Buch lesen: «Operation Werwolf - Fememord»

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Uwe Klausner

Operation Werwolf – Fememord

Kriminalroman


Zum Buch

Lynchjustiz Bei der Jagd nach dem »Werwolf«, einem der berüchtigtsten Serientäter in der Kriminalhistorie der Stadt, stößt Tom von Sydow, Kommissar bei der Mordinspektion Berlin, auf die langersehnte heiße Spur. Dass er selbst damit in Gefahr gerät, wird dem Ermittler jedoch bald klar. Stellt sich doch heraus, dass es sich bei dem »Phantom der S-Bahn« um ein Mitglied der SS handelt, dessen Verbindungen bis in höchste Kreise reichen. Eine Erkenntnis, mit der sich Sydow bei seinen Vorgesetzten keine Freunde macht – und die dazu beiträgt, dass er und sein Partner Kalinke ins Visier des allmächtigen Sicherheitsapparates geraten, allen voran Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamts und Himmlers rechte Hand. Gerade Ersterer, Herr über ein weitverzweigtes Spitzelsystem und Architekt der »Endlösung der Judenfrage«, lässt nichts unversucht, um den unbequemen Quertreiber auszuschalten – und dies mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Ein ungleiches Duell, bei dem Sydow denkbar schlechte Karten zu besitzen scheint …

Uwe Klausner wurde in Heidelberg geboren und wuchs dort auf. Sein Studium der Geschichte und Anglistik absolvierte er in Mannheim und Heidelberg, die damit verbundenen Auslandsaufenthalte an der University of Kent in Canterbury und an der University of Minnesota in Minneapolis/USA. Heute lebt Uwe Klausner mit seiner Familie in Bad Mergentheim. Neben seiner Tätigkeit als Autor hat er bereits mehrere Theaterstücke verfasst, darunter »Figaro – oder die Revolution frisst ihre Kinder«, »Prophet der letzten Tage«, »Mensch, Martin!« und erst jüngst »Anonymus«, ein Zweiakter über die Autorenschaft der Shakespeare-Dramen, der 2019 am Martin-Schleyer-Gymnasium in Lauda uraufgeführt wurde.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Willy Pragher, Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Freiburg, W 134 Nr. 009499b

https://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=5-727030-1

ISBN 978-3-8392-6968-8

DIE BERLINER S-BAHN 1931


DRITTES BUCH


Fememord

»Die Nazi-Partei duldete keine kriminellen Banden neben sich. Sie machte Berlin zur Kommandozentrale von Verbrechen einer ganz neuen Dimension: der staatlich gedeckten Entwürdigung, Freiheitsberaubung, Ausplünderung und Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen.«

(Michael Bienert / Elke Linda Buchholz, Die Zwanziger Jahre in Berlin. Ein Wegweiser durch die Stadt, Berlin 2018, S. 255)

FIKTIVE CHARAKTERE

(alphabetisch, Teil I–III)

Elsa Bruckmann, Schülerin

Paul Derpa, Revierleiter

Paul Hanke, Polizeibeamter

August Henschel, Justizoberrat

Erich Kalinke, Kriminalassistent und Sydows rechte Hand

Hertha Krause alias ›Bijou‹, Animierdame im Tanz-Kabarett »Kakadu«

Max Jakubeit, Unterscharführer des SD der SS

Rudolf Lehmann, Kriminalhauptsekretär der Gestapo

Emil Leschek, genannt Hantel-Emil, Türsteher im Tanz-Kabarett »Kakadu«

Brad Macintosh alias Mark Cameron, Redaktionsleiter der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin

Jacques Mannsdörfer, Pathologe

Jens Marquardt, Internist

Erna Mentzel, Hausverwalterin

Hagen Mertz, Kriminalobersekretär der Gestapo

Eberhard Michalski, Kriminalassistent und stellvertretender Leiter der Spurensicherung

Adele Mürwitz, Pensionärin

Adolf Peschke, Frührentner

Erna Pommerenke alias »Tante Lola«, Grande Dame der Berliner Halbwelt

Karl Prittwitz, Oberbahninspektor

Mira Schultz, Personalsachbearbeiterin beim RSHA

Friedbert Schultze-Maybach, Sydows Vorgesetzter und Leiter der Kriminalgruppe M der Kripo Berlin

Ava Schumann, Revue-Tänzerin

Tom von Sydow, Kommissar der Mordinspektion Berlin

Ida Varese, Ehefrau des italienischen Botschafters

Theodor Wattke, Leiter der Spurensicherung

Bodo Wilmers, Chefarzt

Heinz Wischulke, Sanitätsgefreiter

REALE CHARAKTERE

(alphabetisch)

Reinhard Heydrich (1905–1942), Chef des RSHA

Heinrich Himmler (1900–1945), Reichsführer-SS, Reichsinnenminister und Chef der Deutschen Polizei

PROLOG
FREITAG, 4.7.1941

1

Berlin-Friedrichshain, Betriebsbahnhof Rummelsburg

14:00 Uhr

Angst vor dem Dunkeln, in deinem Alter.

Wenn deine Freundinnen davon erfahren, die lachen dich aus.

Du bist doch schon sieben, Elsa. Schluss mit dem Theater, ab ins Bett.

Von wegen Theater. Die Angst vor dem Dunkeln, die sie nach dem Zubettgehen packte, für Elsa Bruckmann war sie real gewesen. Egal was ihre Eltern sagten, so sehr sie auch mahnten, drohten oder mit Engelszungen auf sie einredeten, gegen ihre Angst vor der Finsternis kamen sie nicht an.

Ob mit sieben oder siebzehn, das Problem, vor dem sie stand, war das gleiche.

Wenn es dunkel wurde, kam die Angst.

Heute, am Tag ihrer Entführung, heftiger denn je zuvor.

Fast schien es, als sei sie wieder klein, ein Mädchen von sieben Jahren, das den Umzug nach Berlin nicht verkraftet hatte. Jeden Abend war es dasselbe Theater gewesen, insofern hatten ihre Eltern recht. Kaum hatte ihre Mutter das Licht ausgeknipst, verschwand sie auch schon unter der Decke. Fest zusammengekauert, um sich die Ausgeburten der Fantasie vom Leib zu halten.

Vergeblich.

Die Finsterlinge, die in ihrem Kinderzimmer auf der Lauer lagen, in Elsas Augen waren sie aus Fleisch und Blut, wie frisch aus den Dreigroschenheften, die ihr Bruder Alfred heimlich las. Die Schritte ihrer Mutter waren noch nicht verhallt, da standen sie auch schon neben ihrem Bett, an der Spitze Graf Dracula und der Golem, gefolgt von Nosferatu, der danach lechzte, ihr das Blut aus dem schweißgebadeten Körper zu saugen. Doktor Mabuse, Gestaltwandler und Finsterling in einer Person, durfte im Reigen der Schreckensgestalten nicht fehlen, mit Doktor Frankenstein, dessen Blick sie vollends in Panik versetzte, als schaudererregendem Finale.

Doch dann, vor etwa drei, vier Jahren, war der Spuk auf einmal vorbei gewesen, zur Erleichterung ihrer Eltern, die geglaubt hatten, sie sei nicht mehr ganz richtig im Kopf. Im Rückblick hatte sich die Sorge als unbegründet erwiesen, und wie um sie Lügen zu strafen, wurde eine intelligente und ansehnliche junge Frau aus ihr. Keck, adrett und mit auffallend dunklem Teint. Ein echter Hingucker, da waren sich die Nachbarsjungen einig. Doch waren es nicht nur sie, die ihr schmachtende Blicke hinterherwarfen, sondern auch Männer im fortgeschrittenen Alter, weit jenseits der 20 und absolut nicht nach ihrem Geschmack. Letztendlich war sie ja erst 17, und was ihre Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht betraf, da war außer Händchenhalten nicht viel gewesen.

Bis gestern, als Elsa in die Fänge eines Monstrums geriet.

Eines Verbrechers, wie ihn Berlin bis dato nicht gekannt hatte.

Frauenschänder, Phantom, Frankenstein von Friedrichshain, Unhold, S-Bahn-Mörder, Werwolf: Die Prädikate, mit denen man ihren Peiniger bedachte, sie waren so zahlreich wie die Verbrechen, deren man ihn bezichtigte. Offiziell wurde nicht viel darüber verlautbart, aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Je länger die Polizei im Dunkeln tappte, desto zahlreicher und fantasievoller die Berichte, die hinter vorgehaltener Hand kursierten.

Fünf Morde, und das innerhalb weniger Monate, einer widerwärtiger als der andere. Genug, um die Stadt in Angst und Schrecken zu versetzen. Genug auch, um ihre Eltern in Wachhunde zu verwandeln und sie mit Ermahnungen zu traktieren, bis sie Kopfweh davon bekam. Hätten Vater und Mutter gewusst, dass sie mit dem Bruder ihrer besten Freundin durch den Lunapark gebummelt und zuvor sogar schon mehrfach Eis essen gegangen war, zwei Wochen Hausarrest wären das mindeste gewesen, das ihr blühte.

In Ermangelung von Fakten waren die Gerüchte über den Werwolf nur so ins Kraut geschossen, und wie nicht anders zu erwarten, liefen die Märchenerzähler zur absoluten Höchstform auf. Das Wenige indes, was an harten Fakten durchsickerte, war so schrecklich, das sich einem auf Anhieb die Nackenhaare sträubten.

Fünf Bluttaten, mit Betonung auf der ersten Silbe, die Opfer zumeist Frauen aus einfachen Verhältnissen, begangen an der Strecke zwischen Erkner und dem Ostkreuz, just die Gegend, wo sie mit Vorliebe unterwegs gewesen war. Sei es bei Freundinnen, sei es bei ihrer Tante, die, wie der Zufall es wollte, eine Datsche in der Kolonie Gutland II besaß. Nach Bekanntwerden der Tatorte, die allesamt in der näheren Umgebung lagen, hatte sie sich jedoch rargemacht, insbesondere bei Nacht, wenn Verdunkelung angeordnet wurde. Spätestens um sechs, so lautete das eherne Gesetz, musste sie wieder zu Hause sein, auf Anordnung ihres gestrengen Vaters, für den Pünktlichkeit an oberster Stelle stand.

Wehe, sie kam auch nur eine Minute zu spät, dann konnte sie was erleben. Der Herr des Hauses, Ortsgruppenleiter der NSDAP in Karlshorst, verstand in puncto Amüsement keinen Spaß, anders als ihre Mutter, die bereit war, hin und wieder mal ein Auge zuzudrücken. Für eine 17-Jährige nicht unbedingt das, was sie sich vom Leben erhoffte, aber eine Situation, mit der sie wohl oder übel leben musste. Und die sie in Kauf zu nehmen hatte, allen Bitten ihres Freundes zum Trotz, doch ein paar Minuten länger mit ihm durch den Tiergarten zu spazieren.

Es geschah am gestrigen Donnerstag, als sich ihr Weg mit demjenigen des Serienmörders kreuzte.

Mit desaströsen, um nicht zu sagen alptraumhaften Folgen.

Von da an, seit gestern Abend Schlag sieben Uhr, als er in der S3 nach Erkner über sie herfiel, war nichts mehr so gewesen, wie es war. Das einzig Gute daran, sie war dem Werwolf um Haaresbreite entkommen. Schwer verletzt zwar und mit Blessuren am ganzen Körper, aber immerhin noch am Leben, wenngleich gegenüber früher nicht wiederzuerkennen. Das Schlimmste war nicht etwa der gebrochene Unterarm gewesen, so höllisch er auch jetzt, da sie in der Dunkelheit ihres unterirdischen Verlieses vor sich hindämmerte, noch schmerzte. Nein, das mit Abstand Widerwärtigste während der vergangenen 19 Stunden stellte für sie die Tatsache dar, dass sie ihrem Peiniger nichts entgegenzusetzen hatte, nur mehr ein hilfloses Opfer, das man nach Belieben schikanieren und erniedrigen konnte.

Und was die Polizei betraf, die Herren Beamten waren bei ihr unten durch. Da lag sie nun im Krankenhaus, schwer verletzt zwar, aber überglücklich, dem Monstrum in Menschengestalt entkommen zu sein. Im Gespräch mit einem netten Kommissar, der ihr versprach, kein Mensch werde ihr je wieder etwas tun. Der zwei Kollegen herbeibeorderte, die er anwies, ihr unter keinen Umständen von der Seite zu weichen. Der sie tröstete und ihr Mut zusprach, allen Ängsten, mit denen sie rang, zum Trotz.

Denkste.

Außer Versprechungen nichts gewesen.

Entgegen den Beteuerungen, ihr werde nicht das Geringste zustoßen, hatte der Werwolf längst ihre Witterung aufgenommen. Und hatte die Kaltblütigkeit besessen, die Polizei nach allen Regeln der Kunst an der Nase herumzuführen. Auf welche Weise, war ihr immer noch ein Rätsel.

Gerade eben noch auf der Intensivstation, um sich von der Attacke in der S-Bahn zu erholen, befand sie sich nun an einem Ort, an den sie keinerlei Erinnerung besaß. Ein Ort, an dem sie nie zuvor gewesen war, so sehr sie ihr Gedächtnis nach Erinnerungslücken durchforstete.

Ein Ort, der wie ein unterirdisches Verlies anmutete. Wären die Turbinen, deren Surren ihr wie von fern in den Ohren klang, nicht gewesen.

Und wären da nicht die Fahrgeräusche der S-Bahn, so laut, dass sie dachte, die Decke stürze ein.

Denk nach, Elsa, raunte ihr eine imaginäre Stimme zu, bald näher, bald weiter von der Stelle entfernt, wo sie in Kreuzform an die feuchte Wand gekettet worden war.

Denk nach, irgendeine Lösung muss es geben.

Fragte sich nur, welche.

Kaum fähig, sich auf den Beinen zu halten, schrie sie ihre Angst heraus. Rüttelte an den Ketten, bis ihre Haut in Fetzen hing, wie taub gegenüber den Schmerzen, die den gebrochenen Arm durchzuckten. Und ohne Rücksicht auf die Blessuren an ihrem Körper, die sie ein Lebtag lang begleiten würden, von den Schreckensvisionen, die ihr das Leben zur Hölle machten, nicht zu reden.

Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte. Wenn ihr nicht bald jemand zu Hilfe kam, würde der Werwolf Ernst machen.

Und würde zur Tat schreiten, um sie zu töten.

Genau wie die anderen fünf Frauen auch.

Auf welche Weise, darüber wollte sie jetzt, da ihre Hilferufe ungehört verhallt und in ein klägliches Wimmern übergegangen waren, lieber nicht spekulieren. Egal was im Gehirn dieses Scheusals herumspukte, sie würde es bald zu spüren bekommen. Die Drohung, der Werwolf würde demnächst Ernst machen, war unmissverständlich gewesen. So absurd es klang, der Mann wollte sich an ihr rächen. Aus welchem Grund und mit welchen Mitteln, das war und blieb ein Mysterium für sie. In ein paar Stunden, so die unverhüllte Drohung, würde es ihr an den Kragen gehen. Je eher sie bereit war, die Tatsache als gegeben hinzunehmen, desto besser für ihre Konstitution. Und umso besser für ihre geschundene Seele. Denn wenn sie schon dazu bestimmt war zu sterben, dann aber bitte schnell – und hocherhobenen Hauptes.

Mit einem Lächeln auf den Lippen, ihr größter – wenngleich einziger – Trumpf.

Es sei denn, ihr fiele noch etwas ein.

Denk nach, Elsa, die Zeit drängt.

Denk nach – so schwer kann das doch nicht sein.

Nicht lange, und der Werwolf würde wiederkommen. Um sie nach allen Regeln der Kunst zu töten.

Die Hölle auf Erden, sie existierte wirklich.

Und ihr nach Blut lechzender Herrscher auch.

Der Schlüssel, der von außen ins Schloss gesteckt wurde, war Beweis genug.

Gleich würde die Stahltür aufgehen.

Und der Leibhaftige würde ihr seine Aufwartung machen.

Reiß dich gefälligst zusmmen, Elsa.

Du hast nichts mehr zu verlieren.

LACRIMOSA

Lacrimosa dies illa

Tränenreich ist jener Tag,

Qua resurget ex favilla

an welchem auferstehen wird aus dem Staube

Judicandus homo reus.

Zum Gericht der Mensch als Schuldiger.

(Wolfgang Amadeus Mozart, Requiem)

FREITAG, 4. JULI 1941

2

Berlin-Karlshorst, Dorotheastraße

14:15 Uhr

»Na schön, Herr Kommissar, weil Sie es sind«, willigte die spindeldürre, spitzgesichtige und zu Sydows Leidwesen auch spitzzüngige Hausverwalterin ein, öffnete die Tür und forderte ihn auf, einen Blick ins Innere der Etagenwohnung zu werfen. »Mir ist zwar nicht ganz wohl dabei, aber wenn es nicht anders geht, will ich mal nicht so sein.«

»Das ist aber nett von Ihnen, Frau Mentzel«, gab Sydow knapp, aber bestimmt zurück, ließ der mit Lockenwickeln bekränzten Xanthippe den Vortritt und wartete ab, bis die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war. »Sie wissen ja, ich tue nur meine Pflicht, insofern machen Sie sich bloß keine Gedanken. Ich bin mir sicher, der Bewohner hat nichts dagegen, wenn ich mich hier ein wenig umschaue, und wenn doch, verweisen Sie den Herrn an mich. Wie war doch gleich sein Name?«

»Justizoberrat Henschel.«

»Alleinstehend?«

»Soweit ich weiß, ja«, versetzte die mit einer Kittelschürze bekleidete Concierge, die der Versuchung, einen Blick ins angrenzende Wohnzimmer zu werfen, nicht widerstehen konnte. »Aber wer weiß das heutzutage schon genau.«

»Eben«, gab Sydow lapidar zurück, deutete ein Nicken an und nahm die Wohnung, unter 250 RM Miete pro Monat mit Sicherheit nicht zu haben, genauer unter die Lupe. Chaiselongue aus gestreiftem Plüsch, Mobiliar aus der Kaiserzeit, Standuhr aus gebeizter Eiche, Stillleben mit Goldrahmen, für Durchschnittsverdiener unerschwinglich. Bis das Wohnzimmer komplett war, kam ordentlich was zusammen. Da lobte er sich doch seine Junggesellenbude, für die er nur knapp die Hälfte bezahlte. Auf eine gutbürgerliche Wohngegend wie in Lichterfelde legte er ohnehin keinen gesteigerten Wert, im Gegensatz zu Kalinke, für den nichts schlimmer gewesen wäre, als in einem Altbau zu logieren. »Wer weiß denn schon, was seine Mitmenschen den Tag über so treiben.«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Herr Kommissar, würde ich jetzt lieber …«

»Einen Moment noch, Frau Mentzel – ich bin gleich so weit«, gab Sydow wie selbstverständlich zurück, zückte sein Notizbuch und dachte offenbar nicht daran, der Aufforderung zum Rückzug Folge zu leisten. »Wenn Sie erlauben, ich hätte da noch ein paar Fragen.«

»Aber das können wir doch genauso gut unten im Flur …«

»Können wir nicht, so leid es mir tut«, fiel Sydow der Mittsechzigerin höflich, aber bestimmt ins Wort, kratzte sich hinterm Ohr und sagte: »Dieser Jakubeit, wie war er denn eigentlich so?«

»Er hat was ausgefressen, stimmt’s?«

»Kann man wohl sagen, gnädige Frau«, fuhr Sydow in geschäftsmäßigem Tonfall fort, durchquerte die Diele, um den bohrenden Blicken der Hausverwalterin zu entgehen, und tat so, als sei er in Gedanken woanders. Das heißt, er tat nicht nur so, sondern rief die Unterredung mit Mira in sich wach. Ohne sie, die seinetwegen Kopf und Kragen riskiert hatte, wäre er dem Werwolf wohl nie auf die Spur gekommen, und wenn doch, hätte er Tage, wenn nicht gar Wochen dafür gebraucht. »Bei dem Herrn kommt Einiges zusammen.«

Der Blick der Matrone weitete sich, zwischen Neugierde und Furcht hin- und hergerissen. Am Ende trug die Sensationsgier den Sieg davon, für Sydow, der sie wie zufällig aus dem Augenwinkel musterte, alles andere als eine Überraschung. »Und was genau?«

»So leid es mir tut«, fügte der Kommissar mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns hinzu, eine seiner Glanznummern, mit der er sich schon oft aus der Affäre gezogen hatte. »Aber ich bin nicht befugt, Dritten gegenüber Auskünfte zu erteilen. Und schon gar nicht über laufende Ermittlungen, das sehen Sie hoffentlich ein. Nichtsdestotrotz wäre ich Ihnen für jeden Hinweis dankbar. Sie wissen ja, wie das ist: Um unsere Arbeit zufriedenstellend zu erledigen, sind wir auf die Hilfe der Bevölkerung angewiesen, je mehr verlässliche Informationen, desto schneller ist das Puzzle komplett. Ich darf also bitten, Sie haben das Wort!«

»Wollen Sie damit sagen, bei Jakubeit könne es sich um den Wer…«

»Zum Mitschreiben, Frau Mentzel«, gab Sydow mit einem Maximum an Selbstbeherrschung zurück und steuerte auf das geräumige Arbeitszimmer zu. »Der Fall geht nur mich und die Kollegen etwas an. Also dann, auf ein Neues: Was genau können Sie über Ihren ehemaligen Mieter sagen?«

Der Rumpf der Befragten straffte sich, und um nur ja nichts zu verpassen, folgte sie Sydow auf dem Fuß. »Nun ja, wenn Sie mich so fragen: Ein bisschen komisch war er schon.«

»Inwiefern?«

»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Kommissar«, warf die Verwalterin beschwichtigend ein, während Sydow einen Blick aus dem Fenster warf. Geduld zählte nicht zu seinen Stärken, vor allem dann nicht, wenn er das Gefühl hatte, die Zeit laufe ihm davon. Jede Minute, die nutzlos verstrich, vergrößerte die Gefahr, dass es noch mehr Tote gab. Und was das Schicksal von Elsa Bruckmann betraf, da ließ ihn sein Vorstellungsvermögen im Stich. Was geschähe, wenn der Werwolf freie Bahn haben würde, das konnte – und wollte – er sich lieber nicht vor Augen führen. »Was soll ich sagen, der Mann wusste sich zu benehmen.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Er hat jeden gegrüßt, war höflich, freundlich, gebildet, zuvorkommend, gepflegt, gut gekleidet, verlässlich und außerordentlich reinlich, um nicht zu sagen penibel.«

»Wo genau, werte Frau Mentzel, liegt dann das Problem?«, fragte Sydow, der wahrlich Besseres zu tun hatte, als der Angesprochenen die Würmer aus der Nase zu ziehen. »Hört sich doch nicht schlecht an, oder?«

»Worin das Problem liegt, fragen Sie?« Die Augen zu einem hauchdünnen Spalt verengt, baute sich die Concierge vor Sydow auf. »Zum einen darin, dass er und mein Mann sich nicht ausstehen können. Ich sag Ihnen eins: Wenn die sich über den Weg laufen, dann liegt Ärger in der Luft.«

»Und warum ist das so?«

Die Aufwartefrau hob fragend die Schultern. »Keine Ahnung. Die können sich halt nicht riechen, und damit fertig. Kommt ja wohl in den besten Kreisen vor.«

»Mag sein.«

»Ist so, das wissen Sie so gut wie ich. Ich will ja nichts sagen, aber so ganz ohne ist dieser Jakubeit ja nicht. Und wer weiß, vielleicht hat mein Egon sogar Recht. Mit dem halbseidenen Spanner stimmt was nicht, hat er gesagt – gleich am Anfang, beim Einzug. Trifft ja wohl auch zu, oder?«

Sydow vermied es, auf die Frage einzugehen. »Und wie kam Ihr Göttergatte darauf?«

»Ich weiß nicht, wenn er einen so angeschaut hat, dann … Also, dann wurde einem richtig mulmig. Zumindest den Frauen, wenn ich das mal so sagen darf. Die hat er begafft, als ob er sie mit seinen Blicken ausziehen wollte.«

»Und auch belästigt?«

Die Concierge wehrte lächelnd ab. »Ach woher, der doch nicht! Dafür war er zu verklemmt. Und auch zu feige, wenn Sie es genau wissen wollen. Einen auf Casanova zu machen, das hätte er sich nie und nimmer getraut.«

Im Begriff, etwas zu erwidern, behielt Sydow die Replik für sich.

Ganz anders Erna Mentzel, die mit fortschreitender Dauer immer redseliger wurde: »Hängt wahrscheinlich mit seiner Prothese zusammen, im Grunde tat er mir ja leid. War halt ein Eigenbrötler, was soll’s. Aber so ist das nun mal, leider Gottes. Da arbeitest du als Ingenieur bei Siemens, musst nicht zum Barras, weil es ohne dich nicht geht, brauchst deinen Kopf nicht hinzuhalten und scheffelst Kohle bis zum Abwinken – und dann so etwas.«

Raffiniert.

Auf die Idee, der Werwolf könne sich eine falsche Identität zugelegt haben, wäre Sydow nicht gekommen.

Und dies mit beträchtlichem Erfolg, wie der Rapport der wachsamen Hausverwalterin bewies. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Frau Mentzel.«

»Er hat seine Hand in eine Stanzmaschine gekriegt, haben Sie das nicht gewusst?«

»Nein, woher sollte ich«, gab Sydow scheinbar desinteressiert zurück und ließ den Blick durch das mit allen Schikanen eingerichtete Studierzimmer schweifen, bei dessen Anblick er sich in das Allerheiligste seines alten Herrn versetzt fühlte. »Leider sind wir bei der Kripo nicht allwissend, sonst ginge uns die Arbeit leichter von der Hand.«

Wie sich die Bilder doch glichen. Hier wie da, sowohl im Arbeitszimmer seines Vaters als auch in dem mit Stilmöbeln ausstaffierten Refugium eines Justizbeamten im gehobenen Dienst, herrschte eine geradezu penible Ordnung. Um dem Benutzer den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, war an nichts gespart worden, schon gar nicht am erlesenen Mobiliar. Allein der Schreibtisch aus Mahagoni musste ein Vermögen verschlungen haben, von den Persern und Tapisserien nicht zu reden. »So gut kenne ich den Herrn ja auch nicht – noch nicht.«

»Wie gewonnen, so zerronnen – mehr fällt mir dazu nicht ein.«

Sydow stutzte.

Und musste die Frage, die ihm auf der Zunge lag, erst gar nicht stellen. »So eine Wohnung wie hier ist nicht billig, machen Sie sich bloß keine falschen Vorstellungen. Und noch etwas, falls Sie es nicht gemerkt haben: In unserem Viertel geht es anders als im Wedding zu. Nämlich anständig, falls Sie verstehen, was ich damit zum Ausdruck bringen will. Schauen Sie doch mal kurz auf die Namensschilder, und dann erübrigen sich weitere Fragen. Im Parterre wohnt ein Kardiologe, gegenüber ein Prokurist mit seiner Frau, im ersten Stock ein Privatgelehrter und ein Schalterbeamter bei der Dresdner Bank, beide verheiratet, wie es sich gehört, hier oben ein lediger Justizoberrat und in der Wohnung vis-à-vis ein Juwelier samt dreiköpfiger Familie.«

»Und was will uns die Aufzählung von Hochkarätern sagen?«

»Dass diejenigen, die hier wohnen, nicht darben müssen«, versetzte die Hüterin der Moral in harschem Ton, reckte das Kinn und ergänzte: »Und dass ich nicht verstehen kann, wie jemand wie Jakubeit, wir reden hier von einem gelernten Ingenieur, so tief sinken kann.«

»Wenn wir gerade dabei sind, nur so aus Interesse: Wie viel würde mich die Wohnung kosten?«

Die Verwalterin lächelte spitz. »Ich weiß ja nicht, was Sie auf der hohen Kante haben, Herr Kommissar, aber …«

»Viel zu wenig, reden wir nicht darüber.«

»Aber um Ihre Frage zu beantworten: Mit 320 Mark sind Sie dabei. Kaltmiete, versteht sich.«

Sydow pfiff überrascht durch die Zähne. »Ordentlich Holz, so schön wollte ich es haben.«

»Qualität hat eben ihren Preis. 102 Quadratmeter, Flur mit 13 Metern Länge, im Ganzen vier Zimmer, drei davon zur Straße, dazu Küche, Bad und Speisekammer. Telefonanschluss inbegriffen. Wenn man das nötige Kleingeld hat, um es sich gemütlich zu machen – warum nicht!«

»Was bei Herrn Jakubeit der Fall gewesen zu sein scheint. Zumindest zeitweise.«

»Sagen wir mal so, er hatte es in der Hand. Keine Familie, guter Beruf, Geld wie Heu. Mit einem Wort, der Mann hatte ausgesorgt.«

»Sollte man meinen.« Mit Blick auf den Schreibsekretär, ein wahres Kleinod aus der Belle Époque, hielt Sydow abwartend inne. »Ganz schön teuer, so ein Ding, kann das sein?«

»Kann man wohl sagen.«

»Bleiben wir lieber beim Thema. Sie sagten, mit Jakubeit sei es bergab gegangen. Wissen Sie auch, wieso?«

»Bedaure, da bin ich überfragt.« Die Concierge zuckte hilflos mit den Achseln. »Ich weiß zwar nicht genau, wie er das Kunststück fertiggebracht hat, aber am Schluss war er nicht mal mehr imstande, die Miete zu bezahlen.«

»Woraufhin ihm von den Eigentümern gekündigt wurde?«

»Genau. Und zwar fristlos.«

»Wann genau war das?«

»Vor zwei, drei Monaten.«

»Und wie lange hat er hier gewohnt?«

»So um die eineinhalb Jahre. Seit Oktober 1939.« Die Concierge gab ein abfälliges Schniefen von sich. »Wie gewonnen, so zerronnen, was soll ich dazu sagen. Ich weiß ja nicht, wie Sie darüber denken, Herr Kommissar, aber um mit Geld umzugehen, bedarf es einer gewissen Reife.«

»Wem sagen Sie das, Frau Mentzel!«

»Je mehr davon, desto besser. Ich kann es nur immer wieder sagen, irgendwie war mir der Mann suspekt.«

»Verstehe.« Tief in Gedanken, ließ Sydow den Zeigefinger über die Schreibtischkante gleiten, betrachtete die blitzsaubere Kuppe und rührte sich nicht von der Stelle. Den Angaben von Mira zufolge war Jakubeit Mitte September vergangenen Jahres wegen sittenwidrigen Verhaltens aus der SS ausgeschlossen worden. Inwieweit die Vorwürfe berechtigt waren und ob es sich tatsächlich um einen Fall von sexueller Belästigung handelte, spielte im aktuellen Kontext keine Rolle. Wichtig war einstweilen nur das genaue Datum, nämlich der 17. September 1940. Genau drei Tage später, am darauffolgenden Freitag, hatte der Werwolf seinen ersten Mord begangen, der Auftakt zu einer Reihe von Verbrechen, die dafür sorgten, dass er zum Schrecken aller Berlinerinnen mutierte.

Ein Absturz, wie er tiefer und krasser nicht hätte vonstattengehen können.

Insofern hatte seine Gesprächspartnerin Recht.

Nur leider eben nicht ganz, aber das konnte das alte Waschweib nicht wissen. Denn was für das berufliche Fiasko galt, das traf offenbar auch auf die pekuniäre Seite der Medaille zu. Wenn überhaupt, davon war auszugehen, hatte der Werwolf nur über bescheidene Ressourcen verfügt. Die, so Sydow mit seiner Mutmaßung richtiglag, innerhalb kürzester Zeit erschöpft gewesen waren. Da war es nur folgerichtig, dass der vermeintliche Ingenieur nicht mehr imstande war, die Miete für eine Wohnung zu bezahlen, von der Normalsterbliche wie ein Kommissar der Kriminalinspektion Berlin nur träumen konnten.

Und genau da lag der Hund begraben. Vorausgesetzt, Jakubeit hatte nicht viel auf der hohen Kante, dann erhob sich die Frage, wie er imstande gewesen war, die Summe von sage und schreibe 320 Reichsmark aufzutreiben. In Sachen Löhne und Gehälter kannte sich Sydow zwar nicht so genau aus und konnte das Gehalt eines Unterscharführers der SS infolgedessen nur schätzen. Sicher war jedoch, dass der Werwolf nach knapp sieben Jahren Mitgliedschaft im SD der SS auf maximal 200 RM pro Monat kam. Da die Miete für die besagte Etagenwohnung jedoch mehr als das Eineinhalbfache verschlang und Jakubeit keineswegs aus dem Vollen schöpfen konnte, stellte sich die Frage, wie er es zuwege brachte, auf vergleichsweise großem Fuße zu leben.

Da war etwas im Busch.

Fragte sich nur, was.

»Sind wir jetzt endlich fertig, Herr Kommissar? Wenn es nichts mehr zu bereden gibt, würde ich jetzt lieber gehen.«

»Einen Moment noch, Frau Mentzel. Ich bin gleich so weit.« Sydow nickte anerkennend in die Runde. Wenn man sich hier so umsah, dann konnte man glatt neidisch werden. Seine Dachwohnung war höchstens halb so groß, und was die Einrichtung betraf, davon konnte er nur träumen. Allein die Bilder, unter ihnen ein Porträt Friedrichs des Großen in Uniform, hatten mit Sicherheit ein Vermögen gekostet. Von der Einrichtung, mit einer Suite im Kempinski durchaus zu vergleichen, ganz zu schweigen. »Donnerwetter, die Bude kann sich wirklich sehen lassen. Alles vom Feinsten, ich bin beeindruckt.«

»Ich auch«, versetzte die Verwalterin kühl, wie ein Zinnsoldat am Türpfosten postiert, von wo aus sie Sydow mit ihrem Adlerblick beobachtete. »Und wie. Fragt sich nur, woher das nötige Kleingeld kam.«

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