Thorburg

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Unser Wohnzimmer ist ein Multifunktionszimmer: Empfangszimmer Musikzimmer Arbeitszimmer Hobbyraum Kleiderkammer Bibliothek Bar Ruheraum Schlafzimmer, und einmal im Jahr ist es unser Weihnachtszimmer. Ins winzige Schlafzimmer meiner Eltern auf der anderen Seite der Küche gehen wir jetzt nicht mehr hin, dort gibt es außer den Betten nicht viel zu sehen und wo-möglich schlafen die gerade drin und wir würden sie wecken.

Die Wohnungsführung ist hiermit zu Ende. Nicht mehr besichtigt werden die beiden Außenstellen: der Kasten auf dem Dachboden und das Regal im Keller. Im Dachbodenkasten liegen der Christbaumschmuck und andere Dinge, die wir gerade nicht brauchen, aber vielleicht wieder einmal brauchen könnten; die Koffer, mit denen wir im Sommer verreisen, liegen unter den Betten meiner Eltern. Auf dem Regal im Keller stehen Gläser mit Marmeladen und Mixed Pickles.

Ja, Sie haben recht, unsere Wohnung war klein, aber das Leben auf so kleiner Fläche, wie es neuerdings in Großstädten wie Tokio und New York en vogue ist, hat Vorteile: Man sammelt weniger Unnötiges an, man spart Heizkosten, man spart Stromkosten, man verbringt mehr Zeit außerhalb der Wohnung (dabei spart man wieder Heiz- und Stromkosten) und im Freien, weshalb man kein Vitamin D einzunehmen braucht – nochmal gespart.

In unserem multifunktionalen Wohnzimmer in der Beletage der Thorburg gab es drei Fenster zur Alten Straße hinaus. Wenn wir uns ein wenig zerstreuen wollten, sagte meine Mutter zu mir: Gemma a bissl Fensterschauen; und sie ging zum Ostfenster, zog den Vorhang, den Store, zur Seite und öffnete es. Dann legte sie zwei Polster (Kissen) auf die Fensterbank und wir schauten Fenster, wie andere einfache Leute dazumal. Ein dreidimensionales Nahse-hen war das, das zweidimensionale Fernsehen gab es noch nicht. Doch auch beim Nahsehschauen konnten wir wie beim späteren Fernsehschauen unsere Schaulust befriedigen. Wir beglotzten Vorübergehende und kommentierten Gang Frisur Kleidung. Fuhr ein Auto die Alte Straße entlang, stellten wir Vermutungen darüber an, wer da wohl drin sitzt, wie lang der das Auto schon hat, und ob er es sich überhaupt leisten kann – oder: Raten Kredit Schulden!

Am geöffneten Ostfenster unter uns stand Großvater Jo jeden Morgen rund ums Jahr, atmete tief ein und aus und lobte die Luftqualität. Nun war diese zwar besser als heute, doch er atmete besonders tief, wenn ein Auto vorbeifuhr. Da stand er und schnüffelte genießerisch dem Benzin-Schweif hinterher, diesem Geruch der neuen Zeit. Oje, ich glaub ja fast, mein Großvater Jo war ein Schnüffler.

Zweites Kapitel
Wir gehen durch die Thorburg

Gruselgang, eine Runde mit dem Großvater, das Gigerl, scharfer Geruch, ein Wesen, Türen knallen und da Pracka, do dastickst, Shabby Chic, Rapunzel lässt ihr Haar hinunter, und so weiter – zum Beispiel: eine falsche Blondine takelt sich auf

Die Thorburg hat vier Ebenen: die erste mit den Kellerräumen liegt auf der Höhe des Hinterhofes, von dem eine Stiege hinunter in den Garten führt, die zweite liegt auf der Höhe der Alten Straße, die dritte Ebene ist das Oberge-schoss und die vierte, das ist der Dachboden. In den Fünfzigerjahren lebten auf diesen vier Ebenen in acht Wohneinheiten auf einer Fläche von allerhöchstens150 Quadratmetern siebzehn Personen, denn noch zehn Jahre nach Ende des Krieges war Wohnraum knapp.

Jetzt nehme ich Sie, lieber Leser, an der Hand und wie ich Sie früher einmal zu den Häusern des Feenthals und kürzlich durch unsere Wohnung geführt habe, so führe ich Sie jetzt durch die Thorburg. Folgen Sie uns bitte, liebe Leser!

Wir kommen von der Straße her, steigen drei Stufen hinauf und gehen durch eine zweiflügelige Haustür – ein Flügel steht außer im Winter tagsüber immer offen – in das Vorhaus (den Flur), einen dunkeldüsteren Gruselgang, der geradeaus zum Ortgang führt, vor dem wieder eine fast immer offene Tür ist. Auf der linken Seite des Vorhauses befinden sich die Tür zum Wohnraum meiner Großeltern, der Hausbrunnen, an dem alle ihr Wasser holen, und die Stiegen hinunter zum Keller und hinauf in den Oberstock; auf der rechten Seite sind drei Türen.

Wir gehen durch die erste Tür links zu meinen Großeltern Ama und Jo, den Eltern meines Vaters. Sie wohnen in einem großen Zimmer, darin viele Möbel und Dinge stehen; es ist, wie unser Wohnzimmer, ein Multifunktionszimmer: Esszimmer Schlafzimmer Büro Empfangszimmer. Dahinter liegt noch ein Kabinett, Turmzimmer wird es mein Ehemann später nennen. Im Zentrum des Zimmers steht der Esstisch mit den vier Stühlen, der Mittelpunkt des täglichen Lebens. An ihm wird gegessen, mit Gästen geplaudert, Zeitung gelesen, Karten gespielt und dabei gestritten. Während meine Großmutter am Tisch sitzt und ein Kreuzworträtsel löst, spaziert mein Großvater gerne im Uhrzeigersinn um ihn herum. Wir werden ihn auf einer Runde begleiten und uns umschauen, was es da zu sehen gibt. (Sollte Sie das nicht interessieren, gehen Sie gleich weiter zum nächsten Absatz, zur Frau Roth gegenüber den Großeltern.)

Wir gehen an der Eingangstür los. Gleich links in der Ecke steht auf einem runden Tischchen das schwarze Telefon. Es läutet selten und es wird keinesfalls täglich benutzt. Von Zeit zu Zeit kommt ein Mieter aus dem Haus und bittet, ob er telefonieren darf. Anschließend legt er einen Schilling in eine kleine Schüssel. Das Telefon ist ein schweres schwarzes Prachtstück. Schon interessant: Die Telefone sind immer kleiner und leichter geworden, man hat sie mit Tasten ausgestattet, weil das Drehen der Drehscheibe so aufwändig, dann wurden sie schnurlos – wie praktisch! Und jetzt? Jetzt blickt manch ei-ner sehnsüchtig zurück zu den großen schweren Schwarzen oder Weißen, wie man sie in alten Kinofilmen sieht und bei Manufactum für 250,– Euro kaufen kann (Warenkatalog 28, 2015).

Nicht in jedem Haus stand ein Telefon, im Feenthal stand das einzige im Grubhof. Wenn in den umliegenden Häusern oder Bauernhöfen jemand plötzlich krank wurde oder sich verletzt hatte und man einen Arzt benötigte, musste man zum Grubhof rennen, um ihn anzurufen. Und es dauerte, bis der mit seinem Jeep oder sogar der weiße Rettungswagen, die Rettung, vorfuhr. Wie weit weg sind doch diese langsamen Zeiten vom Heute mit den allzeit verfügbaren Handys!

In den frühen Sechzigern erst bekamen meine Eltern ihr erstes Telefon – ein Vierteltelefon, es gab auch Halbtelefone. Das bedeutete, dass vier Teilnehmer bzw. zwei Teilnehmer, die sich untereinander nicht kannten und von denen jeder seine eigene Telefonnummer hatte, an einer Leitung hingen. Diese die Grundgebühr verbilligenden Sammelanschlüsse hatten den Nachteil, dass die Leitung jeweils nur von einem genutzt werden konnte; wenn einer telefonierte, war sie für die anderen besetzt. Das hätte bei einem Notfall ein Pro-blem geben können, war im Normalfall aber nicht weiter störend, denn kein Sparsamer mit einem Viertel- oder einem Halbanschluss führte lange und also teure Telefongespräche.

Jetzt gehen wir die Zimmer-Nordwand entlang, wo zwischen den beiden Fens-tern zur Straße hin die schwere Pendeluhr hängt. Freitags wird ihr Glastür-

chen geöffnet und das Uhrwerk aufgezogen, dann tickt die Uhr wieder bis zum nächsten Freitag in das Zimmer hinein. Ihr Schlagwerk wird nur an Silvester für die zwölf Schläge zur Begrüßung des Neuen Jahres in Betrieb gesetzt. Unter der Uhr steht eine dunkle Kommode mit Bett- und Tischwäsche.

In der nächsten Ecke steht ein großer Schreibtisch mit vielen Schubladen. Auf dem Schreibtisch liegen ein Atlas, ein Lexikon und ein Wörterbuch (das ist die Bibliothek meiner Großeltern), liegen Papier und Papiere, Stempel und Stempelkissen, Heftmaschine Locher Löschwiege und anderer Krimskrams. An manchen Samstagnachmittagen sitzt mein Vater an diesem Schreibtisch und erledigt Büroarbeiten für die Großeltern. Ich stehe herum und lauere darauf, ihm mit einem Stempel oder der Löschwiege zur Hand zu gehen. Die Heftmaschine überlässt er mir nur widerwillig, denn damit stelle ich mich ungeschickt an und er muss anschließend die schräg verbogene Klammer wieder entfernen, mit den Fingern, dabei sticht er sich in die Fingerkuppen.

In der nächsten Wand gibt es gleich am Anfang das Fenster nach Osten und danach stehen der Wand entlang die graue Bettbank, auf der Amas kleine Großnichten sitzen, wenn sie zu Besuch sind, und direkt im Anschluss daran das Lotterbett. Das Lotterbett hat nichts mit Lotterleben zu tun, es dient keinem Müßiggänger als Liegestatt, es dient tagsüber der Ablage von Kleidern und des Nachts meiner Großmutter zum Schlafen. Und an Ostern finde ich dort hinter einem Kissen ein Osterhasi und ein Schokolade-Ei und am sechsten Dezember finde ich dort ein Nikolausi in einem Schokolade-Stiefel.

Das Lotterbett ist bis in die dritte Zimmerecke geschoben; rechts davon ist die Eingangstür in das Kabinett, der nach Süden hin gelegenen Schlafkammer meines Großvaters. Nach dieser Tür steht ein Kleiderschrank und vor ihm steht die Singer Nähmaschine und auf der steht zu Weihnachten der Weihnachtsbaum – ja, da staunt man, wie viel auf so wenig Platz stehen kann.

Die vierte Zimmerecke wird vom hohen hellgelben Kachelofen ausgefüllt, an dessen wohlige Wärme sich Ama gerne lehnt. Rechts vom Kachelofen, an der vierten Zimmerwand (Zimmer-Westwand), hängt der runde Spiegel. Vor ihm macht der Großvater öfters eine Pause bei seiner Zimmerrunde, besichtigt sich darin, cremt sich ein, rückt sich die Pullmankappe zurecht, und jedes Jahr zu Weihnachten probiert er vor ihm seine neue auf und zupft an ihr herum, weil sie partout nicht so sitzen will wie die gute alte, die die Großmutter gerade neben ihm ins Feuer des Kachelofens schmeißt.

Rechts vom Spiegel steht eine dunkle Kredenz mit Geschirr und Gläsern drin. In ihrer Nische stehen eine rechteckige schwarze Blechdose und eine runde Porzellandose in Türkis mit Sternenmuster. Nach der Kredenz sind wir wieder bei der Eingangstür – unsere Sightseeing-Rundtour ist zu Ende, wir scheren aus. Der Großvater spaziert weiter, wie aufgezogen rundum und rundum, bis ihn die Großmutter anfaucht, dass er sich setzen soll. Er gehorcht und setzt sich.

 

Wir gehen weiter. Gegenüber den Großeltern wohnt in einem einzigen klei-nen Raum die blondgelockte Frau Roth mit ihrem Buben, der ist ungefähr fünf Jahre alt und hat immer kurze Hosen an. Mit den beiden wohnt der Herr Bortwisch – glattes dunkles Haar, mit Frisiercreme (Brisk) gefettet und seitlich gescheitelt; Gesichtsverzierung: kein Schnauzer und keine Bürste, sondern ein feines Oberlippenbärtchen, wie angeklebt. Wegen der verschiedenen Namen wissen wir, dass diese drei Personen als Familie nicht echt sind.

Herr Bortwisch verlässt jeden Morgen gegen neun Uhr das Haus – heller Anzug, Hut und Spazierstock. Wohin er sich begibt, wissen wir nicht. Ich sehe ihn die Alte Straße hinaufeilen und seinen Spazierstock schwingen; dieses Bild erinnert mich an den geschmeidigen Kater Bartl, von dem Marlen Haushofer erzählt, dass er, wenn er über die Straße läuft, aussieht wie ein Mann in den besten Jahren, der es eilig hat in sein Geschäft zu kommen, nur dass ihm die Aktentasche fehle. Die fehlt auch dem Herrn Bortwisch, und überhaupt – der Herr Bortwisch schaut nicht aus wie ein pflichtbewusster Büromensch. Aber wie ein ehrlicher Arbeiter schaut er auch nicht aus, finden die Frauen im Haus. Ja, sie finden ihn in seinem Aufzug ein wenig anrüchig und sie rätseln, wo er wohl den ganzen Tag herumstrawanzt, denn er kommt erst gegen Abend wieder nach Hause; und sie spekulieren, wie er sein Geld verdient, mit welchen G’schäftln, ob er überhaupt welches verdient. Hinter vorgehaltenen Händen nennen sie ihn ein Gigerl, einen eitlen Geck und einen Luftikus, und sie verdächtigen ihn, dass er auf Kosten der Frau Roth lebt. Die wiederum verdächtigen sie, dass sie älter ist als er; bestimmt ist sie das. Und bestimmt ist sie eine Kriegerswitwe und lebt mit ihrem Sohn von einer Rente und er, der Herr Bortwisch, lebt da mit. Woher kommt der eigentlich? Also ein Hiesiger ist er bestimmt nicht, so wie er redet, wenn er redet. Redet eh kaum was. Ist der überhaupt ein Österreicher?

Und sie, die Frau Roth, diese gelockte Blondine – weder die Locken noch das Blond echt, mutmaßen die Frauen –, die takelt sich auch täglich auf, putzt sich heraus und geht ebenfalls weg, gegen Mittag und mit dem Kind; die kocht nix. Wohin die wohl gehen? Dazu werden diverse Mutmaßungen ausgetauscht.

Eines Tages brachte der Herr Bortwisch einen Hund mit, eine Art Pudel, von dem Ama behauptete, dass er Tag und Nacht kläffe. Gott sei Dank zog diese unechte Familie bald nach dem Einzug des Hundes mit dem Hund aus. Jetzt zog Ama mit ihrer Küche aus dem zweiten Raum rechts, genau gegenüber dem Hausbrunnen, in dieses frei gewordene Zimmer. Der verlassene Raum bekam den Namen Alte Küche und diente fortan als allgemeine Waschküche.

Wir kommen zum dritten Raum rechts, da wohnt Katharina Fröhlich. Hinter dem wohlklingenden Namen verbirgt sich eine dürre Gestalt, die ein dunkles Kopftuch und knöchellanges Schwarz trägt. Ihrem Zimmer entströmt ein scharfer Geruch, denn die Kathi, wie sie im Haus genannt wird, ist unten nicht mehr ganz dicht; oben angeblich auch nicht. Einmal am Tag schlurft sie in Pantoffeln mit einem leeren Kübel zum Hausbrunnen und holt frisches Wasser, und einmal am Tag schlurft sie mit einem vollen Kübel durch den Gruselgang nach vorne zur Straße und entleert ihn in den Straßengraben. Unser Haus ist noch nicht kanalisiert, alle müssen ihr Schmutzwasser nach draußen leeren. Hat sie festere Bestandteile in ihrem Kübel, geht sie damit zum Plumpsklo, denn die darf frau nicht in den Straßengraben entsorgen, das weiß auch die Kathi.

Kathis Gesichtshaut ähnelt zerknittertem weißem Seidenpapier, ihre langen Zähne stechen gelblich davon ab. Wenn sie mich sieht, schenkt sie mir ein freundliches Lächeln, das bei mir als schauriges Totenkopfgrinsen ankommt. Sie freut sich, wenn sie mich sieht, aber ich gönne ihr diese Freude nicht, ich fliehe sie, wenn ich kann, oder schaue weg, wenn wir uns begegnen – Kinder sind so ohne jedes schlechte Gewissen grausam.

Einmal reichte sie mir mit ihren knochigen Fingern eine Bensdorp Schokolade, ich nahm sie mit Grausen entgegen und warf sie in den Abort. Eine arme Frau, sagte meine Mutter. Ama hielt sich die Nase zu und zog eine Grimasse, wenn die Kathi erwähnt wurde. Heute frage ich mich: Was hat diese Frau gegessen? Wer hat für sie eingekauft? Gekocht? Gewaschen? Welches Schicksal hat sie in dieses Elend und in diese Verlassenheit gebracht? Ich erinnere mich nicht, dass sie Besuch bekommen hätte. Wie alt war sie eigentlich?

Irgendwann war die Kathi plötzlich verschwunden, ob ins Krankenhaus, ins Altersheim oder schon ins Jenseits, weiß ich nicht. Ihr Zimmer direkt hinter dem Ortgang, von dem aus es durch ein Fenster einsehbar war, wurde ausgeräumt und gründlich renoviert. Ein neuer Boden wurde gelegt, Wände Tür Fenster wurden frisch gestrichen – alles neu! Und Ama zog mit ihrer Küche dorthin. Meine Mutter fand das irgendwie ungustiös und behauptete noch jahrelang, an feuchten Tagen rieche es dort nach Kathi, beziehungsweise nach ihrem … naja, muss ja nicht ausgesprochen werden.

Solange die Kathi dort gewohnt hatte, war ein Vorhang am Fenster gewesen, aber typisch: Ama machte keinen dran, es sei dort dunkel genug. Auf dem Weg zum Abort konnte man deshalb in ihre Küche hineinschauen. Wenn drinnen das Licht brannte – tat es meistens, weil: Stromsparen kennen die ja nicht –, sah man auf einem Stuhl die Lavur mit der eingeweichten Wäsche stehen – vom Einweichen ist noch keine Wäsche sauber geworden. Oder man sah den Großvater beim Geschirrabtrocknen, das kommentiert meine Mutter mit: Also, normal mocht a Mau a sou a Orbeit net, also da Vata dadat souwos nia (ihr Vater täte so etwas nie).

Nachdem Ama mit ihrer Küche zum zweiten Mal umgezogen war, wurde ihre zweite Küche, das ehemalige Roth-Bortwisch-Zimmer, ein Büro, denn meine Großeltern waren beide selbständig und Hausbesitzer. Da gab es stets irgendwelche Schreibarbeiten zu erledigen, zum Beispiel mussten für die Mie-ten, die ihnen jeweils am Monatsersten in bar übergeben wurden, Bestätigungen ausgestellt werden. Ein paar Jahre später zog ich in dieses Zimmer ein – ich sollte in Ruhe lernen können.

So, das Erdgeschoss sind wir durch. Vielleicht noch zu erwähnen ist der über den Ortgang zu erreichende Abort, einer für fast alle im Haus. Davor stehen häufig Dschrawodlerinnen, weshalb einem dort nicht die Inspirationen kommen können, von denen Tanizaki Jun’ichiro und Nabokov schreiben. Was Tanizaki Jun’ichiro schreibt, können Sie bei ihm oder in Feenthal nachlesen; Nabokov schreibt: … von dieser Ecke des Hauses aus (dem Abort) konnte man den Abendstern sehen und die Nachtigallen hören, und an diesem Ort verfasste ich meine unumarmten Schönen gewidmeten jugendlichen Verse. Ehrlich gesagt, mir kamen auf unserem Abort, auch nachts ohne Dschrawodlerinnen vor der Tür, keine Verse in den Sinn. Ich stierte traumverloren vor mich hin oder durch das Fensterchen in die Schwärze, begann zu frieren und rannte ins Bett zurück.

Übrigens, was es doch alles gibt zu dem Thema Abort. Vor einiger Zeit las ich in der Frankfurter Rundschau: Tempo sucht Deutschlands öffentliche Vorzeigetoilette. Bitte fotografieren. Einsendeschluss: 28.2.2013. Aus dem Internet toilettenpapier.tempo.net/Vorzeigetoilette erfahre ich, dass die Tempo-Jury aus den zehn meistgewählten Toiletten drei Sieger auswählen wird. Die erhalten dann eine Auszeichnung in Form einer Plakette, da steht drauf: Stilvollstes stilles Örtchen 2013. Dieser Titel wird – grammatikalisch gesehen fälschlicherweise – dreimal vergeben, und dazu erhalten die Titelträger noch je tausend Rollen des neuen 4-lagigen Tempo Klopapiers.

Dazu möchte ich anmerken: Erstens, unser Thorburg-Abort war öffentlich, nicht nur die Hausbewohner, sondern jeder, der von der Straße in großer oder kleiner Not herbeigeeilt wäre, hätte ihn und hat ihn benutzen dürfen. Zweitens, ich besaß damals schon einen Fotoapparat mit den Einstellungen Sonne und Wolke und nah und fern und hätte unseren Abort fotografieren können, zum Beispiel vom Garten her mit einem ins Bild hineinragenden Zweig. Aber leider: Wieder einmal habe ich von nichts gewusst und bin zur falschen Zeit (damals statt heute) am falschen Ort (Österreich statt Deutschland) gewesen. Dabei hätten wir uns über echtes Klopapier von der Rolle statt der harten Zeitungspapierblätter, die man immer erst lange und vorsichtig weich rubbeln musste, alle gefreut, und auch über eine glänzende Plakette. Die hätten wir außen an die Tür schrauben können, da hätte sie nächtens ein wenig geblinkt, da wäre ich nicht, wie einmal geschehen, tramhapert (verschlafen) gegen den Türstock gerannt und mit blutiger Nase zu mir gekommen. Ach ja, hättenhättenhättewäre !

Wir gehen weiter durch die Thorburg – sollen wir aufi oder obi? Gehen wir obi, die enge gewundene Holzstiege hinunter zu den Kellerräumen. Vom Keller-Vorhaus führt die hintere Haustür nach draußen in den Hof und die Kellertür nach hinten in die drei Gewölberäume ohne elektrisches Licht, mit Fußböden aus gestampfter Erde und eisernen Ringen an den Wänden, deren Zweck wir nicht mehr kennen. In diesen Räumen sind Kohlen und Erdäpfel und unser Regal mit den Vorräten in Gläsern. Rechts und links vom Vorhaus liegt noch einmal jeweils ein Raum mit einem Fenster zum Hof. Im kleineren der beiden Räume wird Holz gelagert; früher war darin Opa Rumplers Schusterwerkstätte. Dort ist er gesessen und hat die Weiße Frau vorbeihuschen sehen, und dann hat er durch das Fenster gesehen, wie sie sich draußen im Hof aufgelöst hat – ihr Fading-away hat er gesehen, ganz deutlich. An der Seitenwand des kleinen Raumes, nach Osten zum Gassl hin, gibt es ein jetzt zugemauertes Riesenfenster. Vielleicht wurden da früher einmal die kaputtenSchuhe hinein- und reparierten Schuhe hinaus- und des Schusters Lohn hinein- und das Wechselgeld hinaus- und die neuesten Neuigkeiten hinein- und hinausgereicht.

Im größeren der beiden Räume hausen Herr und Frau Steiner, ein Ehepaar. Die beiden gehen und kommen über die hintere Haustür und haben ihren eigenen romantischen Abort im Hof. Ich sehe sie selten. Wenn ich sie grüße, geben sie mir keine Antwort, schauen so komisch vor sich hin und durch mich durch. Die zwei sind mir nicht geheuer, ich drücke mich hurtig an ihnen vorbei. Der Mann, schwarzborstig und braunhäutig – a schiacha Louta, sagt meine Mutter – schaut dem Bierführer ähnlich, der Amas Gasthaus im Feenthal beliefert hat, aber er ist ein Rauchfangkehrer (Schornsteinfeger) und er lacht nie. Seine Frau trägt das glatte aschblonde Haar ganz kurz und hat auf einer Wange ein großes Feuermal. Sie übt den Beruf eines Maurers – ei-ner Maurerin aus. Wüsste man nicht, dass sie des Rauchfangkehrers Frau ist, könnte man sie für einen kleinen Mann ohne Bartwuchs halten – also auch nicht eindeutig Mann. Ein fremdartiges Wesen in Hosen, das ist sie für mich gewesen.

Diese beiden, die ich stets nur in Arbeitskleidung gesehen habe, zogen bald aus. Ihr Name blieb dem von ihnen bewohnten Raum erhalten, der hieß fortan

Steiner-Keller. Meine Großeltern und meine Eltern nutzten ihn zur Lagerung alter Möbel – als ein Mobiliendepot hinter dem Hof, unterscheide davon das Hofmobiliendepot (Wien).

Bevor wir jetzt treppauf zurückgehen, machen wir einen kurzen Abstecher in den Hof hinaus. Wir lümmeln uns aufs Geländer über der Stützmauer, an die sich ein Aprikosenbaum lehnt, und schauen in den sommerlichen Garten hinunter: Blumen, Gartenbeete mit Salat und Gemüse, Beerensträucher, Leinen für die Wäsche, ein Apfelbaum mit Tisch und Bank darunter, eine saftige Wiese – Augenweide. Wir genießen den Ausblick und die frische Luft, denn durchs Haus ziehen nicht immer frische Gerüche.

Wir gehen die Stiege wieder aufi und weiter die gleiche enge gewundene Holzstiege in den ersten Stock. Dort wohnen wir, ich und meine Eltern, und wie wir dort wohnen, habe ich schon erzählt. Uns gegenüber in zwei Räumen, der größere ist wie bei uns abgeteilt, aber bei denen nur mit einem Vorhang, wohnt die Familie Trappl: Vater, Mutter und zwei halbwüchsige Söhne, etwas älter als Hemu & Wene und ganz desinteressiert an mir. Wenn diese Buben miteinander raufen, hören wir’s poltern, und in das Holterdiepolter hinein

schreit die Mutter, droht ihnen Schläge mit dem Pracker (Teppichklopfer) an. Wenn sie tatsächlich hinhaut, erwischt sie keinen, denn vor dem mütterlichen

Schlag springen die beiden behände auseinander, und da Pracka schnalzt ins Leere. Woher ich das weiß? Vielleicht habe ich durch die halboffene Tür gespäht oder durchs Schlüsselloch oder gar durch die Wand – Kinder können so etwas. Der erzieherische Einfluss, den Frau Trappl mit ihrem Geschrei unter Zuhilfenahme des Prackers nimmt, geht also ins Leere, die Herren Söhne lassen sich durch die mütterliche Intervention immer nur kurz vom Raufen abbringen. Wenn die Buben heimkommen oder fortgehen, lassen sie die Tür beim Schließen los und geben ihr einen Schubs, da fällt sie zu und es tut ei-nen Schlag. Bei dem Schlag zucken wir, die wir gegenüber wohnen, jedes Mal zusammen. Einmal ging meinem Vater doch wirklich der Hut hoch, obwohl er gar keinen aufhatte, so krass war der Schlag gewesen. Da ist mein Vater hinübergegangen und hat den Buben gezeigt, wie sie die Tür bitte ordnungsgemäß schließen könnten. Doch auch diese Intervention, das Einschreiten meines Vaters, blieb ohne positives Ergebnis, die Buben gewöhnten sich keine leisere Türschließtechnik an. Wir waren es, die sich an die Schläge gewöhnen mussten, und an ihr Getrappel durchs Stiegenhaus, und ans Gepolter in ihrer Wohnung.

 

Frau Trappl ist umgänglich und eine hübsche Frau. Aber sie trägt im Haus immer so einen grauen Geschäftsmantel, wie ihn manche Verkäufer und Verkäuferinnen anhaben, und ihr langes dunkles Haar hat sie aufgeknotet und mit einem nach oben gebundenen Kopftuch bedeckt. Einmal die Woche geht sie mit ihren Fleckerlteppichen (Flickenteppichen) und dem Pracker in den Hof hinunter. Sie hängt einen Teppich über die Teppichstange und haut drauflos, dass es durch die Gärten und durch die Alte Straße knallt, und man es noch unten in der Bachgasse und oben in der Burggasse hören kann. Der Schweiß rinnt ihr übers Gesicht, immer wilder haut sie zu, ich glaube, sie denkt dabei an ihre Söhne, vielleicht nicht nur. Nachdem sie ihre drei Teppiche durchgehauen hat, ist sie ganz gelöst und dschrawodelt und lacht mit den Nachbarn.

Herr Trappl ist auf Frühschicht oder auf Nachtschicht; wenn er zu Hause ist, schläft er einen tiefen Schlaf. Wir können ihn ab und zu durch die Wand schnarchen hören. Was sein Äußeres betrifft, kann man ihn mit den Herren Egger und Pi aus dem Feenthal in eine Schachtel stecken: drei Pykniker mit Hut und mit Bart zwischen Oberlippe und Nase, und alle drei haben sie eine größere Ehefrau – einer sogar quasi zwei, beide größer als er.

Im Obergeschoss der Thorburg gibt es noch eine dritte Wohnung, sie liegt, wenn man die Treppe hochkommt, gleich geradeaus. Sie besteht wie die der unechten Familie und die der Kathi im Erdgeschoss und die der Eheleute Steiner im Kellergeschoss und die der Großtante im Dachboden aus einem einzigen Raum; wir, die Großeltern und die Familie Trappl sind im Vergleich dazu flächenmäßig privilegiert. In diesem einzigen Raum, der Küche Esszimmer Wohnzimmer Schlafzimmer Bad ist, wohnt ein kinderloses Ehepaar, der ehemalige Kleidermacher O. und seine Frau. Herr O. hat einen voluminösen Schnauzer wie mein Großonkel Peter und im Mund eine Pfeife wie mein Opa K., und wie diese beiden schmunzelt er, wenn er mich sieht.

Dieses Schmunzeln alter Männer, gibt es das heute noch? Mir kommt vor, ich habe so ein Schmunzeln und dazu den verschmitzten Blick aus meist schon ziemlich versteckten Augen lange nicht mehr gesehen. Das könnte freilich daran liegen, dass es vor allem ein Geschenk an Kinder und junge Leute ist – ich meine ganz junge Leute, nicht solche wie ich. Es könnte aber auch daran liegen, dass so ein Schmunzeln einen gelassenen Ruhezustand des Produzenten voraussetzt. Der Schmunzler sitzt oder steht oder spaziert gemächlich dahin und schaut sich um. Heute, die älteren Herren, die joggen, fahren mit dem Rad, strampeln auf dem Hometrainer, ertüchtigen sich. Da bleibt wenig Muße zum Schauen und zum Schmunzeln.

Herr O. sitzt täglich auf dem Schemel auf dem Ortgang und schmunzelt mich an. Manchmal spricht er mich an, oder er redet mit der Katze, die auf seinem Schoß schläft, oder er sagt etwas zu seiner Frau, wenn sie bei ihm vorbeikommt. Verstehen tu ich ihn nie. Seine Wörter bleiben im Schnauzer hängen und seine Artikulation ist durch die Pfeife im Mund beeinträchtigt und vermutlich auch, weil er törisch (taub) ist. Und spindeldürr ist er wie’s Schneiderlein im Märchen. Herr O. ist von seiner Frau auf den Ortgang verbannt, sie erlaubt ihm nicht oben bei ihnen zu rauchen, außerdem sitzt er ihr dort nur im Weg herum. Ihr Wohnraum hat keine fünfzehn Quadratmeter, Gott sei Dank ist er günstig, nämlich quadratisch, geschnitten. Es steht darin, was sie unbedingt brauchen: ein Herd, in dem täglich eingeheizt wird, weil frau darauf kocht, ein Tisch und zwei Stühle, ein Kasten fürs Gewand und eine Kredenz fürs Geschirr.

Einmal bekam das Ehepaar O. eine neue gebrauchte Kredenz geschenkt, sehr gut erhalten. Die Frau vom O. konnte sich aber nicht von der alten trennen, die war ja noch gut. Deshalb standen fürderhin zwei Kredenzen nebeneinander. Das ging? Ich kann es mir nicht mehr recht vorstellen, obwohl ich es mit eigenen Augen gesehen habe; nicht gesehen habe ich, was in die zweite Kredenz hineingeräumt wurde. Vielleicht Schuhe, denn einen Schuhschrank haben sie nicht, brauchen sie nicht für ihre zwei bzw. vier Paar Schuhe. Jahr-aus jahrein tragen sie hohe Schnürschuhe und zu besonderen Anlässen ihre guten Halbschuhe, die die übrige Zeit säuberlich geputzt und in Schachteln verpackt unter den Betten stehen, zumindest dort gestanden sind bis zum Einzug der zweiten Kredenz.

Das Ehepaar O. ist im Shabby Chic-Stil eingerichtet: Jedes Möbelstück ist von Hand gefertigt und hat seine eigene Geschichte. Und weil nichts so richtig zusammenpasst, passt es wieder – sie haben’s gemütlich; und schlank, wie sie sind, können sie die engen Pfade durch ihre Möbellandschaft begehen ohne anzuecken.

Bücher? Haben sie Bücher? Bestimmt, mindestens drei: ein Gebetbuch, denn die Frau vom O. ist eine emsige Kirchengängerin, ein Doktorbuch, Der Hausarzt oder so ähnlich, und ein Kochbuch. Letzteres hat die Frau vom O. zur Hochzeit geschenkt bekommen und ungefähr einmal im Jahr schaut sie hinein. Zusätzlich, als Lesestoff für abends im Bett, hat sie die Romanheftchen, die ihr Nachbarinnen schenken; und regelmäßig lesen sie und ihr Gatte die Wochenschau – immer die von der Vorwoche, die meine Großmutter an sie weitergibt.

Das Ehepaar O. hat auch ein Kind – ein Katzenkind, die graue Murli. Dass du dich an den Namen noch erinnerst!, wundert sich meine Freundin Margret. Aber das ist nicht schwer, denn viele Katzen hießen damals so, oder so ähnlich. Die Murli hat ihr Milchschüsserl im Vorhaus. Streicheln lässt sie sich nicht von mir, sie flieht mich, wie ich die Kathi – so gleicht sich alles aus im Leben. In die hintere Haustür ist eine Luke geschnitten, durch die kann sie kommen und gehen, wie es ihr beliebt. Nachts ist sie unterwegs, auf der Jagd nach Mäusen im Keller und in den Gärten; erwischt sie gegen Morgen einen Vogel, wird sie von meiner Mutter als Kanaille beschimpft. Wenn es ihr draußen zu kalt oder zu nass ist oder es ihr aus anderen Gründen nicht mehr passt, stellt sie sich vor die Tür ihrer Eltern und fordert jämmerlich maunzend Einlass. Dann schimpft sie mein Vater ein Mistviech. Tagsüber schläft das Murli-Mistvieh gern auf dem Schoß vom Herrn O. oder im Ehebett.