Buch lesen: «Vom letzten Tag ein Stück»

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© 2021 – e-book-Ausgabe

Rhein-Mosel-Verlag

Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel

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www.rhein-mosel-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-89801-909-5

Ausstattung: Stefanie Thur

Titelbild: »Auflösung« von Melanie Ziemons-Mörsch

Lektorat: Michael Dillinger

Korrektorat: Melanie Oster-Daum

Autorenfoto: Michael Spiegelhalter

Ute Bales

Vom letzten Tag ein Stück

Roman

RHEIN-MOSEL-VERLAG

Das Land, wo meine Rosen blühn, wo meine Freunde wandelnd gehn, wo meine Toten auferstehn, das Land, das meine Sprache spricht – oh Land, wo bist du?

Franz Schubert, aus: »Der Wanderer«

1.

Wenn ich die Augen schließe, ist alles wieder da: unser Berg, der Ginster, die Schlehenhecken, der Hühnervogel, der anderswo Mäusebussard heißt.

Auch Bertram ist wieder da. Er läuft mir entgegen, über die Felder, mit wehenden Haaren und geröteten Wangen. Er lacht und winkt. Ich will ihm folgen, da sehe ich das halbe Dorf herannahen, höre das Getrappel ungezählter Schuhe auf der Straße nach Norden, immer nach Norden.

Bepackt mit Koffern und Taschen eilen Männer und Frauen, Alte und Kinder in Richtung des Berges. Ein Auto überholt mich, wirbelt Staub auf, fegt mich zur Seite. »Weiter, weiter!«, schreit jemand, stößt mich mit seinem Koffer in die Rippen und, bemüht, Bertrams tanzende Mütze im Blick zu behalten, lasse ich mich mitreißen, laufe den anderen hinterher, denn die anderen, die werden schon wissen, wo es hingeht. Sie stoßen und schieben mich; ich werde Teil dieser Menge, die sich lockert und wieder dichter wird, keuchend und kommandierend, wogende Köpfe und Schultern, ein Wirbel von Beinen, stampfend und fordernd, unterwegs entlang der schmutzigen Ackerränder, hinauf auf den Gipfel.

Oben auf dem Kamm stehen wir dicht an dicht, außer Atem, und starren, die Hände über den Augen, in den Himmel, der sich zuzieht. Der Horizont glimmt rot und drohend hinter einer Wand aus Wolken. Die Wolken sind fast schwarz und lassen hier und da weißes Licht durch, das anders ist als Nebel, feiner und wärmer. Jetzt erst fällt mir auf, dass auch die Tiere da sind. Hühner und Schweine, Kühe, auch Truthähne. Die Tiere sind unruhig. Es wird bald regnen, ich kann es spüren, die Luft hat sich verändert.

Bertram steht neben mir mit seinem Feldstecher und hat schon ein ganz schiefes Gesicht vom Schauen durch das Rohr. Ich frage ihn, was er sieht, aber er reguliert nur hektisch die drehbaren Linsen seines Glases und richtet den Blick weiterhin nach oben. Ich entdecke meine Tante und winke ihr. Sie trägt ein Tuch aus Spinnweben um den Kopf und kramt in ihrer Tasche. Dann schwenkt sie eine Tafel Schokolade und ruft: »Fang auf! Fang doch!«, aber ich kann nicht zu ihr, zu viele Leute sind es und die Tante ruft und lacht und schwenkt die Schokolade und ihre weißen Zähne blitzen.

»Am Jüngsten Tag treffen wir uns oben auf dem Berg«, sagte mein Vater und seine Worte machten Mut. »Niemand braucht Angst zu haben, wenn die Erde bebt, der Himmel bricht, die Gräber umgedreht, die Seen ausgegossen werden und die anderen Berge wie Wollbüschel davonfliegen. Wir werden alle zusammenstehen. Dicht beieinander. Auch die Tiere werden dort sein. Pferde und Kühe, sogar die Hühner. Oben auf dem Kamm werden wir stehen und uns bereithalten für den allerletzten Tag. Und für die Nacht ohne Morgen.« Das sagte mein Vater und ich konnte nicht aufhören, mir vorzustellen, was dann kommen würde.

2.

Die Zeit ist schneller als ich. Sie hat mich längst überholt, hat alle überholt, sogar Bertram, von dem ich immer dachte, dass er nie einzuholen sei. »Vielleicht sind wir die Letzten«, höre ich ihn sagen, und ich weiß, was er meint.

Bertram sagt, es gibt zwei Sorten von Leuten in unserem Dorf. Diejenigen, die meinen, dass alles in der Welt besser, größer und bedeutender ist als das, was wir haben. Und diejenigen, die allem, was wir haben, eine besondere Bedeutung zuschreiben, die Dinge sozusagen erhöhen, indem sie sagen: Hör zu, bei uns daheim, da blüht jetzt der Ginster und Vulkane haben wir auch, und Quellen, deren Wasser rund um den Globus verschifft wird, und die Wiesen sind grün und die Kinder grüßen einen noch, wenn man die Straße entlang geht und aus jedem Haus geht einer mit, wenn einer gestorben ist und segnet mit einem Palmstrauß das Grab, im Namen des Vaters. Anders als in der Stadt, wo sich die Leute nicht kennen und es vorkommen kann, dass Tote tagelang in der Wohnung liegen, so lange, bis sie stinken und in erbärmlicher Einsamkeit auf einem Rasenstück verscharrt werden.

Bertram gehört zur zweiten Sorte. Er meint, dass es eine Bedeutung hat, wann und wo ein Mensch geboren ist und dass er genau dort auch hingehört. Wie ein Baum.

Ich hingegen hätte gerne woanders gelebt. In einer großen Stadt mit weitläufigen Parks, breiten Straßen und Häusern mit Aufzügen, mit einer Oper und Theatern, Kaufhäusern mit mehreren Galerien und Cafés, in die Dichter und Musiker einkehren.

Für Bertram sind die Städte keine Option. Es gibt keinen Platz dort, meint er, nicht für einen wie ihn. Es sei alles dicht an dicht, Häuser und Autos und Menschen, eine wabernde Masse, anonym und ohne Konturen. Er hasst die gleichförmigen Kulissen der Wohnblocks, die verschachtelten Hochhäuser, echauffiert sich über hässliche und menschenüberfüllte Betonklötze, über monotone Straßen und unterirdische, nach Urin stinkende Passagen, über abgezirkelte Gärten und Parkanlagen mit künstlich angelegten Beeten. »Was denken sich die, die so was bauen? Wie soll ein Mensch in so einem Siedlungsbrei leben, geschweige denn sich dort mit irgendwas verbunden fühlen?« Sogar über Blumenkästen auf von Auspuffgasen schwarz gewordenen Balkonen regt er sich auf. Nie hätte er in einer Stadt leben können.

Früher hat Bertram auf dem Hof mitgeholfen, aber seit dem Tod der Eltern sieht er darin keinen Sinn mehr. Er hat das Vieh verkauft, aber die Felder behalten, obwohl er sie nicht nutzt. Im Dorf sagen alle, dass es mit der Landwirtschaft vorbei ist und er getrost verkaufen kann. Aber Bertram behält seine Felder. Wer weiß, was noch kommt. Er meint, dass, solange er sie behält, die Felder dann wenigstens Felder bleiben dürfen.

Bertram wohnt unterhalb unseres Berges, im letzten Haus des Dorfes. Oder im ersten. Wie man es sieht. Jedenfalls abseits. Das Grundstück umfasst mehrere Morgen. Vor dem Haus verteilen sich auf einer Wiese Obstbäume, die von einem morschen Zaun umgeben sind. Im Herbst biegen sich die Äste unter der Last der Früchte. Das Obst wächst verschwenderisch. Eimerweise Äpfel. Saftige, süßsaure Früchte.

Im Garten hinter dem Haus hat Bertrams Vater vor Jahren Kartoffeln, Rüben, Bohnen und Erbsen gezogen, aber auch Spalierobst wuchs dort und Goldruten, die mit ihrem Gelb den Nachsommer schmückten. Das Schönste war ein Mirabellenbaum, den es leider nicht mehr gibt. Er gehörte zu meiner Vorstellung vom Paradies. Im August hingen süße, runde, rotgesprenkelte Früchte an seinen Zweigen. Dann brummte der Baum vor Bienen und Wespen, und ich durfte mir die Taschen füllen, so oft ich wollte.

Bertrams Haus ist geräumig mit vielen Zimmern. Die Räume haben niedrige Decken und sind vollgestopft mit Dingen, die mehrere Generationen angesammelt haben und von denen sich Bertram nicht trennen kann. In Stall und Scheune rosten alte Gerätschaften. Im Schuppen mit dem Wellblechdach stehen ein alter Pflug und ein Schubkarren mit platten Reifen, dazu ein Trecker, der entsetzlich stinkt, wenn man ihn startet. Holzbretter lehnen an der Wand und breite Rollen Maschendrahtzaun. Winterreifen liegen aufgetürmt. Straßenbesen warten mit abgeschrubbten Borsten. Auf der Fensterbank verstauben Mittel gegen Kartoffelfäule.

An seinem Haus hat Bertram nie etwas verändert, nicht einmal eine Wand gestrichen. Obwohl er jedes Jahr einen Abreißkalender von der Sparkasse geschenkt bekommt, steht der in der Küche auf dem 6. Juni 1978. An diesem Tag starb seine Mutter. Der Kalenderspruch passt für die Ewigkeit: Solange man lebt, ist nichts endgültig.

Ansonsten schmusende Porzellankatzen und ein Nikolaus aus Plüsch zwischen Tassen und Eierbechern auf der Ablage über der Spüle. In der Ecke eine Bank und zwei Klappstühle um einen Tisch mit einer geblümten Plastiktischdecke. Der Herd ist alt und voll eingebrannter Stellen auf den Kochfeldern. Die Kühlschranktür hängt schief. Kleine Zettel sind aufgeklebt, mit Terminen, die längst vergangen sind. Die Resopaloberfläche des Küchenbuffets ist matt geworden, die Schubladen schließen nicht. Die Schiebetüren der Hängeschränke haken, aber das ist Bertram egal. Das einzig Schöne in der Küche ist ein gusseiserner Ofen aus der Eisengießerei in Quint, mit Löwenfüßen und einem verzierten Aufsatz. Ich habe nicht erlebt, dass er benutzt wurde.

Im Wohnzimmer hat sich nie einer aufgehalten. Düster ist es dort, schon wegen der dichten Vorhänge. Zinnkrüge stehen in einer Schrankwand aus Eiche massiv neben Vasen aus Bleikristall. Daneben ein Röhrenfernseher auf einem Holzgestell. Zwei schwere Sessel sind um einen Couchtisch mit Marmorplatte gruppiert. An der Wand Karnevalsorden, die der Vater gesammelt hat und ein Foto der Abtei Maria Laach. Die Bücherregale reichen vom Boden bis an die Decke. Die Bretter biegen sich vor Ordnern, Heftchen, losen Blättern und Fotoalben. Die Bücher stehen ohne System; manche sind mit dem Rücken hineingeschoben worden, so dass man die Titel nicht lesen kann. Es sind gute Sachen dabei: Thomas Mann und Balzac, Keller und Raabe, Tolstoi und Dostojewski, alles von Storm und Fontane, ebenfalls von Rilke. Die Bücher haben braune Flecken. In manchen stecken Lesezeichen.

Bertrams Zimmer ist das Chaos selbst. Sogar an heißen Tagen ist es klamm dort und riecht nach Holz und Winter und Räucherstäbchen. Spinnen leben sorglos.

Über der Tür hängen ein grauer Arbeitsanzug und ein kariertes Flanellhemd. Neben dem Bett, auf dem Boden, liegt ein Kassettenrekorder mit geöffneter Klappe. Daneben steht eine Rotweinflasche, in der eine Kerze steckt, die das Etikett zugetropft hat. An einer mit Stoff bespannten Lampe dreht sich eine Papierblume. Postkarten sind an die Wand geklebt: Grüße vom Bodensee und von den Kanarischen Inseln. Dahinter stecken Vogelfedern. Vor dem Nachtschränkchen liegt ein filzig gewordenes Schaffell. Auf der Fensterbank staubt ein Sammelsurium: ein Flummi, eine Taschenlampe, ein Stück Kordel, eine Glühbirne, eine Muschel und ein abgegriffenes Tütchen Natron.

Rechts vom Schrank und unbedingt erwähnenswert: Bertrams Gitarre und das Klavier der Marke Irmler, schwarz poliert mit goldenen Medaillen.

Bertram besitzt eine ungewöhnliche Plattensammlung. Er hat alles von Miles Davis, Dizzy Gillespie, Thelonious Monk und Charlie Parker. Um eines seiner Stones-Alben beneiden ihn alle: die Originalausgabe von Sticky Fingers, die mit der Jeans und dem Reißverschluss. Auf CDs verzichtet er, schwört auf die Qualität seines Plattenspielers.

Bertram steckt in einer anderen Zeit. Anders als meine sind seine Erinnerungen Teile der Gegenwart. Alles, was passiert, ist für ihn eine Folge von Verkettungen und hat immer eine Ursache. So glaubt er, dass das Haus, in dem er wohnt, Teil einer unendlichen Geschichte ist, so wie er selbst. Ein Netz von Zusammenhängen eben, mit unzählbaren Verzweigungen. Er ist sicher, dass er sich in einem Raum bewegt, der in seinem Inneren längst angelegt ist und dass dieser Raum etwas von ihm erwartet, dass er sich also nicht umsonst zu exakt dieser Zeit genau hier aufhält. So ähnlich sagt er das.

Seit die Eltern tot sind, hat er sich keine Klamotten mehr gekauft. Er meint, dass man der Kleidung Zeit geben müsse, sich dem Träger anzupassen und man sie deshalb nicht allzu häufig wechseln dürfe; er bleibt bei Jeans mit Nietengürtel und Tennissocken, einer abgeschabten Lederjacke und seinem Pferdeschwanz, durch den sich früh schon graue Strähnen ziehen. Sein Gesicht ist mager und sieht besonders an den Wangenknochen so aus, als hätten sich alle Muskeln dort versammelt. Eine Haarsträhne hängt ihm permanent in die Stirn, teilt das Gesicht und scheint von einer Kerbe am Kinn gleichsam fortgesetzt zu werden. Die Augen sind grau und nachdenklich, jedenfalls oft. Der schwarze Pulli, den er fast immer trägt, ist an den Ärmelbündchen geriffelt und löchrig. Seine Brille – das Gestell hat einst dem Großvater gehört – hält dank transparentem Klebeband. Die Fingerspitzen, besonders Zeigefinger und Mittelfinger, sind braun vom Nikotin selbstgedrehter Javaanse Jongens. Er dreht immer mehrere Zigaretten auf Vorrat, weil der blondkräuselige Javaanse so schnell austrocknet und ins Pulvrige wechselt, obwohl Bertram zur Tabakbefeuchtung Apfel- oder Möhrenscheibchen in die Packung legt.

Bertram fährt einen VW-Bus, mit dem er in jungen Jahren nach Indien wollte, eine Reise, die er schließlich trampend realisierte und von der er außer Gelbsucht, die er sich bei einem Tätowierer eingefangen hatte, ein anderes Lebensgefühl mitbrachte.

Bertram lebt allein. Allenfalls hätte er mit einer Frau so leben wollen wie Sartre mit Simone de Beauvoir. Frei. Heiraten und Familie, nein, das ginge nicht, sagt Bertram.

Obwohl ich ihm zu einer Waschmaschine geraten und auch erklärt habe, wie man 30-, 40- und 60-Grad Wäsche sortiert, füllt er von Zeit zu Zeit die Badewanne mit Wasser, streut Waschpulver hinein, weicht Kleidung, Handtücher, Unterwäsche und Bettbezüge in bläulichem Schaum, walkt alles durch, wringt die Stücke, bis seine Hände rot werden, und behängt die Leine auf der Wiese.

Waschmaschinen kauft man nicht, sagt er. Man müsse nur abwarten, es gäbe genug davon, Luxusmüll. Irgendwann würde er eine finden, abgestellt irgendwo an der Straße, mit kleinen Defekten, die leicht auszubessern wären. So sei es auch mit Fernsehern. Die kaufe man genauso wenig. Sobald es kleine technische Änderungen gäbe, bräuchte man nur auf den Sperrmüll zu warten.

Bertram nennt unser Dorf ein Kuhdorf. Ich widerspreche. Ein Kuhdorf ist unser Dorf nicht, denn Kühe gibt es kaum noch, jedenfalls keine glücklichen. Die, die noch da sind, leben zwei Kilometer entfernt, gehören einem holländischen Milchbetrieb und haben noch nie den Himmel gesehen. Trotzdem schreibt der Betrieb ›Weidekühe‹ auf die Milchtüte. Die Kühe dort werden jeden Tag dreimal gemolken, nicht, wie es sich gehört, zweimal. Ich habe gelesen, dass es Hochleistungskühe sind, die rund 18.000 Liter Milch pro Jahr geben, was Bertram für unmöglich hält. Das wären nämlich im Schnitt 50 Liter pro Tag. Eine glückliche Kuh auf der Weide gibt nur 20 bis 25 Liter Milch. Das ist den Holländern zu wenig. Das geht zu langsam. Schneller muss es gehen, schneller. Kilometerweit stinkt Gülle. Die Weiden sind voll davon.

»Die Kühe haben zu tun«, sagt Bertram, verzieht den Mund und schiebt ein leises Pfeifen durch die Zähne. Während er nach den Pflanzen auf dem Fensterbrett sieht, mit den Fingern die Erde um die Wurzelstöcke lockert und dann verschrumpelte Blätter abknickt, meint er, dass sich sein Vater im Grab umdrehen würde, wenn er wüsste, wie die Leute heute mit dem Vieh umgehen. Aber das bezweifle ich. Bertrams Vater ist nämlich eingeäschert worden, und es steht fest, dass für Eingeäscherte dieser Spruch nicht gelten kann.

3.

Noch klingt in meinem Dorf das Lachen und Schwätzen der einstigen Bewohner wider.

Unser Dorf: zwei Bäche, ein Fluss. Oos, Dreesbach, Kyll. Überhaupt ein Netz von Bächen und Gerinnen, die alle der Kyll zustreben, wo früher in tiefen Tümpeln die Forellen standen und ich mich mit meinem Vater an Sommerabenden durch den Wildwuchs der Böschungen kämpfte und vom funkelnden Ufer aus, in der Schnakenwildnis, Aalschnüre auslegte, die wir am frühen Morgen wieder einholten.

Eine Quelle haben wir auch. Wir nennen sie Drees. Ein Dreesmännchen, uralt und hutzelig, mit blauem Hut, hat früher unten gesessen und Blasen heraufgeschickt. Man brauchte nur Geduld. Es zeigte sich nicht gerne. Es wohnte dort, wo die Tiefe schwarz und noch nie ein Mensch hingekommen ist, nicht einmal die Feuerwehrleute, die jedes Jahr den Brunnen reinigen. Die Blasen im Drees sind allerdings schwächer geworden.

Dann gibt es noch einen Berg, oder besser, einen Vulkan, von dem noch die Rede sein wird. Und natürlich Straßen: Prümer Straße, Oberdorf, Auf Scheid, Auf der Hütte, Dahlienweg, Klosterstraße, Denkelseifen und der Entenseifen mit einer Metallbaufirma. Das Dorf ist zerschnitten. Drei Teile, Scheed und Blitzhiwwel sind durch einen Bach und eine Bahnlinie voneinander abgetrennt, ein anderer Teil, die Hill, durch einen anderen Bach und eine vielbefahrene Straße. Wer sich nicht auskennt, könnte meinen, dass zumindest der eine Teil nicht mehr zum Dorf gehört, was genaugenommen auch richtig ist, denn das gesamte Dorf ist eingemeindet und gehört zu einer nahen Stadt, die berühmt ist für ihr Mineralwasser und ihren Namen vom Geröll und Gestein hat, das es hier in Massen gibt. Die Stadt ist kaum 30 Minuten Fußweg entfernt und klein, vielleicht 7000 Einwohner, weswegen man sie bei uns den Flecken nennt.

Kommt man von diesem Flecken her, sieht man von unserem Dorf zuerst die Burg mit dem Kastanienbaum. Es ist eine Wasserburg aus dem 13. Jahrhundert, unzerstört, aber unzugänglich für die Leute, die hier wohnen. Gegenüber steht ein altes Haus, das früher zur Burg gehörte. Dort lebt Werner mit seiner Frau. Sie haben das Haus so behandelt, wie man mit alten Sachen umgehen soll: vorsichtig. Das Haus sieht schön aus. Ich denke es immer, wenn ich dort vorbeikomme. Werner kümmert sich auch um die Burg, sorgt dafür, dass sich das Wasserrad der Mühle weiterdreht und das Gemäuer nicht verfällt.

Im Oberdorf sind die alten Häuser rar geworden. Viele hat man abgerissen. In der Klosterstraße gibt es noch welche. In einem wohnt der Küster, Berni, ohne den unser Dorf nicht vollständig gewesen wäre. In einem anderen hauste Zeitungshanni, der vorzeiten in aller Frühe, einen schwarzen Sack auf dem Rücken, von Tür zu Tür zog und die Trierische Zeitung verteilte.

Die alten Häuser, die mit Scheunen und Ställen, hatten Namen: Pannen, Backes, Pittisch, Schmette, Lue. Es ist nicht lange her, da dampften vor den Ställen die Misthaufen. Längst sind aus den Ställen Garagen geworden und aus den Misthaufen Vorgärten.

Die Schule war zweiklassig mit einem großen Schulhof. Zwei und zwei eintreten, zwei und zwei in die Bänke. Aufstehen, wenn der Lehrer hereinkam. Dann beten. Die Bänke waren eng, das Holz glatt von all den Händen, die darauf geschrieben, gerechnet und geschwitzt hatten. Buchstaben waren eingeritzt oder Zahlen. Auf meiner Bank hatte jemand ein Herz eingekerbt. Aber nein, das war ich nicht.

Die Hauptstraße ist die Prümer Straße, die sich früher an einem Lebensmittelladen vorbei durch das Dorf schlängelte, bis eine Umgehungsstraße gebaut wurde. Die anderen Straßen sind kürzer und enden noch im Dorf. Manche sind nur Wege. Der kleinste, ein steiles Pfädchen, führt, wenn man vom Oberdorf herunter kommt, zur Kirche oder zur Schule, an ein paar steilen Gärten vorbei und endet an einem Spritzenhäuschen, in dem ein Feuerwehrwagen untergebracht ist.

Ganz in der Nähe liegt der Sportplatz, daneben, am Dreesbach, ein Spielplatz mit einer Rutschbahn und einer Schaukel, mit der man sich eindrehen und die Kette so hochzwirbeln kann, dass man vom Boden abhebt, um sich dann wieder herumwirbeln zu lassen. Hinter dem Spielplatz befindet sich ein Schützenhäuschen mit einem Schießstand, grün gestrichen, in dem sonntags mit Luftgewehren auf Schießkarten aus Karton geschossen wurde. Vor Jahren hingen dort Ehren- und Königsscheiben aus Holz an den Wänden; eine Theke mit Spülbecken gab es, ein paar Barhocker, ansonsten roch es nach abgestandenem Bier.

Wir wohnten im Oberdorf. Uns gegenüber, in einem sehr alten Haus, in dessen Giebel eine Eule ihr Nest gebaut hatte, lebte ein ebenso alter Mann, krumm und schief geworden mit der Zeit. Er stützte sich auf einen Gehstock, den er regelmäßig uns Kindern hinterher warf, wenn wir etwas taten, was ihm nicht gefiel. Immer, wenn er den Stock warf, war es eine Riesengaudi. Nicht nur, weil er nicht traf, sondern weil er ohne Stock hilflos war. Wir neckten ihn, forderten ihn heraus. Er ließ sich von uns necken. Denn er konnte nicht ohne uns und wir nicht ohne ihn. Um Wasser zu sparen, pinkelte er in seinen Garten. Er trug immer die gleiche Jacke und kaufte seine Zigaretten einzeln.

Sein altes Haus existiert lange nicht mehr. Die Eule musste sich ein anderes Gemäuer suchen. Ich sah sie manchmal, wenn sie gegen Abend im Birnbaum unserer Nachbarn saß. Wenn ich versuchte, näher zu kommen, reckte sie den Hals, sträubte die weißen Nackenfedern und riss die Augen auf. Manchmal sah ich sie auch schlafend, mit halbgeschlossenen Augen in ihrem herzförmigen schleierhaften Gesicht. Ganz schmal war der Schlitz zwischen den Lidern. Wenn sie sich aufschwang, hörte ich nicht das leiseste Geräusch. Wo die Eule wohl sein mag?

In Winternächten höre ich manchmal noch in der Ferne ihren verlorenen Schrei.

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