass sich in eine meiner Audienzen im Rathaus ein Stadtbüttel verirrte. Obwohl er das Gesicht tief im Schatten der Kapuze verborgen hielt, erkannte ich sogleich, dass ihn eine bösartige Hautkrankheit befallen hatte.

Ich hieß ihn Platz nehmen, er aber bat darum, stehenbleiben zu dürfen, um mir nicht zu nahe zu kommen, denn er wisse nicht, ob seine Krankheit ansteckend sei.

Anselm Lewenstein, so stellte er sich vor, kam aus gutem Hause. Auch war er kein einfacher Büttel, sondern hatte der Garde vorgestanden. Doch dann …

»… wurde mir der Auftrag erteilt, die verhexten Weiber hinwegzuführen, auf dass sie keinen Schaden mehr über die Obrigen in Lemgo bringen können.«

»Hat man denn die Weiber der Hexerei überführen können?«, fragte ich nach.

»Oh gewiss, haben sie doch alle beide unter der Folter gestanden, die hohen Herren mit Zauberei verführt zu haben.«

Ich seufzte, denn im Gegensatz zu dem, was dem armen Pfarrer widerfahren war, schien mir dies eher ein Fall falscher Anklage zu sein, wie er mir oft zu Ohren kam. So sagte ich streng: »Über die, welche der Lust ergeben sind, gewinnt der Dämon am ehesten Gewalt.«

Wie ich weiter erfuhr, hatte sich das alles schon Jahre vor meiner Zeit in Lemgo ereignet. Die angeblich so hohen Herren hatten die Frauen geschwängert und das Übel auf ihre Weise beseitigen wollen.

»Wohin nun habt Ihr die armen Frauen gebracht?«

»Mein Auftrag lautete, sie zu einem Ort namens Namöd zu geleiten …«

»Namöd?« Ich fuhr aus meinem Stuhl hoch. Er hatte es anders ausgesprochen als der Pfarrer, doch war ich sicher, dass es sich um denselben Flecken handelte! Also hatte der Herr meine Gebete gehört und mir den braven Anselm Lewenstein geschickt!

Der Büttel nickte. »Ganz gewiss hieß der Ort so. Zwei meiner Leute begleiteten mich, die Hexen dorthin zu bringen. Wir taten alles, wie man es uns aufgetragen hatte. Die Weiber waren in Truhen gesperrt, damit sie uns nicht verzaubern konnten. Vorher brachen wir ihnen die Beine und Arme, damit sie dort hineinpassten. Nichts Absonderliches geschah auf der Fahrt, jedoch machte uns Namöd grausen. Der Ort liegt so versteckt im Harzer Land, dass wir ihn kaum fanden. Auch die Bewohner sind sehr seltsam. Sie zeigen ihre Gesichter nicht und reden nur das Nötigste. Wir übergaben ihnen die Truhen und waren heilfroh, wieder zurückzureiten …«

Es fiel mir schwer, ihm weiter zuzuhören, denn zu sehr beschäftigte mich der Ort selbst.

Dennoch ließ sich Lewenstein nicht davon abbringen, mir lang und breit seine Leidensgeschichte zu erzählen. Kurz nachdem er die Frauen dort abgeliefert hatte, war er von Albträumen heimgesucht worden. Immer wieder sah er darin die Frauen, wie sie ihm drohten und ihn verfluchten. Auch befand er sich am Ende dieser Träume oft selbst in einer stockdunklen Kiste, sodass er schreiend erwachte. In der Folge sprach er dem Wein immer stärker zu, verlor seine Stellung und musste sich schließlich als Büttel verdingen. Doch nun kam sein Ausschlag hinzu, der ihn, wie er mir verriet, am ganzen Leibe plagte. Auch seine Sehkraft ließ nach, sodass er fürchtete, seine Arbeit nicht mehr verrichten zu können. Ganz sicher aber war er, dass die Hexen ihn verflucht hatten, schließlich träume er seither jede Nacht davon, in der Kiste zu stecken. Auch empfinde er den fürchterlichsten Schmerz in Armen und Beinen, als wären sie ebenfalls gebrochen.

»Wenn Ihr mir nun endlich verratet, wo dieses Namöd liegt, so werde ich es beizeiten aufsuchen und die Hexen dort befragen«, versprach ich.

Lewenstein beschrieb mir den Weg, und ich entließ ihn mit dem Versprechen, für ihn zu beten.

Nachdem er gegangen war, stand mein Entschluss fest: So bald als möglich würde ich nach Namöd reisen. Nicht um die angeblichen Hexen zu befragen, sondern um herauszufinden, welche Verbrechen dort im Namen der Inquisition begangen wurden. Doch dann –

kam zunächst alles anders.

Und erlöse mich von dem Bösen, o Herr …

Ich hatte es erlebt, das Böse. Im haus zur heiligen dreieinigkeit hatte ich es am eigenen Leibe erfahren. Auf schmerzhafte Weise hatte ich erkennen müssen, dass sich das Böse selbst unter dem Habit nach außen hin frömmelnder Nonnen versteckt. Denn das Böse trägt tausenderlei Masken, und daher müssen wir beständig auf der Hut sein, dass es nicht in uns fährt und seinen Stachel tief in unsere Seele treibt.

Selbst ich, die ich von des Papstes Gnaden zur Inquisitorin ernannt wurde, war nicht gefeit gegen des Teufels Schergen.

Und lasse das Böse nicht in mich fahren, o Herr!

Es gibt mannigfaltige Arten, dem Bösen die Stirn zu zeigen. Neben dem Gebet, so hatte ich herausgefunden, ist auch die Selbstgeißelung hilfreich. Denn das Böse ist feige, es fürchtet den Schmerz, während es selbst unerträgliches Leid über die Menschheit bringt.

So kniete ich auch an diesem nebligen Novembermorgen in meiner kargen Turmkammer in Lemgo und geißelte mich im Namen des Herrn. Dreizehn Schläge mit dem dreifach geflochtenen und dreiendigen Hanfseil.

Meine Dienerin, die stumm dabeigestanden hatte, eilte hernach, um Waschschüssel, Lappen und lindernde Salben zu holen und den blutenden Rücken zu reinigen. Sie verstand sich gut darauf, war ihr Vater doch Medicus im fernen Worms gewesen. Nicht nur, dass sie ihm verschiedene Behandlungen und Kuren abgeschaut hatte. Darüber hinaus war sie ihm, wie sie mir erzählt hatte, bei der Ausführung derselbigen öfter zur Hand gegangen. Mathilde stand erst seit einem Monat in meinen Diensten, und wenngleich sie kleinwüchsig war und eine Hasenscharte besaß, die ihr Antlitz fast noch hässlicher machte als meines, so war sie doch wach und klug, und ich konnte mir keine bessere Dienerin an meiner Seite vorstellen.

Nun schüttelte ich den Kopf. »Ich hatte einen eigenartigen Traum, Mathilde.«

»War es wieder derselbe? Der, in dem Ihr Euch selbst als weinendes Kind auf einem Bildnis seht?«

Ich nickte. Einzig Mathilde hatte ich von dem Traum erzählt. Doch auch ihr hatte ich aus einem mir unerklärlichen Grund verschwiegen, wie er stets endete: mit dem weinenden Jungen, der mir entgegenblickte.

»Ihn träumte ich zuerst. Doch dann war da noch ein anderer Traum. Darin ritt ich durch einen dunklen Wald und wurde von kleinen schwarzen Teufeln angegriffen. Von allen Seiten sprangen sie herbei und verhöhnten Gott mit ihren widerlichen Fratzen. Sie wurden immer dreister und rissen mir das Wams vom Leibe. Doch da geschah Wunderliches: Ein Aufschrei ging durch ihre Reihen, und ich spürte, wie die kaum verheilten Wunden der letzten heiligen Geißelung sich verwandelten und zum Leben erwachten. Neununddreißig Ebenbilder meiner Selbst erwuchsen daraus und zertraten die Meister der Teufel. Die wenigen Überlebenden ergriffen die Flucht. Da wachte ich auf, voller Glück und Heiterkeit. Was will mir der Traum sagen, Mathilde?«

»Dass Ihr mächtiger als alle Teufel seid, Herrin?«

Ich seufzte. »Das wäre Gotteslästerung, denn nur Gott allein ist mächtiger als alles Böse. Doch vielleicht wollte er mir sagen, dass er mir allzeit beisteht, im Kampf gegen das Böse …«

Meine Unterhaltung mit Mathilde wurde jäh unterbrochen, als es an der Türe klopfte und, ehe ich die Erlaubnis gegeben hatte, ein junger Bursche hereinstürmte. Als er meinen blutigen Rücken sah, senkte er sogleich beschämt den hochroten Kopf.

Mathilde aber stellte sich zwischen mich und den Burschen, sodass er meiner Blöße nicht länger ansichtig werden konnte.

»Was fällt dir ein, du Rotzlöffel! Bist du des Teufels, hier so reinzuplatzen?«

»Ich … ich …«, stammelte der Bursche.

Während Mathilde ihn weiter ausschimpfte, raffte ich mich auf und zog mir das Unterkleid über die blutenden Wunden. Den Schmerz, den das harte Linnen dabei verursachte, empfand ich als Gottes Fingerzeig, es vielleicht demnächst nicht bei nur dreizehn Schlägen zu belassen, obwohl es, wie seit jeher Brauch, ja eigentlich neununddreißig Schläge sind, ist das Geißelende doch dreifach ausgeführt.

 

»Was hast du denn nun da?«, hörte ich Mathilde sagen, während ich noch damit beschäftigt war, mich weiter anzukleiden.

»Ein Brief! Eine Botschaft für deine Herrin!«

»Dann gib schon her!«

»Nein, ich darf ihn nur persönlich überreichen!«

»Du fängst dir gleich ein paar Maulschellen!«

»Lass es gut sein, Mathilde.« Ich schritt ein, bevor das Wortgefecht noch in ein körperliches Scharmützel ausartete. Mathilde reichte dem jungen Burschen zwar nur bis zur Brust, aber was ihr an Körpergröße fehlte, machte sie durch Kraft und Mut wett.

Ich schob mich an ihr vorbei und streckte die Hand aus. Der Junge überreichte mir den Brief und blieb wartend stehen. Wahrscheinlich hoffte er auf ein Trinkgeld, also gab ich Mathilde ein Zeichen.

Sie griff widerstrebend in ihre Schürze, während ich bereits das Siegel löste.

Der Bursche schüttelte den Kopf. »Nein, nein, kein Obolus. Ich wurde bereits bezahlt.«

»Warum stehst du dann noch so dumm herum, Junge?«, zeterte Mathilde.

»Ich soll warten, bis die Ehrwürdige Herrin mir ihre Antwort übergibt.«

Das Siegel, das ich erbrochen hatte, war mir nur zu gut bekannt. Insofern klopfte mein Herz ein wenig schneller, als ich den Umschlag öffnete. Das Papier darin war mit großen schwungvollen Lettern bedeckt. Der Großinquisitor Heinrich Institoris verlangte mich zu sprechen. Aus diesem Grund wurde ich aufgefordert, mich unverzüglich im Kloster Dalheim einzufinden.

Nun klopfte mein Herz noch wilder. Seitdem ich meine Aufgabe erfüllt und Lemgo und die umliegenden Dorfflecken von Hexenmeistern, Hexen und anderen Dämonen befreit hatte, war ich mehr oder weniger ohne klaren Auftrag gewesen. Aus diesem Grund hatte ich sowieso den Großinquisitor aufsuchen wollen, um die Erlaubnis für meine Reise nach Namöd zu erbitten.

Natürlich würde ich meiner eigentlichen Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich das Hexenwesen in und um Lemgo nicht wieder ausbreitete, dennoch gerecht werden können. Meine Mission im Harz würde sicherlich nur wenige Tage dauern.

Und was die Dämonen betraf, so hatte ich dazugelernt. Natürlich hatten sie sich längst aus Lemgo verzogen und machten in der Maske biederer Bürger andere Städte unsicher, während die Unschuldigen – hier wie anderswo – weiterhin angeprangert wurden. Es verging kaum ein Tag, an dem nicht irgendein Bürger seinen Nachbarn oder Verwandten der Hexerei beschuldigte. Selbst vor den eigenen Eheweibern machten einige Männer nicht halt, denen es meist wohl nur darum ging, sie loszuwerden, um sich eine jüngere nehmen zu können.

Und dann waren da noch die Wichtigtuer, solche, die sich rühmen wollten, mir Aug in Aug gegenübergestanden zu haben. Denn ob ich es wollte oder nicht: Ich war inzwischen bekannter, als ein fliegender Hund es gewesen wäre. Die »Hexenjägerin«, so wurde ich genannt.

Was einer der Gründe dafür war, dass ich es in letzter Zeit vermieden hatte, mich auf der Straße blicken zu lassen. Ich mochte es nicht, wie die Leute mich ansahen – mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Angst.

Niemand hatte die jahrelangen Exzesse und Prozesse vergessen, die unsere Stadt so lange heimgesucht hatten. Dabei hatten die wirklichen Dämonen den Hexenwahn geschürt, um feixend mitanzusehen, wie Hunderte unschuldiger Menschen im Namen der heiligen Inquisition gefoltert und hingerichtet wurden.

Obschon ich mich um Aufklärung über das wahre dämonische Treiben bemühte, durchschauten die arglosen Menschen das teuflische Spiel kaum.

»Was ist, Herrin?«, fragte Mathilde neugierig, da meine Blicke noch immer auf dem Brief verweilten.

»Es sieht so aus, dass wir in Lemgo nicht mehr gebraucht werden«, erklärte ich und hoffte, meine Stimme nicht allzu freudig, sondern dem Anlass entsprechend feierlich klingen zu lassen.

»Umso besser!«, freute sich mein Mädchen. »Es ist stinklangweilig hier, wenn es nichts Richtiges zu tun gibt für unsereins!« Sie verbesserte sich rasch: »Ich meinte natürlich, für Euch.« Sie verbeugte sich leicht.

Ich musste schmunzeln, hatte sie doch schon oft erklärt, wie gern sie mit mir gegen die Schwarze Familie zu Felde ziehen würde. Ihre Mutter, so hatte sie mir erzählt, war von einem Vampir gebissen und später gepfählt worden, als Mathilde noch ein Kind gewesen war. Seitdem hasste Mathilde die schwarze Brut wie die Pest. Ich konnte mir keine treuere Dienerin an meiner Seite wünschen.

Zum Boten sagte ich: »Sag, dass ich noch heute nach Dalheim aufbrechen werde. Wie bist du überhaupt hierhergekommen? Und seit wann bist du unterwegs?«

Er errötete erneut, haspelte aber dann: »Eine Reiterstafette hat den Brief weitergetragen. Mein Vater sollte der Letzte sein, der ihn Euch übergibt, aber …«

Er stockte, sodass ich ihn ernst ansah und zum Weitersprechen auffordern musste.

»Was ist mit deinem Vater, nun sag es schon!«

»Sein Pferd ist gestürzt, und er hat sich das Genick gebrochen. Die Mutter bat mich, ihren ältesten Sohn, Euch die Botschaft zu überbringen.«

Er rang mit den Tränen. Offensichtlich wollte er vor mir nicht zugeben, wie sehr ihm der Tod seines Vaters zu schaffen machte.

»Das tut mir sehr leid, Junge, aber umso dümmer ist es, einen Obolus abzulehnen. Deine Familie kann das Geld brauchen.« Ich wandte mich an Mathilde: »Gib dem Burschen fünf Taler.«

»Fünf Taler, Herrin?« Ich sah ihr an, dass sie die Summe für zu hoch hielt, aber ich hatte meine Gründe, so großzügig zu sein. Ahnte ich doch, dass hinter dem verhängnisvollen Sturz mehr steckte als nur ein Unfall.

Während Mathilde sich zum Sekretär begab und den Schlüssel vom Hals nahm, fragte ich den Jungen: »Und wie bist du hierhergelangt?«

Wieder blickte er beschämt zu Boden. »Mit dem Eselskarren. Das Pferd musste notgeschlachtet werden.«

»So ist sicherlich großes Leid über eure Familie gekommen.«

Nun war es an mir, den Kopf zu senken. Wie viel Kummer die Dämonen doch den Menschen bereiteten! Dabei hatte der Vater vermutlich allein das Pech gehabt, mit einer wichtigen Botschaft für mich betraut worden zu sein.

Mathilde zählte dem Jungen die Münzstücke in die Hand. Diesmal sträubte er sich nicht. Es war nur eine geringe Wiedergutmachung, und ich schämte mich, als er dankbar vor mir auf die Knie fiel.

»Gott segne dich«, sagte ich und strich ihm über den Kopf. »Und nun steh auf, und eile zurück zu deiner Familie.«

Der Junge erhob sich, murmelte mehrmals einen Dank und eilte hinaus.

»Fünf Taler waren viel zu großzügig, Herrin«, schalt mich Mathilde, nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war. »Wenn sich das herumspricht, werdet Ihr nicht mehr sicher sein vor Bettlern und Hausierern und was sich für Schmarotzer noch dort draußen rumtreiben!«

»Es sind alles nur Menschen, Mathilde, vergiss das nicht.« Und dann sprach ich aus, was mir die ganze Zeit über schon durch den Kopf gegangen war: »Ich glaube nicht, dass der Vater des Jungen zufällig gestürzt ist.«

»Ihr denkt …?«

Ich nickte. »Die Schwarze Familie hat erfahren, dass Heinrich Institoris nach mir verlangt. Die Dämonen versuchten zu verhindern, dass mir die Nachricht zugestellt wurde. Nur warum?«

»Die Dämonen fürchten Euch, mehr als alle anderen Streiter der Inquisition«, behauptete Mathilde. »Es wird sich herumgesprochen haben, auf welche Weise Ihr nicht nur Lemgo von der teuflischen Brut befreit habt.«

Ich lächelte mild. »Ich bin nur ein kleines Rädchen im großen Mühlwerk der Inquisition. Hohe Herren wie Heinrich Institoris oder Jakob Sprenger sind es, die die Schwarze Familie viel eher fürchtet.«

Mathilde machte ein nachdenkliches Gesicht. »Aber auf welche Weise, glaubt Ihr, haben die Dämonen von der Depesche erfahren? Es muss einen Verräter in Institoris’ Gefolge geben.«

Das war auch mein erster Gedanke gewesen. Unter den Kutten und Talaren konnte sich ein Dämon ebenso verstecken wie unter der Tracht eines Kaufmanns oder dem Flickenkleid einer Bettlerin. Oder sogar in dem vormals frommen Mann oder der Frau selbst, wie das Schicksal von Coctorius bewiesen hatte. Aber man vermag die Schmarotzer zu erkennen, denn Hexen und anderes Gezücht haben keinen Funken Frömmigkeit in sich, was deutlich zu sehen ist, wenn man ein waches Auge hat. Sie hören nicht auf, das Blut Unschuldiger zu vergießen, sie zu Bösem zu verleiten und die Seelen samt ihren Leibern zu töten.

Dennoch sagte ich: »Da gibt es viele Möglichkeiten, Mathilde. Es könnte auch ein Mönch aus Dalheim sein. Oder einer der Staffelreiter. Aber wir werden es herausfinden, da bin ich mir sicher!«

Kapitel 2

Noch in derselben Stunde verließen wir Lemgo. Ich verspürte keinen Drang, mich persönlich bei den Stadtoberen und Kirchenleuten zu verabschieden. Während Mathilde packte, verfasste ich deshalb nur ein knappes Schreiben an den Magistrat, dass mich anderswo dringende Aufgaben erwarteten. Dabei verschwieg ich aus Sorge vor Spitzeln das Ziel meiner Reise. Ich rollte das Papier zusammen, versiegelte es und trug Mathilde auf, es einem Boten zu übergeben.

In der Zwischenzeit hatte der Stallknecht unseren Einspänner vorgefahren. Auch Nikolaus, unser starker Haflinger, schien es kaum erwarten zu können, dass es endlich losging. Er schnaubte und scharrte mit den Hufen.

Das Wetter meinte es gut mit uns. Es war trocken, und eine milde Spätherbstsonne schaute vom fast wolkenlosen Himmel herab. Wir winkten den Wachen zu und preschten durch das Stadttor hinaus.

Ich spürte, wie zugleich eine Bürde von meinen Schultern fiel. Aufgewachsen bei der Familie Knerz, hatte ich manches Leid erfahren müssen. Heinrich Cornelius Mudt von Gilding hatte mich nach meinem Aufenthalt im Waisenhaus dort abgeliefert. Waren es zunächst nur die Menschen, unter denen ich zu leiden hatte, bekam ich nach und nach auch die dämonischen Umtriebe in der Familie Knerz und in der ganzen Stadt zu spüren. Nie werde ich den Hexensabbat vergessen, zu dem man mich gezwungen hatte. Dort hatte ich zum ersten Mal die geballte Grausamkeit der Schwarzen Familie vor Augen geführt bekommen.

Insofern atmete ich durchaus ein wenig auf, Lemgo endlich den Rücken zu kehren. Zumindest bis jetzt hatte ich meine Aufgabe erfüllt und konnte nur hoffen, dass die Stadt so schnell nicht wieder in den Ruf eines »Hexennestes« kommen würde.

Vorbei ging es an Gehöften und längst abgeernteten Feldern, über grüne Wiesen und durch finstere Wälder.

Wir waren beileibe nicht die Einzigen, die auf der holprigen, staubigen Straße unterwegs waren. Vorwiegend Händler und Krämer kamen uns entgegen, die in der Hansestadt mancherlei Geschäft machen wollten. Lemgo lag am Kreuzungspunkt beliebter Handelswege, und hauptsächlich handelten die Lemgoer mit wertvollen Tuchen, für die die Stadt weit über die Landesgrenzen bekannt war. Im Gegenzug brachten die auswärtigen Hansekaufleute Pelze, Wachs, Metallwaren und Waffen, aber auch begehrte Lebensmittel wie Fisch von den fernen Küsten oder exotische Gewürze. Die schönste Erinnerung hatte ich an den Markt, an das rege Durcheinander der Menschen und an die verführerischen Gerüche in der Luft.

Der Weg war lang und eintönig, und so begann Mathilde mir Fragen zu stellen, während wir eng nebeneinander auf dem Kutschbock saßen und die Landschaft an uns vorüberzog. Das tat Mathilde gern und häufig, und auch ich mochte unsere Unterhaltungen sehr, konnte ich mir auf die Weise doch immer wieder aufs Neue die große Weisheit der Herren Sprenger und Institoris vor Augen führen, die ihre Erkenntnisse im berühmten »Hexenhammer« niedergelegt hatten.

»Ich frage Euch, Herrin, warum Gott lieber an der Zeugungskraft Hexerei geschehen lässt als an allen anderen menschlichen Handlungen?«

»So, das beschäftigt dich also?«, schmunzelte ich.

Mathilde war gerade sechzehn geworden, und ich wusste, dass sie trotz ihres unvollkommenen Äußeren – oder vielleicht gerade deswegen? – alles Sexuelle besonders interessierte. Wie ich würde sie wohl kaum jemals einen Verehrer finden, und vielleicht haderte sie, anders als ich, mit diesem Schicksal.

»Nur weil doch die Bibel ausdrücklich sagt, dass der Mensch fruchtbar sein und sich mehren soll«, erklärte sie.

»Da hast du dir die Antwort schon selbst gegeben. Weil Gott die Zeugungskraft als wichtig erachtet, versuchen die Dämonen alles, sie zu zersetzen. Nun, Gott lässt es in dem Falle zu, erstens wegen der Scheußlichkeit des Aktes und weil die Erbsünde, verhängt durch die Schuld der ersten Eltern Adam und Eva, beim Zeugungsakt mit übertragen wird. Das ist auch an der Schlange bewiesen, die das erste Werkzeug des Teufels war.«

 

Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Mathilde die Stirn runzelte, wohl weil ihr die Antwort nicht ganz einleuchtete. Also setzte ich erklärend hinzu: »Und außerdem ist der Mann während des Aktes am allerleichtesten zu beeinflussen, und das Böse kann umso leichter in ihn fahren.«

Mathilde lachte auf: »Oh ja, ich kenne so manchen Mann, dem ein Weib den Kopf verdreht hat!«

Wiederum musste ich schmunzeln, aber eher darüber, dass wir beide über etwas sprachen, was wir bisher körperlich nicht erfahren hatten. Es sei denn, ich zählte die Male hinzu, in denen Vater Knerz sich an mir vergangen hatte oder Asmodi, der Fürst der Finsternis, in widerwärtiger Weise in mich gedrungen war.

Oder hatte Mathilde mir in der Hinsicht etwas voraus?

Ich hatte kaum darauf geachtet, dass wir in ein dunkles Waldstück eingetaucht waren. Kein Händlerkarren kam uns mehr entgegen. Hatten wir etwa eine Abzweigung versäumt? Kaum Tageslicht drang durch die hohen dichten Tannen.

Ich ließ Nikolaus anhalten und lauschte. Es war totenstill, noch nicht einmal das Krächzen einer Krähe oder das Klopfen eines Spechtes war zu vernehmen. Ganz zu schweigen von den anderen vielfältigen Geräuschen eines Waldes.

»Was habt Ihr, Herrin? Warum halten wir an?«

Ein hoher, schriller Schrei durchbrach die Stille.

Mathilde zuckte zusammen. Auch mir war der Schrei durch Mark und Bein gegangen, lag doch so viel Triumph und abgrundtiefe Bosheit darin, wie kein Mensch sie zu äußern vermag.

Er war irgendwo seitlich von oben aus den Baumwipfeln erklungen und wiederholte sich nicht, und doch wusste ich, dass das Wesen, das ihn ausgestoßen hatte, noch irgendwo dort hocken musste. Und uns beobachtete, dessen war ich gewiss. Mit den Blicken suchte ich die Wipfel über uns ab, aber es war zu dunkel, um etwas zu erkennen.

Mathilde verschwand in das Wageninnere. Kurz darauf kam sie mit ihrem Bogen wieder unter der Plane hervor. Sie spannte einen Pfeil auf die Sehne und spähte hinauf zu den Bäumen. »Meint Ihr …?«

Ich nickte. »Das war weder Mensch noch Tier. Irgendetwas Böses belauert uns.«

Ich schnalzte mit der Zunge, und Nikolaus zog langsam weiter.

Auch ich schaute nun unentwegt nach oben. Dabei glaubte ich, einen schwarzen Schatten auszumachen, von grotesker Gestalt, von Wipfel zu Wipfel springend. Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob meine Sinne mir das Wesen nur vorgaukelten, so war ich doch gewiss, dass sich irgendetwas dort bewegte.

Wir waren nicht viel weitergekommen, als vor uns doch noch ein Gespann auftauchte. Es war ein einfacher Eselskarren, der verlassen dastand. Das arme Tier, das ihn gezogen hatte, lag ausgeweidet davor. Das Blut war noch frisch, also war es erst kurz vor unserer Ankunft abgeschlachtet worden.

Sofort musste ich an den Burschen denken, der uns Institoris’ Botschaft überbracht hatte. Hatte er nicht davon gesprochen, mit dem Esel gereist zu sein?

Ich sprang vom Kutschbock, während Mathilde weiterhin mit gespanntem Bogen die Umgebung im Auge behielt.

Ich ging vor dem Kadaver in die Hocke. Fleischbrocken waren aus dem Leib herausgerissen worden. Die Brust lag offen da. Das Herz fehlte. Ich tunkte einen Finger in das Blut. Es war frisch, so wie ich es mir gedacht hatte.

Langsam richtete ich mich wieder auf. War der Junge davongelaufen, um Hilfe zu holen? Oder hatte die Bestie, die den Esel zerfleischt hatte, auch ihn auf dem Gewissen?

Links von mir war das Unterholz, das die Straße von beiden Seiten umsäumte, aufgerissen. Ich schaute mir die Stelle genauer an und erkannte im weichen Boden einen Fußabdruck.

Vorsichtig und jederzeit einen Angriff erwartend, folgte ich der Spur.

Nach wenigen Schritten hatte ich den Jungen gefunden. Er war nicht minder zugerichtet als sein Esel. Auch er war erst kurz vor unserem Eintreffen gestorben. Das Blut war noch warm und frisch. Der linke Arm war ihm ausgerissen worden. Die rechte Hand fehlte, ebenso das Herz. In den aufgerissenen Augen stand noch das Grauen, das ihn im Angesicht des Todes erfasst haben musste.

Ich schloss ihm die Augen und erhob mich wieder. Nirgends war eine Waffe zu sehen, also hatte man einen Wehrlosen ermordet. Mein Zorn auf das schwarze Gezücht war so groß, dass er sich in einem hilflosen, wütenden Aufschrei entlud.

Es dauerte nur Augenblicke, und Mathilde kam durchs Unterholz gestürmt. Als sie die Leiche des Jungen erblickte, wurde sie blass. »Aber warum? Er hat doch niemandem etwas getan!«

»Doch«, antwortete ich bitter. »Er hat die Aufgabe seines Vaters erfüllt und mir die Nachricht überbracht. Allein das war sein Vergehen.« Ich ballte die Fäuste.

»Wir werden ihn rächen!«, presste Mathilde hervor.

»Wer immer es getan hat, steckt irgendwo dort oben in den Bäumen. Wollte Gott, dass wir Rache üben, würde er uns hier und jetzt Flügel verleihen. Wir aber müssen weiter, der Großinquisitor erwartet uns dringlichst.«

Mathilde knirschte mit den Zähnen, und wie sie, so war auch ich nicht zufrieden. Doch sah ich keine Möglichkeit, hier und jetzt den Mörder zu stellen. Wie es überhaupt wenig Sinn ergab, einen einzelnen Dämon zu töten. Wie bei einem Baum mit vergifteten Früchten musste man das Übel bei der Wurzel packen und ausrotten.

»Rasch, hol eine Decke herbei«, befahl ich, und das Mädchen entschwand. Als sie wiederkam, hievten wir den Leichnam darauf, wickelten ihn ein und schafften ihn zur Kutsche. Sein Körper war so leicht, und ich dachte daran, wie dürr er schon im Leben gewesen war. Nun, da er einen Arm, das Herz und viel Blut verloren hatte, wog er kaum noch etwas. Mir wurde klar, dass ich in seiner Schuld stand. Und in der seiner Familie, die jetzt ohne Ernährer und ohne den ältesten Sohn auskommen musste.

»Weißt du, wo er herkommt?«, fragte ich Mathilde. »Wo seine Familie wohnt?«

»Nicht mehr als Ihr. Er war ja gleich wieder fort, nachdem Ihr ihn so fürstlich bezahlt hattet.«

Mir kam etwas in den Sinn, das ich noch nachholen musste, obwohl mir nun, da der Leichnam bereits in die Decke gehüllt war, davor graute. Ich schlug die Decke noch einmal beiseite und durchsuchte in der blutdurchtränkten Kleidung nach den Münzen, die ihm Mathilde auf mein Geheiß hin ausgehändigt hatte. Es erstaunte mich nicht, noch alle fünf Taler vorzufinden. Ich hielt die blutigen Münzen auf dem flachen Handteller und zeigte sie Mathilde. Auch sie begriff sofort:

»Ihr hattet recht! Da waren keine Räuber am Werke.«

»Ich habe es nicht anders erwartet. Abgesehen davon, dass kein Mensch einen anderen so bestialisch zurichtet, so ist dies der letzte Beweis, dass es sich um keinen gewöhnlichen Raubmord handelt. Es war das Werk eines Dämons!«

In düstere Gedanken versunken, fuhren wir weiter und gelangten bald wieder auf die Hauptstraße, die Lemgo mit den anderen Städten verband und auf der nach wie vor die Handelskarren unterwegs waren.

Ich fragte mich, warum sowohl der Junge als auch wir die Abzweigung durch den Wald genommen hatten. Auch das konnte nur Teufelswerk sein. Den Jungen vom Wege in den Wald zu locken, mochte noch einfach gewesen sein. Er war unerfahren im Umgang mit Dämonen und sicherlich mit den Gedanken bei seinem toten Vater gewesen. Umso mehr ärgerte es mich, dass auch ich den dämonischen Einflüssen erlegen war. Es war für mich die einzige Erklärung dafür, dass ich nicht auf der Handelsstraße geblieben war.

Die Sache beunruhigte mich mehr, als ich zugeben wollte. Ich war nämlich keine Anhängerin der ketzerischen Irrlehre, dass es auf Erden gar keine Zauberei gebe. Es gab darüber noch weitere Meinungen: Zauberei lebe allein in der menschlichen Vorstellung, die allen natürlichen Erscheinungen, deren Ursache dem Verstand verborgen bleibt, den Hexen zuschreibe. Andere waren der Ansicht, dass es zwar Hexen gebe, dass sie aber nur in der Einbildung und Fantasie bei der Zauberei mithalfen. Noch andere behaupteten, alle Hexenkünste seien überhaupt Fantasie und Einbildungen, welche gerade durch die Macht eines Dämons im Verbund mit einer Hexe hervorgerufen worden seien.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?