Max Weber

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In seinem politischen Denken orientiert sich Weber wesentlich an den »nationalen Interessen« Deutschlands. Diese trägt er in herausfordernder nationalistischer Diktion und Begrifflichkeit zunächst in seiner Antrittsrede Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik von 1895 in die gebildete Öffentlichkeit. Ausgehend von den Ergebnissen der bereits erwähnten Landarbeiter-Studie problematisiert er die Abwanderung der deutschstämmigen Bevölkerung sowie die im Interesse der Großgrundbesitzer von der Regierung erlaubte Einwanderung polnischer Saisonarbeiter. Diese Wanderungsbewegung führe zu einer nicht hinnehmbaren Verletzung der nationalen Interessen Deutschlands. Weber erhebt deshalb drei Forderungen: Bodenankauf durch den Staat, systematische Kolonisierung durch deutsche Bauern sowie die Schließung der östlichen Grenzen. Die Politik habe sich an den Interessen der gesamten Nation und nicht an denen der privilegierten Gruppe der Großgrundbesitzer zu orientieren.

In seinen späteren Schriften tritt Weber für eine weitere Demokratisierung der politischen Verhältnisse in Deutschland ein. Dies lässt sich gut an seinen Beiträgen zur politischen Neuordnung Deutschlands nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ablesen, mit denen er eine Bestandsaufnahme der Lage Deutschlands nach dem verlorenen Weltkrieg vorlegt. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang seine Kritik an der zunehmenden Bürokratisierung der Gesellschaft (»Wilhelminischer Obrigkeitsstaat«) sowie an der gefährlichen Demagogisierung der Politik. Seiner Auffassung nach ist eine stärkere parlamentarische Kontrolle dieser politischen Kräfte erforderlich. Nur so könne der Gefahr entgegengewirkt werden, dass die individuelle Freiheit der einzelnen Bürger und in Folge dessen das demokratische Leben insgesamt unter dem Druck insbesondere der staatlichen Bürokratisierungstendenzen zerstört werden. Für mindestens so bedeutsam erachtet er, dass eine klare politische Leitung der Bürokratie gegeben ist. Erfolgreiche politische Führung, so lässt sich Webers grundlegende politische Botschaft zusammenfassen, muss einen Ausgleich herstellen zwischen den Polen reiner bürokratischer und reiner charismatischer Herrschaft. Nur so könne verhindert werden, dass die blinde Umsetzung von Verwaltungsmechanismen auf der einen Seite und die verantwortungslose Demagogenherrschaft auf der anderen Seite ihre negative politische Wirkung entfalteten (vgl. Kap. 6.4). Webers Beiträge zu der [29]Frage, wie nach dem verlorenen Krieg in Deutschland eine verantwortungsbewusste politische Leitung etabliert werden kann, bewegen sich stets in diesem argumentativen Spannungsfeld. Insbesondere sein Artikel Der Reichspräsident (1919) hat die nachfolgenden politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen über die späten politischen Positionen Webers entscheidend bestimmt (vgl. auch Kap. 6.4).

Wichtige Schriften Webers

Gesammelte Politische Schriften, 5. Aufl., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1988 (= GPS):

 Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (1895), S. 1–25.

 Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens (1918), S. 306–443.

 Politik als Beruf (1919), S. 505–560.

Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (1924), 2. Aufl., hg. von Marianne Weber, Tübingen 1988 (= GASW):

 Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur (1896), S. 289–311.

Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1988 (= WL):

 Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie (1903–06), S. 1–145.

 Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), S. 146–214.

 Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906), S. 215– 290.

 Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913), S. 427–474.

 Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917), S. 489–540.

 Wissenschaft als Beruf (1919), S. 582–613.

 Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft (1922), S. 475–488.

Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I (1920), 9. Aufl., hg. von Marianne Weber, Tübingen 1988 (= GARS I):

 Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1905/1920), S. 17–236.

 Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, Einleitung (1916), S. 237–275.

 Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung (1916), S. 536–573.

Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriss der Verstehenden Soziologie, 5. Aufl., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1985 (= WuG):

 Soziologische Grundbegriffe (1921), S. 1–30.

Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (1924), 2. Aufl., hg. von Marianne Weber, Tübingen 1988 (= GASW):

 Max Weber, Entwicklungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter, S. 470– 507.

[30]Weiterführende Literatur

Eduard Baumgarten: Max Weber – Werk und Person. Tübingen 1964.

Reinhard Bendix: Max Weber – Das Werk. Darstellung, Analyse, Ergebnisse (1960), München 1964.

Kaesler, Dirk: Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2003.

Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik. 1. Aufl., Tübingen 1974.

Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schwentker (Hg.): Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen 1988.

Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005.

Guenther Roth: Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte, Tübingen 2001.

Friedrich Tenbruck: Das Werk Max Webers. Gesammelte Aufsätze zu Max Weber, hg. von Harald Homann, Tübingen 1999.

Marianne Weber: Max Weber – Ein Lebensbild (1926), München 1989.

[31]2. Max Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft

2.1 Methodenstreit in den deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften des späten 19. Jahrhunderts


2.2 Max Webers Stellung im Methodenstreit

2.3 Wissenschaft und Werturteil

2.4 Gesetzeswissenschaft und Wirklichkeitswissenschaft

2.5 Historische Erklärung und kulturwissenschaftlich vergleichende Kausalurteile

2.6 Begriffe und Idealtypen

2.7 Zusammenfassung

Max Webers wissenschaftliche Forschungen orientieren sich am Konzept einer historischen Sozialwissenschaft, das er anlässlich der Neuherausgabe der Zeitschrift Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik formuliert. Es entsteht im Kontext heftiger methodischer Kontroversen in den deutschsprachigen Sozial- und Geisteswissenschaften des späten 19. Jahrhunderts. Im Kern geht es dabei um folgende Fragen: Sollen die Sozialwissenschaften nach dem Vorbild und mit der Wissenschaftsmethode der Naturwissenschaft betrieben werden? Oder bedürfen sie, da sie es mit Menschen als Geistwesen zu tun haben, einer eigenen Methode? Die erstgenannte Position bezeichnet man als Naturalismus, die zweite als Historismus.

2.1 Methodenstreit in den deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften des späten 19. Jahrhunderts

Der historistischen Position zufolge sind Natur und Geschichte ontologisch (seinsmäßig) als wesensverschiedene Gegenstände anzusehen: Die Natur als Reich der unbelebten und belebten Materie ist von bestimmten Gesetzen beherrscht, wogegen die Geschichte von willensmäßigen Handlungen erfüllt ist. Wo aber der freie Wille regiert, kann es keine Gesetze geben. Geschichte ist nicht der experimentellen Beobachtung und der nomologischen, gesetzeswissenschaftlichen Theoriebildung, sondern nur dem einfühlenden Verstehen zugänglich.

Die Geistes- und Sozialwissenschaften in Deutschland sind, anders als in Westeuropa, im 19. Jahrhundert vom Historismus geprägt, z. B. die Geschichtswissenschaft, die Rechtswissenschaft, die Nationalökonomie und die Philosophie. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von historischen Schulen. Oberster erkenntnistheoretischer Grundsatz des Historismus ist, geschichtliche, politische, gesellschaftliche, kulturelle Phänomene immanent, aus sich heraus zu verstehen. Damit wenden sich die Historisten gegen »von außen« herangetragene Theorien und Wertmaßstäbe. Ein Verstehen [32]historischer Lebenswelten jeder Art (Personen, Institutionen, Staaten, Kulturen) sei nur durch eine immanente Betrachtungsweise möglich, da jede Einheit ihre spezifische Struktur, ihre eigenen Entwicklungsgesetze und autonome Wertmaßstäbe besitze. Die zentralen erkenntnistheoretischen Kategorien des Historismus sind also Individualität und Entwicklung.

 

Historismus

Der Historismus ist als eine Erkenntnistheorie und Weltanschauung zu verstehen, die davon ausgeht, dass zwischen den Erscheinungen der Natur und der Kultur bzw. Geschichte ein Wesensunterschied besteht, der für die Sozial- und Geisteswissenschaften eine prinzipiell andere Methode als für die Naturwissenschaften erfordert. Die Natur ist demnach die Sphäre ewig wiederkehrender Erscheinungen, die sich ihrer Zwecke nicht bewusst sind. Geschichte besteht dagegen aus einmaligen menschlichen Handlungen, die von Wille und Absicht erfüllt sind. Der Historismus dominierte die deutsche Geschichtswissenschaft vom frühen 19. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, war aber auch in anderen Disziplinen wie der Nationalökonomie, der Rechtswissenschaft und der Soziologie (seit etwa 1900) einflussreich. So weit in diesen und anderen Disziplinen der Einfluss des Historismus reichte, spricht man auch von historischen Schulen (vgl. Iggers 1971, bes. S. 13).

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gerät der Historismus in eine Krise; seine erkenntnistheoretische und weltanschauliche Leitfunktion wird zunehmend in Frage gestellt. Es sind vor allem die sozialwissenschaftlichen Theorieströmungen des Marxismus, der theoretischen Nationalökonomie und der positivistischen Soziologie, welche die historischen Schulen in den deutschen Wissenschaften in die Defensive drängen.

Die Idee einer positivistischen Soziologie geht auf Auguste Comte (1798–1857) zurück. Comte propagiert eine Wissenschaft der Gesellschaft, die nicht mehr fragt, wie eine gute Gesellschaft aussehen soll, sondern die ergründen will, nach welchen Gesetzen gesellschaftliche Entwicklung wirklich abläuft. Zu diesem Zweck soll sie sich der naturwissenschaftlichen Wissenschaftsmethode bedienen und sich auf die Erforschung des tatsächlich Gegebenen beschränken. Irgendwann würde man mithilfe des Gesetzeswissens in der Lage sein, die Gesellschaft krisenfrei zu steuern. Comte will diese neue Wissenschaft »soziale Physik« nennen, was den naturalistischen Charakter unterstrichen hätte, aber der Begriff ist schon besetzt und so nennt er sein Projekt Soziologie. Das Projekt einer positivistischen Soziologie wird später von Herbert Spencer in England fortgesetzt, der sich allerdings stärker an der Biologie als an der Physik orientiert. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erscheinen deutsche Übersetzungen von Werken Comtes und Spencers. In Anlehnung an diese Vorbilder werden auch im deutschen Kulturraum biologistische soziologische Systeme entwickelt, z. B. von Paul Lilienfeld (1829–1903) und Albert Schäffle (1831–1903).

Im Abwehrkampf gegen das Vordringen der positivistischen Soziologie in Deutschland spielt die Philosophie eine herausragende Rolle, sie ist ja innerhalb des akademischen [33]Fächerkanons dafür fachlich prädestiniert. In seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften erklärt Wilhelm Dilthey 1883, dass sich Naturwissenschaften auf der einen und Geisteswissenschaften auf der anderen Seite auf ontisch (seinsmäßig) wesensverschiedene Objekte bezögen, was sich methodologisch im Erklären einerseits und Verstehen andererseits ausdrücke. Ähnlich argumentierte schon der Historiker Johann Gustav Droysen. Dilthey kanzelt die Soziologie Comtes und ihr Erkenntnisprogramm »voir pour prévoir pour agir« als »gigantische Traumidee« ab (vgl. Dilthey 1966, S. 84) und behauptet, die Soziologie und die Philosophie der Geschichte seien »keine wirklichen Wissenschaften« (vgl. ebd., S. 86). Wilhelm Windelband propagiert 1894 die nomothetische, gesetzeswissenschaftliche Methode für die Naturwissenschaften und die idiographische, historisch beschreibende Methode für die Geisteswissenschaften. Die Naturwissenschaften sollen nach Gesetzen suchen, die Geisteswissenschaften hingegen ihre Gegenstände in ihrer Eigenheit beschreiben.

Auch Heinrich Rickert unterstreicht in seinem voluminösen Hauptwerk Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (1902) die Bedeutung des Einzigartigen für die »Kulturwissenschaften«, während die Aufgabe der Naturwissenschaften in der Erforschung allgemeiner Regelmäßigkeiten und Gesetze bestehe. Er polemisiert heftig gegen eine positivistische Soziologie, räumt aber widerwillig ein, dass eine solche Disziplin logisch möglich sei: »So wenig Erfreuliches diese Wissenschaft mit dem wenig erfreulichen Namen auch bisher erreicht haben mag, so wenig ist unter logischen Gesichtspunkten gegen eine naturwissenschaftliche Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit einzuwenden.« (Rickert 1902, S. 287 f.) Diese Einsicht wird später für Webers Konzepte einer historischen Sozialwissenschaft und einer Verstehenden Soziologie von großer Bedeutung sein.

Die Gültigkeit und Anwendbarkeit des positivistischen Wissenschaftsbegriffs für die Geschichte wird auch ein Kernpunkt des Methodenstreits in der deutschen Geschichtswissenschaft während der 1890er Jahre. Die deutsche Geschichtswissenschaft als Hochburg des Historismus lehnt begriffliches Denken und theoretische Generalisation ab, beharrt auf dem Monopol der historischen Methode, beschränkt ihre Forschung auf Staat und Politik und ignoriert weitgehend die nichtstaatlichen Dimensionen des sozialen Lebens. Im Zuge eines wachsenden sozialgeschichtlichen Interesses im Fach seit den 1880er Jahren stellt eine Gruppe jüngerer Historiker dieses herrschende Paradigma jedoch in Frage. An ihrer Spitze steht Karl Lamprecht, mit dessen Publikationen in den 1890er Jahren der Methodenstreit kulminiert.

Lamprecht vertritt die These, dass wirtschaftliche und geistige Strukturen sowie kollektive Kräfte im historischen Prozess wirksamer sind als die Taten großer Staatsmänner und Feldherren. Dem müsse die Geschichtswissenschaft methodisch Rechnung tragen. Er plädiert für eine sozialpsychologische Grundlegung der Geschichtswissenschaft, die Einbeziehung der nichtstaatlichen gesellschaftlichen Dimensionen in den Forschungsprozess, die Untersuchung von Kausalbeziehungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen und die Anwendung typologischer Begriffe [34]zur Strukturierung des geschichtlichen Stoffs. Lamprecht erntet unter dem Banner des freien Willens und der Persönlichkeit in der Geschichte vernichtende Kritik seitens des traditionalistischen Establishments, angeführt von den Historikern Georg v. Below, Dietrich Schäfer und Heinrich v. Sybel, wobei Lamprecht seinen Gegnern durch methodische Schwächen und Fehler im Detail Vorschub leistet.

Seit 1883 tobt auch ein heftiger Methodenstreit in der deutschsprachigen Nationalökonomie, also Webers späterem Fach. (Erst ab etwa 1910 versteht Weber sich zunehmend als Soziologe.) In England hat sich, repräsentiert durch Adam Smith (1723–1790) und David Ricardo (1772–1823), eine theoretische Nationalökonomie herausgebildet. Sie sucht nach allgemeinen, universal gültigen Gesetzen des wirtschaftlichen Geschehens und geht dabei vom rationalen, nutzenmaximierenden Wirtschaftsmenschen aus. Gegen diese theoretische Nationalökonomie bildet sich in Deutschland eine Gegenbewegung heraus, die historische Schule. Zu ihrem bedeutendsten Vertreter wird Gustav Schmoller (1837–1917). Schmoller kritisiert die Methode der theoretischen Nationalökonomie, auf axiomatisch-deduktivem (aus allgemeinen Annahmen ableitend) Wege zu Gesetzen zu gelangen. Indem diese den rationalen, nutzenmaximierenden Wirtschaftsmenschen und das Streben nach allgemeinen, raum- und zeitlos gültigen Gesetzen herausstelle, werde die Vielfalt der geschichtlichen Wirklichkeit vernachlässigt. Schmoller fordert daher, zunächst wirtschaftsgeschichtliche Forschung zu betreiben. Auf der Grundlage des akkumulierten Erfahrungswissens ergebe sich dann irgendwann Einsicht in die Gesetze des Wirtschaftsablaufs. Schmoller und seine Schüler wenden sich folglich der wirtschaftsgeschichtlichen Einzelforschung, oft auf lokaler Ebene, zu. Ferner verlangt Schmoller, ökonomische Phänomene in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen.

Wissenschaft soll laut Schmoller keine rein akademische Angelegenheit sein, sondern sich der gesellschaftlichen Verantwortung stellen. Dabei denkt er besonders an die soziale Frage seiner Zeit. 1872 gründet er den Verein für Sozialpolitik, dem neben prominenten Wissenschaftlern hochrangige Verwaltungsbeamte des Kaiserreichs angehören. Der Verein lässt zahlreiche empirische Untersuchungen zur sozialen Lage bestimmter Berufsgruppen durchführen und diskutiert sozialpolitische Reformen. Die Forschungsergebnisse und die Ideen des Vereins gehen in die Sozialpolitik des Kaiserreichs ein. Im Sinne gesellschaftlicher Verantwortung propagiert Schmoller eine ethische Nationalökonomie.

Gegen die Vorherrschaft der historischen Schule im deutschsprachigen Raum wendet sich 1883 ein österreichischer Ökonom, Carl Menger. Menger beklagt den Niedergang theoretischen Denkens in der deutschen Nationalökonomie und bezweifelt, dass es möglich sei, auf dem Wege wirtschaftsgeschichtlicher Einzelforschung zur Erkenntnis allgemeiner ökonomischer Gesetze zu gelangen. Damit ist der Methodenstreit der Nationalökonomie ausgebrochen, der über Jahrzehnte die deutschsprachige Nationalökonomie in zwei Lager spalten wird. Menger verlangt die Rehabilitierung der theoretischen Nationalökonomie. Sie müsse als eigene Disziplin mit eigenen Methoden bestehen, unabhängig und neben der historischen Nationalökonomie.

[35]Gustav Schmoller und die Historische Schule der Nationalökonomie

Gustav Schmoller (1838–1917) war im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert das unbestrittene Oberhaupt der deutschen Nationalökonomie. Im Gegensatz zu den klassischen britischen Theoretikern Adam Smith (1723–1790) und David Ricardo (1772–1823) propagierte Schmoller eine Wissenschaft, die sich durch empirische Forschungen und wirtschaftsgeschichtliche Studien eine solide erfahrungswissenschaftliche Grundlage verschafft, von der aus man allmählich zu einer ökonomischen Theorie vorstoßen könne. Außerdem forderte Schmoller, wirtschaftliche Vorgänge nicht isoliert, sondern in ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen zu sehen. In diesem Sinne arbeitete die historische Schule der Nationalökonomie in Deutschland.

Schmoller, monarchistisch gesinnt, engagierte sich für eine Sozialpolitik zugunsten der arbeitenden Klassen. Der von ihm gegründete Verein für Sozialpolitik vergab zahlreiche Forschungsaufträge zur Lage der unteren Schichten. Auch Max Weber gehörte dem Verein an und erstellte eine Studie zur Lage der ostelbischen Landarbeiter (1894). Im Glauben, dass man Werte und Normen aus erfahrungswissenschaftlicher Forschung ableiten könne, propagierte Schmoller eine ethische Nationalökonomie. Daraus entsprang der Werturteilsstreit, in dem Max Weber zum wichtigsten Gegenspieler Schmollers wurde (vgl. Kap. 2.3).

Schmoller hätte angesichts seiner überragenden Stellung in der deutschsprachigen Nationalökonomie gelassen reagieren können, zumal sein Kontrahent die Berechtigung einer historischen Nationalökonomie nicht in Frage stellt. Aber er führt die Kontroverse in einer Grundsätzlichkeit, die der theoretischen Nationalökonomie keinen Raum lässt. Er kritisiert die undifferenzierte Annahme rational und nutzenmaximierend handelnder Akteure, die Vernachlässigung der Einbettung wirtschaftlicher Phänomene in große gesellschaftliche Zusammenhänge und die unzulässige Verallgemeinerung aktueller Zustände für das Wirtschaftsleben in der Geschichte insgesamt. Menger kontert in einer scharfen Replik, dass »historisch-statistische Kleinmalerei« und »historische Mikrographie« die Wirtschaftstheorie nicht ersetzen könnten und nicht verdrängen dürften (Menger 1884, S. 36, 47). Er weist auf Schwächen in Schmollers Wissenschaftskonzept hin, insbesondere auf die Problematik des Postulats, die Theorie ruhen zu lassen, bis die Wirtschaftsgeschichte erforscht sei.

Der Methodenstreit endet unentschieden. Er führt für 20 Jahre und länger zu einem Schisma in der deutschsprachigen Nationalökonomie. Im Deutschen Reich dominiert bis zum Tod Schmollers 1917 und darüber hinaus die historische Schule, in Österreich hingegen setzt sich die theoretische Nationalökonomie durch. Sie bringt hervorragende Gelehrte hervor wie Eugen Böhm-Bawerk, Friedrich v. Wieser, Joseph Schumpeter und Ludwig von Mises und wird auf lange Sicht den Sieg davontragen.

 

Als dritte große theoretische Herausforderung für die historischen Schulen ist der Marxismus zu nennen. Marx und Engels propagieren einen wissenschaftlichen Sozialismus, der mit wissenschaftlichen Methoden die Bewegungsgesetze der Geschichte und des Kapitalismus enthüllt. Das Kapital als Analyse der Ökonomie des 19. Jahrhunderts stellt eine Provokation für die historische Nationalökonomie dar, auf die diese jedoch nicht eingeht. Auch die Geschichtswissenschaft reagiert nicht auf die Herausforderung, welche die materialistische Geschichtsauffassung, nach der das Sein das Bewusstsein und die ökonomische Basis den politischen, geistigen, religiösen, juristischen Überbau bestimmt, für das idealistische und individualistische Selbstverständnis des Historismus darstellt. Der Marxismus wird in den deutschen Sozialwissenschaften zunächst ignoriert und »totgeschwiegen«.

[36]Methodenstreit der Nationalökonomie

Carl Menger

 Die historische Schule hat die nationalökonomische Theorie vernachlässigt.

 Es ist unmöglich, auf dem Weg wirtschaftsgeschichtlicher Forschung zu einer allgemeinen Theorie zu gelangen.

 Die Aufgabe der theoretischen Nationalökonomie besteht darin, auf axiomatisch-deduktivem Wege universal gültige Gesetze des Wirtschaftslebens zu entwickeln.

 Theoretische und historische Nationalökonomie sollen als eigenständige Subdisziplinen mit eigenen Methoden bestehen.

Gustav Schmoller

 Die Annahme rationaler, nutzenmaximierender Akteure, auf der die theoretische Nationalökonomie basiert, ist pauschal und unhistorisch.

 Die theoretische Nationalökonomie vernachlässigt wirtschaftlich relevante Institutionen, z. B. den Staat und seine Politik.

 Die theoretische Nationalökonomie vernachlässigt die soziologische Einbindung der Wirtschaft in andere gesellschaftliche Zusammenhänge, besonders das Verhältnis von Wirtschaft und Staat.

 Die theoretische Nationalökonomie verallgemeinert unzulässigerweise die Erscheinungen der Gegenwart für die gesamte menschliche Geschichte.

 Der Schwerpunkt wirtschaftswissenschaftlichen Handelns muss daher im Bereich der historischen Forschung liegen, um zu einer historisch differenzierten und gesellschaftlich eingebetteten Sichtweise von Wirtschaft zu gelangen.

Doch während der 1890er Jahre deutet sich eine Wende an. Einige junge Sozialwissenschaftler, insbesondere aus der historischen Nationalökonomie, sind nicht mehr bereit, die Marx-Obstruktion des universitären Establishments weiter mitzutragen. Sie suchen vielmehr die Rezeption von und die kritische Auseinandersetzung mit Karl Marx. Zu diesem Kreis gehören auch Max Weber und sein Bruder Alfred. Besonders bedeutsam und wegweisend wird aber Werner Sombart (1863–1941), ein Lieblingsschüler [37]Gustav Schmollers. Sombart hält im Wintersemester 1892/93 ein Seminar über Karl Marx, rezensiert 1894 den von Friedrich Engels herausgegebenen dritten Band des Kapitals und veröffentlicht 1896 die Schrift Sozialismus und soziale Bewegung – eine außerordentlich klare und einflussreiche Darstellung der Grundgedanken von Marx, die später in 22 Sprachen übersetzt wird. Angeregt von Engels verfasst er Der moderne Kapitalismus (1902), eine Studie, welche die Entstehung des Kapitalismus historisch beschreibt. Sie wird später für die Überwindung des Gegensatzes zwischen historischer und theoretischer Nationalökonomie und für Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft von wegweisender Bedeutung sein.

Die Konstellation in den deutschen Sozialwissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die den Ausgangspunkt für Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft bildet, stellt sich wie folgt dar:

 Das wissenschaftliche Establishment der historischen Schulen sieht sich in einem dreifachen Abwehrkampf gegen die nomologisch orientierten Strömungen des Positivismus, der theoretischen Nationalökonomie und des Marxismus verstrickt, der mit aller Härte geführt wird und tiefe Gräben in den einzelnen Disziplinen aufreißt.

 Bei allen Unterschieden zwischen Nationalökonomie, Philosophie, Geschichte und inhaltlichen Nuancen im Einzelnen geht es im Kern um die Frage, ob und inwieweit naturwissenschaftliche bzw. den Naturwissenschaften entlehnte Denkmodelle, Begriffe und Methoden auf Geschichte und Gesellschaft übertragen werden können und sollen.

 Das konservative Establishment postuliert eine strenge ontologische und methodologische Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften (Kulturwissenschaften), beharrt auf der Priorität hermeneutischer und idiographischer Methoden und lehnt systematische Fragestellungen und Theorieansätze prinzipiell ab.

Heinrich Rickert über die Aufgabe der Wissenschaftslogik

Die Wissenschaftslogik ist »von der Absicht geleitet, die wirklich ausgeübte wissenschaftliche Tätigkeit zu verstehen, d. h. die logische Struktur kennen zu lernen, die jede historische Darstellung zeigen muss. Ein anderes Verhältnis wird die Logik zur empirischen Forschung nie haben. Höchstens kann die Besinnung auf die logischen Besonderheiten einer Untersuchung mit dieser selbst Hand in Hand gehen und sie dadurch zielbewusster gestalten. In den bei weitem meisten Fällen aber sind die Wissenschaften bis zu einem hohen Grade ausgebildet, ehe die Reflexion auf ihre logische Struktur beginnt […], so dass sie auch dann nicht den Anspruch erhebt, führend der Wissenschaft die Wege zu weisen, sondern nur verstehend ihr folgen will.« (Rickert 1902, S. 330)

[38]Die Ausgangssituation, aus der heraus Max Webers Wissenschaftslehre entstand

»Das von Weber vorgefundene logisch-erkenntnistheoretische Zentralproblem war die große Auseinandersetzung zwischen den Natur- und sog. Geisteswissenschaften, die unter der Führung von Dilthey, Windelband, Simmel und Heinrich Rickert die meisten zeitgenössischen Philosophen und Logiker beschäftigte und dessen Diskussion darüber hinaus sich in die Erfahrungswissenschaften fortsetzte. Durch die ungeheuren Erfolge der Naturwissenschaften war die Ueberzeugung entstanden, dass eine, wie von aller Metaphysik, so von allen individuellen Zufälligkeiten befreite ›rationale‹ Erkenntnis der ganzen Wirklichkeit möglich sei. Eine Universalmethode könne und müsse ihren ganzen Umfang beherrschen, einzig den Resultaten dieser Methode stände der Anspruch auf Wahrheitsgeltung zu; was durch sie nicht erfassbar sei, gehöre nicht in den Rahmen der Wissenschaft, sondern sei ›Kunst‹. Der ›Naturalismus‹ als Methode und Weltanschauung beanspruchte Alleinherrschaft auf allen Gebieten des Lebens und Denkens. Die Abwehr der ›Geisteswissenschaften‹ konzentrierte sich auf den Nachweis ihrer Eigenart und Selbständigkeit, die man zunächst auf die Verschiedenheit der Stoffgebiete gründete.« (Marianne Weber 1989, S. 322 f.)

2.2 Max Webers Stellung im Methodenstreit

Wie ist Max Weber in diese Gemengelage heftiger methodologischer Grundsatzkontroversen im späten 19. Jahrhundert einzuordnen? Der junge Max Weber kann als Nationalökonom, wie übrigens auch sein Bruder Alfred, zunächst als ein Schüler Gustav Schmollers angesehen werden. Seine Arbeit über die ostelbischen Landarbeiter (1892; vgl. Kap. 1.3) entspricht voll dem Grundsatz des Meisters, dass nationalökonomische Wissenschaftspraxis in historischer und empirischer Wirtschaftsforschung, nicht in abstrakter Theoriebildung besteht. Weber teilt auch das sozialpolitische Engagement Schmollers und wirkt als aktives Mitglied in dessen Verein für Sozialpolitik, der für die Sozialpolitik des kaiserlichen Deutschlands von herausragender Bedeutung ist. Allerdings steht er, anders als der Herzensmonarchist Schmoller, der Monarchie und Kaiser Wilhelm II., aber auch dessen Verwaltung kritisch gegenüber. Er bezweifelt, dass das monarchisch-konstitutionelle System in der Lage ist, die nationalen Großmachtinteressen des Deutschen Reichs optimal wahrzunehmen. Dennoch – wir dürfen sagen, dass der junge Max Weber als Nationalökonom weitgehend in der historischen Schule aufgeht.

Allerdings kommen Weber auch Zweifel an der methodologischen Tragfähigkeit der historischen Schule, die seit 1903/1904 immer deutlicher zutage treten. Sie betreffen folgende Positionen Schmollers:

 [39]Schmoller propagiert eine ethische Nationalökonomie, deren Aufgabe es auch sei, Urteile über die »richtigen« Werte abzugeben. Demgegenüber vertritt Weber die Auffassung, dass sich aus Erfahrungswissen keine Werturteile ableiten lassen.

 Schmoller propagiert und praktiziert wirtschaftsgeschichtliche Einzelforschung. Weber fragt sich unter dem Eindruck von Nietzsches Kritik an der Lebensfremdheit der historischen Wissenschaften, worin die lebenspraktische Bedeutung einer solchen Wissenschaft bestehen soll.

 Weber glaubt nicht, dass sich die historischen Wissenschaften mit Deskription bescheiden können und sollen. Anders als Schmoller bezweifelt er, dass sich daraus irgendwann Theorie ergeben wird. Außerdem meint Weber, dass das nomologische Wissenschaftskonzept sehr wohl auf die Geschichte anwendbar ist.

 Für Schmoller sind Begriffe Abbild der Wirklichkeit, der kantianisch geschulte Weber versteht hingegen Begriffe als Instrumente des denkenden Verstands, um die Wirklichkeit, die uns nicht unabhängig von den Kategorien unseres Verstands zugänglich ist, denkend zu ordnen.

 Für Schmoller ist Marx ein politischer Ideologe, Weber erachtet Marx als einen Wirtschaftstheoretiker, der als solcher bei aller Kritik ernst zu nehmen ist.

Weber empfindet das Schisma in der Nationalökonomie als ein existentielles wissenschaftliches Problem, das unbedingt in irgendeiner Weise gelöst werden muss. Der richtige Weg besteht für ihn darin, dass man historische Forschung und theoretisches Denken nicht trennt, sondern Theorie und Geschichte miteinander verbindet.

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