Buch lesen: «Die Leiche im Landwehrkanal»
Uwe Schimunek
Die Leiche im Landwehrkanal
Von Gontards sechster Fall
Criminalroman
Jaron Verlag
Uwe Schimunek, Leipziger Journalist und Autor, schreibt Kurzgeschichten und Kriminalromane. Er liest regelmäßig bei den jährlich stattfindenden Ostdeutschen Krimitagen und im Rahmen des Krimi-Kleinkunst-Programms »Killer-Kantate«. Im Jaron Verlag erschienen von ihm in der Reihe »Es geschah in Sachsen« drei Bände, zuletzt »Der ermordete Gärtner« (2013). Für die Reihe »Es geschah in Preußen« verfasste er zusammen mit Jan Eik den Band »Attentat unter den Linden« (2012).
Originalausgabe
1. Auflage 2013
© 2013 Jaron Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
1. digitale Auflage 2013: Zeilenwert GmbH
ISBN 978-3-95552-035-9
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Nachbemerkung
Es geschah in Preußen
Eins
Donnerstag, 22. August 1850
Christian Philipp von Gontard sah das Dilemma schon von weitem. Kaum hatte er die Schilder passiert, die das Betreten der Baustelle verboten, bemerkte er den Menschenauflauf am Wasser. Die Gruppe von Männern wirkte schon von hier aus so ratlos wie ostpreußische Bauern vor einer algebraischen Gleichung. Ein Mann löste sich aus dem Pulk vorn am Ufer und winkte. Gontard erkannte Peter Joseph Lenné – der Königliche Gartendirektor und Stadtplaner war persönlich zum Unglücksort gekommen. So schlimm stand es also …
Die letzten Meter ritt Gontard im Galopp über die Berliner Wiesen. An einem Baum in Steinwurfweite zum Ufer standen zwei Reitpferde an einer provisorischen Tränke. Gontard stieg von seinem Rappen und band ihn neben den anderen Gäulen fest.
»Guten Tag, Herr Oberst-Lieutenant! Schön, dass Sie so schnell kommen konnten«, empfing ihn Lenné. Aus der Nähe wirkte das Gesicht des Gartendirektors wie eine Karstlandschaft. Gontard wusste von der Pockenerkrankung in Lennés Kindheit, dennoch erschrak er stets ein wenig, wenn er auf den Gartenmeister traf.
»Ich wünsche ebenfalls einen guten Tag«, erwiderte Gontard und zeigte dann zur Unglücksstelle. »Ihre Männer sehen besorgt aus.«
»Wenn Sie das Malheur sehen, werden Sie das verstehen«, sagte Lenné. Er wandte sich zum Ufer und rief im Gehen: »Meister Häußler! Hier ist Oberst-Lieutenant von Gontard!«
Ein Mann mit einem üppigen Vollbart zog seinen Hut. Über seinen kurzen Beinen wirkte der Brustkorb wie aufgeblasen. Wenn der Mann statt des Hutes eine Zipfelmütze trüge, hätte er einen Zwerg in einer Heldensage darstellen können.
Je näher sie dem kleinen Mann und dem Wasser kamen, desto deutlicher wurde Gontard das Ausmaß der Misere: Dort, wo die Uferbefestigung allem Anschein nach im rechten Winkel verlaufen sollte, war die Böschung auf Dutzenden Metern weggebrochen. Das Erdreich schien sich in den Kanal zu ergießen wie Brei, der aus einem Kochtopf quoll.
Häußler stand vor ihnen und sagte: »Die gesamte Verschalung ist abgerutscht, und nicht nur das. Die Befestigung hat es ebenfalls hinweggeschwemmt.« Der kleine Mann schüttelte den Kopf. »Ich kann mir das nicht erklären.«
Die beiden Arbeiter traten beiseite, damit Lenné, Gontard und Häußler zum Erdrutsch treten konnten. Jetzt sah Gontard, dass der Kanal keineswegs im rechten Winkel um die Ecke führte, wie es von der Entfernung ausgesehen hatte. Vielmehr lag eine Art künstlicher Teich vor ihnen, der seitlich zum Kanal in die Wiese gelassen war. Auch an der Einmündung war das Ufer ins Wasser gerutscht: Erdklumpen, Holzbalken und Klinkerziegel hatten sich zu einem einzigen Durcheinander vermischt.
»Welche Funktion soll dieser Teich haben?«, erkundigte sich Gontard.
»Wir nennen es Bassin. Hier können Schiffe wenden oder auch für längere Zeit vor Anker gehen«, erklärte Lenné, »zum Beispiel, wenn die Witterung den Verkehr nicht zulässt. Es gibt noch ein paar solche Anlagen kanalabwärts. Vielleicht bauen wir die Bassins später wieder zurück, wenn es hinreichend Kapazität in den Häfen gibt.«
Gontard schaute über das Bassin. Zwei, vielleicht drei Schleppkähne würden hier Platz finden, schätzte er. Aber bevor das Ufer wieder befestigt war, fuhr sicher kein Schiff durch diesen Kanal, geschweige denn in dieses Bassin.
»Wann ist das Unglück passiert?«, fragte Gontard.
»Vielleicht gestern Abend oder nach dem Gewitter in der Nacht«, sagte Häußler. »Mein Geselle hat den Erdrutsch heute Morgen entdeckt.«
»Ich brauche Proben von allem. Da lernen meine jungen Offiziere in der Ingenieurschule gleich, welche Probleme ihnen später bei den Pioniertrupps unterkommen können. Bringen Sie etwas von da vorn«, Gontard zeigte zum Anfang des Erdrutsches im Kanal und wies dann mit der Hand in das Bassin hinein, »und auch von dort hinten!«
»Wir haben natürlich schon Untersuchungen angestellt«, sagte Häußler. »Ich glaube nicht, dass Sie etwas Ungewöhnliches finden werden.«
Lenné tippte Häußler an die Schulter und zischte: »Es sind nicht einmal mehr zwei Wochen, dann sollen hier Schiffe fahren. Sie werden Herrn Oberst-Lieutenant von Gontard auf jede erdenkliche Art und Weise unterstützen!«
Häußler winkte seine Gesellen herbei und wies sie an, die Bodenproben zu nehmen. Dann sagte er zu Gontard: »Wir haben nur an dieser Stelle des Kanals derartige Schäden an der Befestigung. Ich kann mir dieses Malheur nicht erklären.«
Gontard schaute den Bärtigen an. Häußler hielt seinem Blick stand. Dabei sah er aus wie einer, der genau weiß, dass die Sache schlecht für ihn steht – wie einer, der mit der Schatztruhe unterm Arm neben einer verlassenen Postkutsche steht und behauptet, er sei zufällig vorbeigekommen.
»Meista Häußla! Kieken Se ma, hier blubbat wat!« Einer der Gesellen rief vom Bassinufer herüber. Seine Stimme klang so, als würde er die Worte vor Schreck herauspressen. Gontard sah hinüber – der Junge zählte sicher noch keine achtzehn Jahre und zitterte am ganzen Leib.
Häußler eilte zu seinem Stift, Lenné und Gontard folgten ihm. Der Junge stand inzwischen wie versteinert am abgerutschten Erdreich und blickte auf das Wasser. Dort zerplatzten faustgroße Blasen.
Häußler trat mit einer Stiefelspitze ins Wasser. Ein paar sanfte Wellen waberten vom Ufer weg. Aus der braunen Brühe stiegen weitere Blasen auf, die wie Pusteln zerplatzten. Der Baumeister nahm eine Gerte, beugte sich zum Wasser und rührte darin herum. Dann winkte er. »Schauen Sie sich das an!«, rief er.
Gontard guckte Häußler über die Schulter und sah, wie er mit der Rute gegen einen Stiefel tippte. Die Spitze wuchs aus der Brühe hervor. Zwischen den Nägeln hatte sich die Sohle beinahe aufgelöst, der Schuh schien schon eine Weile in der trüben Soße zu liegen.
Häußler stichelte mit der Gerte am Schaft herum, offenbar wollte er den alten Treter aus dem Gewässer fischen. Doch der Stiefel schien festzuhängen. Dafür stieg ein neuer Schwall Blasen aus dem Wasser auf.
»Nun hilf mir doch!«, rief Häußler seinem Gesellen zu. Der Junge brach einen Ast aus einem Gestrüpp und zerrte ebenfalls an der Stiefelspitze herum. Die Brühe waberte, und ein Stück Stoff kam an die Oberfläche. Am Ende des Stoffes erschien eine Art Wurst … Sollte das ein Finger sein? Die Haut spannte, als hätte jemand zu viel Fleisch hineingestopft. Noch ein Finger tauchte auf, dann noch einer – da schwamm eine Hand!
Der Geselle schrie wie ein Mädchen, dem jemand unter den Rock griff. Dabei sprang er rückwärts die Böschung hinauf, bis er stolperte, abrutschte und ins Wasser plumpste.
Neue Blasen blubberten aus der Brühe.
»Führ nicht so einen Tanz auf! Pack lieber mit an!« Häußler hob die Hand gegen seinen Gesellen, um seine Worte mit einer Ohrfeige zu unterstreichen.
Der Junge hielt den Unterarm schützend vor sein Gesicht und rief eilig: »Natürlich, Meista!« Er stand auf, griff nach dem Stiefel und zog. Ein Bein in grobem Leinen kam zum Vorschein. Der Geselle zerrte am Stiefel herum, drehte ihn nach rechts nach links, zog. Dabei klatschte der Stoff aufs Wasser. Die Brühe spritzte bis zu Gontard.
Häußler fluchte und packte den Stiefelschaft. Der nächste Ruck wirkte. Meister und Geselle sausten mit dem Hosenboden in den Schlamm der abgerutschten Böschung. Beide schwiegen – genau wie Gontard, Lenné und der herbeigeeilte zweite Geselle. Der Anblick der Wasserleiche verschlug ihnen die Sprache. Der Bauch war aufgebläht wie ein Ballon. Darüber klaffte in der linken Brust eine tellergroße Wunde. Die Innereien, die daraus hervorquollen, sahen aus wie vergammelte Wurst. Vom Kopf ragte nur das Gesicht aus der Brühe – oder genauer gesagt, was davon übrig war. Aus den Augenhöhlen wanden sich Aale und glitten zurück ins Wasser. Die Fische hatten den Schädel bis zu den Wangenknochen abgeknabbert. Erst über der Stirn hing die Haut in Fetzen auf den Knochen.
Der Geselle stürzte die Böschung hinauf und übergab sich.
Gontard hatte den Waffenrock geöffnet und die Pickelhaube an der Pferdetränke abgelegt. Die Augusthitze drückte auf die Berliner Wiesen, die Brühe im Kanal kühlte das Ufer kaum. Vor über zwei Stunden hatte Meister Häußler seinen Gesellen mit dem Gaul losgeschickt, um Criminal-Commissarius Waldemar Werpel über den Leichenfund zu informieren. Nun endlich näherten sich zwei Pferde über die Wiesen – im lockeren Trab. Gontard wusste, dass Werpel bei einer Verfolgungsjagd zu Pferde kaum eine Frau im Damensattel einfangen könnte, doch in dieser Hitze erschien ihm die Trippelei von Werpels Mähre beinahe wie eine Provokation. Gontard hatte zwar seine Lehrveranstaltungen am Vormittag hinter sich gebracht, und die Arbeit im Labor konnte er auch morgen fortsetzen, aber er hatte allemal etwas Besseres zu tun, als hier in der Hitze auf einen Polizeibeamten zu warten.
Lenné guckte ebenfalls empört zu den beiden Reitern, das sah Gontard aus dem Augenwinkel. Häußler sprang auf und brüllte seinem Gesellen eine Schimpftirade entgegen. Der Baumeister war aus gutem Grund ungeduldig. Er hatte mit seinem zweiten Gesellen den Leichnam aus dem Bassin geborgen, von Getier befreit und mit einer Plane abgedeckt. Nun standen die Handwerker neben dem Toten und achteten darauf, dass die Decke nicht von einer der raren Brisen davongeweht wurde.
Häußler fuchtelte mit den Händen herum und rief etwas von einer Abreibung. Tatsächlich beschleunigte der Geselle sein Pferd. Auch Werpels Gaul verfiel in leichten Galopp. Offenkundig ohne Befehl seines Reiters, denn der Criminal-Commissarius klammerte sich an die Zügel wie ein Schiffbrüchiger an eine Planke.
Der Geselle band sein Pferd an der Tränke fest und kam herbeigeeilt. Werpel brauchte eine Weile, um aus dem Sattel zu steigen. Auf wackeligen Beinen verharrte der Criminalbeamte für ein paar Augenblicke an den Zügeln seines Gauls. Das ausgesprochen gutmütige Exemplar eines Reittieres schien mit dem dicken Commissarius Mitleid zu haben und ihn zu stützen, bis er wieder allein stehen konnte.
»Hier liegt der Tote!«, rief Häußler dem Commissarius entgegen.
»Ja, ja.« Werpel trottete herbei, besonders eilig schien er es weiterhin nicht zu haben. »Haben Sie gut auf das Corpus Delicti aufgepasst?«
»Schon seit mehreren Stunden!« Häußler sagte das so vorwurfsvoll, als habe er den Leichnam mit dem Schwert gegen Piraten verteidigen müssen.
»Wir werden noch eine Weile hierbleiben müssen.« Werpel japste schon nach den paar Schritten. »Die Männer mit dem Leichenwagen brauchen noch etwas für die Anreise.« Der Leichenwagen wurde im Volksmund »der Nasenquetscher« genannt, da seine Fracht im wahrsten Sinne des Wortes gegen den Wind roch. Die Karre würde kaum bis hierher fahren können, dachte Gontard. Sicher mussten die Kerle den Leichnam mit der Bahre über das tiefe Gras bis vor zur Straße schleppen. Das konnte seine Zeit dauern.
»Was machen Sie denn schon wieder hier, Herr Oberst-Lieutenant?«, fragte Werpel. »Kann ich nicht einmal eine Leiche finden, ohne Sie anzutreffen?«
»Ich stehe eigentlich Herrn Lenné in physikalischen Fragen zur Seite. Auf Befehl von ganz oben, Herr Commissarius.«
»Physikalische Fragen«, maulte Werpel. »Ausgerechnet hier?«
»Nun, mein Herr, wie Sie vielleicht sehen, haben wir ein Problem, das über ein Einzelschicksal bei weitem hinausgeht.« Lenné wies zum Erdrutsch. »Ich bin sicher, Sie werden uns bald wieder unserer Arbeit nachgehen lassen.«
»Aber natürlich, Herr Lenné. Sobald es meine Ermittlungen in Bezug auf ein mutmaßliches Kapitalverbrechen erlauben, können Sie sich wieder Ihren Angelegenheiten widmen.« Werpel schien vor Lenné und seinen bekanntermaßen hervorragenden Beziehungen zum preußischen Thron keinen besonderen Respekt zu haben.
Vielleicht fehlte dem Königlichen Gartendirektor der Adelstitel, mutmaßte Gontard. Er schaute zu Lenné. Das Gesicht des Stadtplaners sah aus, als sei es mitten im Sommer eingefroren. Die Pockennarben wirkten noch tiefer. Wie bei vielen Männern bekam Lennés Gesicht durch den harten Blick etwas Furchterregendes, und mit wachsendem Zorn sank die Attraktivität.
Gontard grinste Werpel an. Der Commissarius winkte ab. Er beugte sich zum Leichnam, hob die Decke an und sagte: »Igitt!«
»Das kann man wohl sagen«, entgegnete Häußler.
»Wissen Sie, wer das ist? Oder besser, wer das mal war?«, erkundigte sich der Polizist.
»Wir haben das hier in seinem Wams gefunden.« Häußler reichte dem Commissarius eine kunstvoll verzierte Dose aus Metall.
Werpel öffnete die Dose und nahm ein paar zusammengepappte Karten heraus – es waren Visitenkarten, wie ein Besucher sie dem Dienstpersonal feiner Herrschaften zu seiner Vorstellung übergab. Die Karten hatten Wasser abbekommen, aber Gontard konnte die Aufschrift selbst über Werpels Schulter noch deutlich erkennen:
CORNELIUS FÜRCHTEGOTT PUCH – Privat-Secretär Schriftstücke für alle Lebenslagen – Bittschriften, Eingaben, Beschwerden, Empfehlungen, Gratulationen, Briefe usw.
wie auch GELEGENHEITSGEDICHTE
»Ich denke, ich habe Herrn Puch schon einmal gesehen. Bei der Familie von Traunstein.« Lenné sprach in einem feierlichen Ton. »Sehr vornehme Herrschaften, die Traunsteins, und ausgesprochen kunstsinnig. Puch hat für Herrmann von Traunstein Correspondenzarbeiten erledigt.« Der Gartendirektor blickte den verdeckten Leichnam an und fuhr fort: »Von der Größe her könnte es sich durchaus um diesen Puch handeln.«
Paul Quappe schmierte Wurst auf seine Brotscheibe. Wie gut es ihm doch hier ging! Bei den Gontards gab es mitten in der Woche Wurst. Das wäre zu Haus bei seinen Eltern in Schönschornstein unvorstellbar.
Ferdinand von Gontard saß ebenfalls am Tisch in der Dienstküche. Der Sohn der Familie hatte bei der Mutter so lange gebettelt, bis er sein Abendbrot schon jetzt nehmen durfte. Quappe hatte den Jungen gern um sich. Seit zwei Jahren wohnte Quappe nun schon als Bursche des Oberst-Lieutnenant von Gontard in der Kammer unter dem Dach, und mit dem Sohn des Hauses verstand er sich gut.
Der Oberst-Lieutenant war noch einmal außer Haus gegangen. Wegen des Mordes, das wusste Quappe. Der Herr hatte es ihm selbst erzählt. Die Stulle schmeckte vorzüglich. Quappe musste aufpassen, dass er das leckere Essen nicht hinunterschlang. Er kaute noch einmal und biss dann erneut ab. Auch Ferdinand futterte, als habe er den ganzen Tag noch nichts bekommen. Dabei hatte es bei den Gontards natürlich ein üppiges Mittagsmahl gegeben.
Quappe merkte, wie der erste Hunger nachließ. Er kaute langsamer und sagte: »Se wern nich globn, junga Herr, et jibt schon widda nen Mord. Herr Oberst-Lieutenant tut höchstselbst amitteln. Vonne Jenaralmajor von Schnöden hatta schon de Jenehmijung für dit Janze.«
»Vater?«, fragte Ferdinand mit vollem Mund.
»Janz jenau, Ihr Herr Vata. Da kann da Strolch sich schon ma warm anziehn!«
Ferdinand biss von seiner Stulle ab und sah Quappe mit großen Augen an. »Wird das gefährlich?«, fragte er ihn.
»Na, janz sicha! Mit Mördan is bekanntamaßn nich zu spaßn.«
»Oh«, erwiderte Ferdinand und klang dabei, als stünde er selbst unmittelbar vor einem großen Abenteuer, »dann werden Sie wohl dem Mörder auch begegnen.«
»Ditte kann wohl sein.« Quappe schaffte es noch, die Worte voller Inbrunst herauszuposaunen, bevor die Luft knapp wurde. Jetzt hatte er eher das Gefühl, als wüchse ein Pfropfen in seinem Hals. Daran hatte er noch gar nicht gedacht: Würde er in Gefahr geraten? Sein Herr war ein Offizier, erprobt im Kampf und bedrohliche Situationen gewohnt. Aber er war doch nur ein junger Bursche – und wollte noch nicht sterben. Am liebsten hätte Quappe wieder in Schönschornstein in der elterlichen Kate gesessen. Selbst die Stulle auf dem Teller vor ihm schien ihren Geruch verloren zu haben.
»Das ist bestimmt sehr aufregend für Sie«, sagte Ferdinand.
»Hm.«
»Wenn ich mir das vorstelle: Sie treiben einen Bösewicht in die Enge, bis er gar nicht mehr ein noch aus weiß. Und dann kommt es zu einem großen Kampf.«
Das wollte sich Quappe lieber nicht vorstellen. Er verwickelt in einen Kampf gegen das Böse. Das wäre ja wie in den Märchen, die Großmama früher erzählt hatte. Aber er war doch kein mutiger Prinz … Ihm fehlte sogar das Talent von Till Eulenspiegel, immer wieder den Hals aus der Schlinge zu ziehen. Obwohl er alle Geschichten des berühmten Narren aus seiner Kindheit noch auswendig kannte.
»Und dann werden Sie meinem Vater beweisen, dass mehr in Ihnen steckt als ein einfacher Bursche.«
Bestimmt war da mehr in ihm. Aber ganz sicher kein übermütiger Held. Quappe dachte an die letzten Jahre. Er hatte bereits etliche Mutproben absolviert: den Hund vom Nachbarn abgelenkt und Eier aus dem Stall stibitzt, Kartoffeln vom Feld geklaut und so weiter. Das reichte doch wohl, oder? Und um den Mörder kümmerte sich der Oberst-Lieutenant ohnehin lieber selbst. Der Herr weilte auch bei seinem Termin allein und ließ ihn hier in Ruhe essen. Es bestand kein Grund zur Sorge.
»Sie wissen bestimmt alles über den Mordfall«, sagte Ferdinand mit Trotz in der Stimme. Oder war es Neid?
»Ditte kann man sagn. Aba ick darf nix varatn.« Quappe legte den Zeigefinger über seinen Mund, um seine Verschwiegenheit zu verdeutlichen. Ein bisschen Übertreibung konnte nicht schaden, fand er.
»Ach, Herr Quappe«, bettelte Ferdinand, »auch ich kann schweigen wie ein Grab.«
Quappe biss in die Stulle und schwieg. Sicher konnte er dem jungen Herrn ein paar harmlose Geschichten erzählen. Aber erst mal würde er ihn noch ein bisschen schmoren lassen. Dann hatte Ferdinand sicher das Gefühl, in seiner Schuld zu stehen. Daraus ließ sich bestimmt irgendwann ein Gewinn ziehen.
»Ach bitte, Herr Quappe!«, quengelte Ferdinand.
»Na ja, also, dit ist so …« Um genau zu sein, wusste Quappe nicht allzu viel. Aber musste er das dem Jungen auf die Nase binden? Nein, ein bisschen Phantasie konnte nicht schaden. Quappe sagte: »Da Herr Oberst-Lieutenant hat ’n Totn mit den eijenen Händen ausm Wasser jezogn.« Ferdinand schlug die Hand vor den Mund. Der Junge hielt den Atem an, als Quappe von dem Leichnam erzählte. Wie blau der gewesen sei! Wasserleichen waren doch bestimmt blau … Und Blasen schlug deren Haut sicher auch …
»Ich glaube, ich höre nicht recht!« Henriette von Gontard stand in der Küche. Sie rief: »Herr Quappe! Sie hören sofort auf mit dem Unsinn!« Die Frau des Hauses kam mit erhobener Hand um den Tisch gelaufen. »Sie machen den Jungen ganz kirre. Was denken Sie sich dabei?« Sie stand nun neben Quappe.
Im nächsten Augenblick spürte er die Ohrfeige. Es klatschte auf seine Wange, noch bevor er eine schützende Handbewegung hinbekam.
»Aber Mama …« Ferdinand klang so entsetzt, als hätte er selbst die Maulschelle erhalten.
Henriette von Gontard drehte sich zu ihrem Sohn und zischte: »Du, Ferdinand, gehst auf dein Zimmer! Und zwar sofort!«
»Ich brauche dringend Ablenkung von dem Elend mit der Cholera in meiner Praxis«, sagte Dr. Friedrich Kußmaul.
»Beschreib mir noch einmal die Wunde deines Mordopfers!«
»Du bist der Mediciner«, entgegnete Gontard seinem Freund. »Ich kann dir nur sagen, dass da ein großes Loch war.«
»Von einem Schuss aus einem Fusil oder von einem Dolchstoß?«
»Der Tote lag im Wasser und war völlig aufgeschwemmt. Als wir ihn herausgefischt haben, war das Loch ganz schön groß.«
Kußmaul nahm seine Kuchengabel und schaufelte ein Eckchen der Sahnetorte darauf. Während er die Süßspeise zum Mund führte, sagte er: »Wasserleichen sind besonders eklig. So möchte man nicht tot sein.« Die Gabel verschwand im Mund.
Gontard wusste in diesem Augenblick nicht, ob er seinen Freund bewundern oder bemitleiden sollte. Ein Leichnam rief bei Kußmaul offenkundig keine Reaktion mehr hervor. Da saß der inmitten dieser Conditorei, inmitten des Kaffee- und Kuchenduftes und plauderte beim Mampfen eines Stücks Torte über die Besonderheiten von Wasserleichen …
Der Mediciner hob die Gabel und sagte: »Bevor so einer wiederauftaucht, hat er eine Weile auf dem Grund gelegen. Das tut dem Teint nicht gut, haha!«
»Ach so? Wie lange?« Gontard konnte es kaum fassen, aber Kußmaul hatte schon das nächste Stückchen Torte im Mund.
Der Mediciner schluckte und antwortete: »Ein paar Tage, je nach Wetter, jetzt im Sommer vielleicht zwei bis drei.«
»Dann ist der Mann vielleicht am Dienstag ermordet worden.«
»Das könnte wohl sein. Oder vielleicht schon am Montag oder am Sonntagabend.«
Gontard lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Das Holz knarzte. Er sagte: »Ich weiß einfach zu wenig. Kannst du dir die Leiche nicht einmal anschauen?«
Ein Gruppe Herren mittleren Alters in Uniformen polterte durch den Gastraum. Die Männer ließen sich am Nebentisch nieder und riefen umgehend den Ober herbei.
Kußmaul beugte sich nach vorn und zischelte: »Vielleicht reden wir bei einem Spaziergang weiter.«
Gontard guckte zum Nebentisch. Die Offiziere schienen ihm zwar etwas grobschlächtig zu sein, aber harmlos. Kußmaul legte jedoch bereits seine Thaler auf den Tisch und nahm den Gehrock und den Stock vom Ständer. Der Mediciner schien es eilig zu haben und lief schon zur Tür – so schnell, als sei er auf der Flucht. Gontard warf seinen Waffenrock über und folgte ihm. In der Gaststube kümmerte sich niemand um den Mediciner. Die Offiziere lachten, vielleicht über einen Witz. Andere Gäste schüttelten den Kopf über die Krawallbande, allerdings sagte keiner etwas.
Vor der Tür röstete die Abendsonne den Staub vom Pflaster. Kußmaul schritt das Trottoir ab, als müsse er eine unsichtbare Grenze überschreiten, bevor er Ruhe für ein Gespräch fand. Er überquerte den Gensdarmen-Markt und trat in den Schatten der Französischen Kirche.
Gontard schloss auf und fragte: »Was ist nur in dich gefahren, verehrter Freund?«
»Ich fürchte, du hast uns da etwas eingebrockt.«
»Uns etwas eingebrockt? Ich?« Gontard hörte die Worte, über ihre Bedeutung gab es keinen Zweifel. Und doch wusste er nicht im Entferntesten, was Kußmaul damit meinte.
»Ach, alter Freund …« Kußmaul blieb endlich stehen und drehte sich zu Gontard herum. »Wolltest du wirklich vor diesen Offizieren deinen Fall ausbreiten?«
»Das waren doch nur ein paar pommersche Waldschrate. Sie waren laut, sind aber sicher nicht unbedingt die … Aufmerksamsten.« Gontard legte die Hand auf die Schulter des Freundes. »Die hätten unsere Worte vermutlich weder gehört noch verstanden.«
Kußmaul seufzte und wies in Richtung der Linden. Sie spazierten los. In der Stadt wimmelte es von Menschen. Die Arbeiter kamen von den Baustellen, aus Manufacturen oder Fabriken. Kolporteure boten Schund und Plunder feil, Waschweiber schleppten Körbe. Feine Herrschaften widmeten sich dem Abendamüsement. Über das Pflaster donnerten Kutschen und Pferdeomnibusse. Gontard fand es absurd, dass sie ausgerechnet in diesem Gewühl von Passanten ungestört blieben. Zwar schlichen auch seltsame graue Gestalten durch das Gewimmel, aber die waren sicher auf dem Weg in die Caféhäuser und Salons der Stadt. Denn hier draußen kümmerte sich jeder um sich selbst und um nichts anderes.
»Was, sagtest du, war der Verblichene vom Berufe?«, fragte Kußmaul laut.
»Privat-Secretär bei einem Adligen, von Traunstein heißt der. Warum fragst du?«
»Ein bürgerlicher Schreiberling also.« Kußmaul hob die Hand und fächelte sich Luft ins Gesicht. »Riechst du da nicht den Ärger, der auf dich zukommt? Auf uns?«
»O Freund, du siehst ja Gespenster!«
Kußmaul schnaufte. »Es ist gerade mal zwei Jahre her, dass wir auf den Barrikaden standen, bis der dicke König seinen Hut vor dem Pöbel gezogen hat. Und schau dich um! Die ganze Stadt ist voller Spitzel. Die Vogtei platzt aus allen Nähten, und dabei sind viele außer Landes gegangen. Ich sehe also Gespenster?«
Der Mediciner hatte wohl recht, dachte Gontard, Preußen war derzeit nicht gerade ein Schlaraffenland für Freigeister. Und ohne Frage führte der Freund seine Reden über Friedrich Wilhelm I V. besser nicht in Hörweite pommerscher Offiziere. Gontard sagte: »Es ist erst einmal nur eine Leiche im Landwehrkanal. Und ich will doch lediglich wissen, woran der Mann gestorben ist.«
Kußmaul seufzte. »Ich weiß, dass ich dich nicht zurückhalten kann, wenn du eine Leiche gefunden hast. Ich sehe mir den Knaben an. Hoffentlich gibt das keine Scherereien!«
Tagebucheintrag No. 1, 22. August 1850
Drei Tage sind nun schon vergangen. Drei Nächte ohne Schlaf. Ich bin müde. Ständig fallen meine Augen zu. Doch dann bin ich sofort wieder hellwach. Und ich sehe immer wieder dieses Bild: Der Mann fällt.
Dabei geht es mir gut. In der Schreibstube hat keiner etwas bemerkt. Da bin ich sicher. Die anderen Herren, etwa in den Amtsstuben, begegnen mir mit der Gemächlichkeit der Augusttage. Da falle ich auch todmüde nicht auf. Ich sitze an meinem Secretär und kümmere mich um die Correspondenz. Leider lenkt mich das kaum ab. Immer wieder gerate ich in Gedanken. Und ich sehe den Mann fallen.
Am Nachmittag verlasse ich das Bureau und weiß nichts mit mir anzufangen. Ich könnte ein Buch lesen, eine Ausfahrt mit dem Pferdeomnibus machen, in ein Caféhaus gehen. Aber nein. Ich schleppe mich zum Thiergarten. Es dämmert schon, und kaum jemand ist hier. Wahrscheinlich sind alle schon zu Hause oder in der Gastwirtschaft. Ich spaziere durch die Auen, aber es hilft nichts. Die Ruhe ist noch schlimmer als das Treiben in der Stadt. Nun ist Abend, und ich sehne den Morgen herbei.
Es ist schon seltsam. Ich habe Hunderte von Menschen sterben sehen. Ach was, Tausende. Damals bei Waterloo. 35 Jahre ist das her. Wir haben den Franzmännern eingeheizt. Die sind umgefallen wie die Fliegen. Ich weiß noch, wie das gestunken hat. Die ganzen Leichen haben angefangen vor sich hin zu modern. Natürlich sind auch ein paar von unseren treuen Kameraden auf dem Feld geblieben. Wir haben getrauert. Und wenn ich jetzt daran denke, fallen mir auch die schrecklichen Bilder ein. Abgeschlagene Gliedmaßen und Köpfe. Aufgeschlitzte und zerrissene Körper. Doch ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, so durcheinander gewesen zu sein wie heute im Thiergarten. Wegen einem Mann.
Vielleicht sind tausend Tote leichter erträglich als ein einzelner. Die Franzmänner waren uns sowieso egal. Da haben wir bei jedem Kadaver gejubelt. Aber auch bei unseren Toten konnten wir uns nicht lange mit der Trauer aufhalten. Kaum gedachten wir eines gefallenen Kameraden, blieb der nächste auf dem Feld. Eine alltägliche Tragödie. Bittere Rituale.
Ein paar zarte Geister haben das natürlich nicht vertragen. Erst sind sie still geworden, haben nicht mehr gesprochen. Dann nicht mehr gekämpft. Sie sind aufs Schlachtfeld geschlichen wie alte Männer. Zumeist mussten wir bald ihrer gedenken.
Auch ich habe schlechte Erinnerungen aus dem Krieg mit nach Hause gebracht. Die jedoch kamen mir selten und unvermittelt in den Sinn. Manchmal in der Nacht. Dann habe ich mir klargemacht, dass ich auf der richtigen Seite stand. Ich habe getan, was getan werden musste. Das Richtige.
Das sage ich mir auch heute: Ich habe vor drei Tagen das Richtige getan! Daran kann es keinen Zweifel geben. Und wenn der Kerl noch hundert Mal vor meinem inneren Auge zu Boden stürzt. Der ist doch selbst schuld.
Ja, ich habe abgedrückt. Ich habe auf sein Herz gezielt, und allem Anschein nach habe ich getroffen. Aber ich wäre doch niemals ohne Grund an diesen gottverlassenen Ort vor den Thoren der Residenzstadt geritten. Und ich schieße auch nicht ohne Sinn und Verstand auf Menschen.
Was hat dieser Puch sich gedacht? Dass er den Herrn über meine Zukunft spielen darf? Dass ich zusehe, wie er meinen Ruf zerstört? Mein Leben verpfuscht? Nein, ich habe das Recht, mich zu verteidigen. Wenn nötig, auch mit der Waffe in der Hand. Da sei der Herrgott mein Richter – ich habe nur getan, was ich tun musste. Wie auf dem Schlachtfeld.
Immerhin habe ich jetzt ein wenig zur Ruhe gefunden. Ich werde zu Bett gehen und schlafen. Das mit dem Tagebuch führe ich fort. Gleich morgen. Bis dahin habe ich eine Nacht vor mir. Den Schlaf eines Gerechten. Denn der bin ich. Soll der Mann doch ins Wasser fallen, wie er will.