Vom letzten Tag ein Stück

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8.

Je älter wir wurden, desto ähnlicher wurde Bertram seinem Vater.

Er war es gewöhnt, seine Kleider aufzutragen, Essensreste wieder aufzuwärmen und jegliches zu verwerten. Dies nicht nur, wie bei uns, aus Gründen der Sparsamkeit. Bei ihm war es eher so etwas wie eine Lebenseinstellung.

Vom Sperrmüll schleppte er alles Mögliche nach Hause. Mit allem konnte er etwas anfangen oder er hob es auf, bis er es gebrauchen konnte. In seinem Schuppen türmten sich Dosen mit alten Schrauben, gefundenen Brettern und Werkzeug von der Mülldeponie.

Er war zwei Jahre älter als ich. Wir gingen beide aufs Gymnasium, von dem er meinte, dass es ihn von allen wichtigen Dingen abhielt. Pro Woche vier Stunden Englisch bei Fräulein Brämer, eine Doppelstunde Erdkunde bei Linnerth, den wir Schorsch nannten, vier Stunden Mathe bei Andersch und sechs Stunden Deutsch im Leistungskurs bei Noell. Die anderen Fächer waren zu vernachlässigen. Außer Kunst vielleicht, aber der Kunstlehrer mochte mich nicht, weil ich mal einen Franz Marc gefälscht und er mich beim Versuch, das Gemälde auf einem Flohmarkt als echt zu verkaufen, erwischt hatte.

Die Lektüren, die wir im Deutschunterricht lasen, interessierten uns. Effi Briest bewerteten wir als literarisch mäßig, Wilhelm Tell als unglaubwürdig, Maria Stuart als gute Story, aber leider passé. Der von Armut geplagte und von seinen Mitmenschen diskriminierte Franz Woyzeck hingegen war unser Held. Er löste Diskussionen aus. Wir zogen Parallelen zu den Ausgebeuteten von heute, kritisierten die Arbeitsbedingungen in der Dritten Welt und endeten bei der Massentierhaltung. Das alles war für uns Franz Woyzeck.

So wie Bertram, so hasste auch ich die Physik- und Mathestunden. Lieber drehte ich mich zum Fenster, beobachtete, was auf dem Schulhof vor sich ging, folgte dem Lauf der Fliegen auf der Scheibe, las Comics unter der Bank oder kritzelte Pfeile, Zickzacklinien oder Frauengesichter mit schwarzen Augen auf die herausgerissenen Seiten meines Spiralblocks. Wichtig waren die Bücher, das Denken, das Schreiben und Bertrams Gitarre. Gedichte von Brinkmann verbinde ich mit dieser Zeit, von Paul Celan, Ingeborg Bachmann. Besonders aber Hesses Siddharta, die Geschichte eines indischen Brahmanen, der sein Leben der Suche nach Erleuchtung widmete, sich dazu in Meditationen versenkte und schließlich unter einem Feigenbaum begriff, was das Leben von ihm wollte. Das Buch beeindruckte uns zutiefst. Es stellte einige festgeschraubte Lehren in Frage. Viele Sätze unterstrichen wir. Etwa die Stelle, in der Siddharta lernte, auf einen Fluss zu hören und ihn zu beobachten, wobei er feststellte, dass sich der Fluss ständig wandelte und doch immer derselbe blieb.

Man kann sagen, dass Bertram seine Zeit oft mit Nichtigkeiten füllte. Überhaupt tat er kaum etwas, womit er jemandem genützt hätte und doch war er nicht müßig. Gerne lag er auf der Wiese in der Sonne, rauchte, hörte über sein Batterieradio den Pop Shop mit Frank Laufenberg oder kickte mit der Dorfjugend auf dem Bolzplatz.

Schon als Kind spielte er Gitarre und Klavier. Später gab er gelegentlich Musikstunden. Damit verdiente er so gut wie nichts, aber er brauchte auch nicht viel. Er fand, dass zwei Monate Arbeit im Jahr ausreichten, um über die Runden zu kommen und war sicher, dass niemand im Schweiße seines Angesichts seinen Unterhalt verdienen müsse. Wenn er über Arbeit sprach, hatte er immer einen leicht spöttischen Gesichtsausdruck. Auch zu Geld hatte er ein merkwürdiges Verhältnis. Ich fragte ihn einmal, ob er sich vorstellen könnte, ohne Geld zu leben. Da verzog er das Gesicht, meinte, dass man ohne Geld ständig etwas tauschen müsste, was aufwändig wäre, weswegen Geld also eine bequeme Sache sei, die andererseits, und das hielt er für fatal, alles auf diesem Globus bewege, da die Menschen sich immer nur nach Arbeit und Geld orientierten. Andererseits sei Geld ein Mittel der Toleranz, weshalb niemand darauf verzichten sollte. Geld sei nämlich toleranter als jede Kultur und jedes Gesetz. Es sei das einzige von Menschen geschaffene Mittel, das fast alle Kulturbarrieren überwinden könne und nicht nach Religion, Geschlecht und Rasse frage.

Hin und wieder half er auf dem Hof. Aber immer nur so, wie es ihm gefiel. Bertram war einer, dem man nichts aufzwingen konnte. Da war er einfach nicht zu greifen.

Druck hielt er nicht aus. Etwas zu müssen, lehnte er ab. Keiner muss etwas, davon war er überzeugt. Er ließe sich nicht verschlingen, von nichts und niemandem, weshalb er verachtete, was ihm von oben diktiert wurde. Du musst nichts, du kannst. Wer einer Herde hinterher läuft, läuft Ärschen hinterher. Das waren seine Sätze.

Auch bei Machtverdacht machte er zu. Mir wünschte er, dass ich eine Freidenkerin werden und bleiben solle. Dass ich aber aufpassen müsse, denn kein Staat der Welt wolle unabhängige Menschen, sondern Steuerzahler. Das war typisch für ihn.

Bertram wartete ab. Ließ alles auf sich zukommen. Wo seine Ruhe herrührte, war mir unbegreiflich.

Er lernte nicht für Prüfungen, versuchte nicht, jemandem zu gefallen, kam nie oder jedenfalls selten in Hektik. Im Gegensatz zu mir, der man einiges aufschwätzen konnte, war er nahezu immun gegen die Versprechungen der Werbung, glaubte den überall einsickernden Botschaften der Medien nicht. Was er beherzigte, war die Regel, so zu handeln, wie man gerne selbst behandelt werden wollte. Darüber dachte er häufig nach und überprüfte sich.

Oft schien es mir, als ob er über den Dingen schwebe, alles schon erlebt habe, alles schon kenne. Seine Gelassenheit brachte mich manchmal dazu, ihn anzuschreien. Aber sogar meine beleidigte Miene ließ ihn kalt. Überdies war er manchmal übellaunig und streitlustig, stellte alles in Frage, engagierte sich für etwas mit wortreicher Begeisterung, um sich kurz darauf wieder davon abzuwenden. Er hatte so eine Art, die Stirn zu runzeln und dazu zu schweigen, wenn immer jemand etwas tat, das ihm nicht gefiel. Wie Goethes Mephistopheles schien er mir, ein verneinender Geist. Von Anfang an.

Schon in der Zeit, als wir Mädchen mit Poesiealben über den Schulhof zogen und die Jungs baten, sich mit einem Spruch oder einem Gedicht zu verewigen, zeigte Bertram sich derlei Ritualen überlegen. Fast alle malten und klebten Glanzbilder in die Bücher, verschnörkelten die Anfangsbuchstaben der Verse, knickten Ecken ein, die man aufklappen musste, um Herzchen mit bedeutungsvollen Initialen zu finden.

Bertram verpönte, was wir taten. Natürlich bat ich ihn, sich in mein Album einzutragen, hielt ihm sogar den besten Platz frei, nämlich ganz hinten, wo normalerweise stand: Ich hab mich hinten angewurzelt, dass niemand aus dem Album purzelt. Aber Bertram verweigerte, fasste das Buch nicht einmal an.

Dann aber kam er doch, hielt mir einen zusammengefalteten Zettel entgegen, meinte, wenn ich Lust hätte, könnte ich ihn in mein Album kleben.

Anstatt den Zettel einzukleben, legte ich ihn in ein Schulbuch, wo er irgendwann herausfiel. Meine Mutter fand ihn beim Staubsaugen, hob ihn auf und las. Mit fragendem Blick stand sie vor mir: »Kann das weg?« Ich war einverstanden, sah ungerührt zu, wie meine Mutter den Zettel zerknüllte und den Treteimer bediente, denn ich fand Bertrams Spruch unpassend, wollte ihn nicht zu den anderen kleben, die ich schöner fand. Auf dem Zettel stand: Ich schreibe, was ich zu schreiben habe und nicht, was ich schreiben soll.

9.

Bertram blieb wichtig, auch als ich älter wurde.

Ich weiß nicht, wie oft ich den Weg zu seinem Haus gegangen bin. Im Sommer täglich. Manchmal blieb ich nur kurz, um zu sehen, was er so trieb. Um ein bisschen zu reden. Belanglos schwätzend sehe ich uns noch auf der Gartenmauer sitzen.

Er fragte nie, wann ich wiederkäme, warum ich gestern keine Zeit hatte, warum ich so spät oder so früh käme, warum mein Telefon so lange besetzt war. Erklärungen wollte er nicht hören. Er mochte nicht, wenn ich mich nach ihm richtete, auf ihn wartete, ihm Verabredungen abverlangte, mich in seine Gedanken schob. Aber er mochte meinen, wie er sagte, altmodischen Ausdruck im Gesicht und er mochte auch, wenn ich da war.

Mir und Bertram fehlten Sätze. Sätze, die wir nie aussprachen. Sätze über uns. Nur ein paar Silben flackerten, Kommas und Punkte schwebten. Dafür kreisten Fragezeichen, und wir hatten eine ganze Menge Was-meinst-du-Sätze und was das anging, so war ich durchaus gefragt.

Was meinst du zu dem und dem Buch? Zu dem und dem Bericht? Zu der Politik von Kohl? Zum Ayatollah? Zu den Kommunisten? Zu den Nazis? Zu den Terroristen? Zu den Naturkatastrophen? Zum Fischsterben? Zur Ölkrise? Zu Bowies ›Heroes‹ oder zu dem und dem Stück von Pink Floyd?

Wenn alles so weitergegangen wäre, hätte aus uns vielleicht etwas werden können. Aber nur vielleicht. Denn die vorsichtigen Zeichen, die ich ihm gab, ignorierte er, brachte sie in eine andere Form, in andere Zusammenhänge.

Heute Abend?

Ja, wenn du magst, aber lass dir Zeit.

Fahren wir ins Kino?

Ach nein, es kommt nichts, was mich interessiert. Geh besser allein.

Hast du Zeit?

Wenn du kommst, nehm ich mir die Zeit.

Um acht bei den Fichten?

Ja, gut. Aber warte nicht auf mich.

Überhaupt kam Bertram ständig zu spät. Besuchte er mich, blieb er meist bis in die Puppen. Er blieb, auch wenn ich todmüde war und seinen Worten kaum noch folgen konnte.

Immer hatte ich das Gefühl, dass er für mich da ist, nur für mich, dass ich also, sozusagen, eine Art Anspruch auf ihn hätte.

Er las Schopenhauer und Nietzsche, die Schriften Michel Foucaults, befasste sich mit Konstruktivismus, erklärte mir das Mandelbrot-Fraktal, die Euler’sche Identität, die binomischen Formeln und den Goldenen Schnitt. Er bespielte mir Kassetten mit Sachen von Etta James und Ella Fitzgerald. Cry me a river.

 

Auf dem Schulkopierer kopierte er für mich Gedichte von Brecht und Songtexte von Billie Holiday, die er mir dann in Bücher steckte, die ich gerade las.

Neben alldem brachte er es fertig, meine verborgenen Schichten aufzugraben, indem er Ideen in mir anfachte und meine Gedanken fliegen ließ.

Bertram war einer der wenigen, für den ich nichts zum Schein tat, nichts, um besser dazustehen, nichts, was nicht mir selbst entsprochen hätte. Bertram ließ mich ich sein. Einen Orden müsste man ihm verleihen, allein dafür.

Er war es, der mir die Welt deutete, für mich mit Sternen jonglierte. Ich wollte Bertram so viele gute Sachen sagen. Schöne Sachen. Dafür bleibt uns viel, viel Zeit, hatte er einmal gesagt. Vielleicht das ganze Leben.

Fast jeder war in Bertrams Haus jederzeit willkommen. Bertram konnte man aus dem Schlaf reißen, wenn es sein musste. Man konnte ihn um Hilfe fragen, wenn man einen Umzug vor sich hatte oder einen Dübel in die Wand geschraubt haben wollte. Bertram half. Man konnte ihn auch um Asyl bitten. Sogar für mehrere Wochen. Für Bertram kein Problem.

Ich erinnere mich, dass es in der letzten, mit ihm durchdiskutierten Nacht war. Wir saßen in seiner Küche, er hatte den Ofen gefeuert. Es ging um den Faust und um Geomantie und wie alles zusammenhinge. Er stellte zwei Stubbiflaschen5 auf den Tisch, die er mit einem Feuerzeug öffnete. Dabei gestand er, dass es ihm ginge wie Dr. Faustus, dass er nichts wisse und auch nichts wissen könne, dass dies allerdings der beste Zustand des Menschen sei, weil er bescheiden mache. Nichts gäbe es, was man endgültig wissen könne.

Dennoch hatte er eine eigene Vorstellung davon, was die Welt zusammenhielt. Nie wollte er so werden wie unsere Politiker, die von einem Ministeramt ins andere wechselten, korrupt seien, von nichts eine Ahnung hätten und nur laberten.

Als die Stubbis leer waren, kochte er Tee von getrockneter Pfefferminze, während er es einen Verfall der Welt nannte, dass Menschen sich anmaßen würden, alles zu besitzen, über alles zu verfügen, über Meer und Luft, über Tiere und Pflanzen, selbst über unsere Berge.

10.

So, wie alles gekommen ist, ist es schleichend gekommen und so leise, dass kaum jemand Notiz davon nahm. Viele sind fortgegangen aus unserem Dorf, auch ich.

Bertram fand es gut, dass ich ging. Kann nichts schaden, sagte er damals und meinte, dass ich dann einen neuen Blickwinkel auf alles bekäme und aus der Distanz die Dinge anders bewerten würde. »Geh und lass dich nicht halten. Der Himmel ist hoch.«

Für sich selbst wollte er keinen neuen Blickwinkel und auch keine Distanz. Er ginge nirgends hin. Bertram blieb aus Überzeugung.

Bis zu dem Tag, an dem er plötzlich verschwand.

Von einem Tag auf den anderen wurde er nicht mehr gesehen.

Nicht in seinem Haus, nicht im Dorf, nicht am Berg.

Als ich von Bertrams Verschwinden hörte, lebte ich seit Jahren nicht mehr in meinem Dorf. Ich hatte mich gewundert, weshalb von ihm keine Briefe mehr kamen, sorgte mich, versuchte ihn anzurufen, was sich schnell als sinnlos herausstellte. Vielleicht hatte er seinen VW-Bus bepackt und war nach Indien aufgebrochen. Mir kam in den Sinn, dass er einmal, es war nicht lange her, unvermittelt und ohne offensichtlichen Grund mitten auf der Straße jäh hingeschlagen war und einige Momente wie betäubt dalag. Er war weiß im Gesicht, die Lippen grau und er bekam keine Luft mehr, konnte überhaupt nicht mehr atmen und ich war starr gewesen vor Schreck, rüttelte an ihm, drehte ihn auf die Seite, bis er schließlich sagte: »Hey, du bist ja da.« Ich brachte ihn nach Hause. Danach hatte er so einen Wunsch nach Ruhe.

Vielleicht hatte er etwas, eine Krankheit, und niemand wusste davon. Bertram, komm zurück. Alles soll wieder so sein wie es war und alles soll so bleiben.

Meine Unruhe wuchs. Ich telefonierte mich durch seine Freundschaften. Es kamen nichtssagende Sätze. Dass er in letzter Zeit komisch gewesen sei, erfuhr ich.

Ich fragte meinen Chef nach Urlaub, bekam ihn und fuhr nach Hause. Über drei Monate war ich nicht dort gewesen.

Es war später Juli. Die Fahrt mit dem Zug war lang und die Schwüle im Abteil machte müde. Ab Mannheim dann Regen, der nur wenig für Abkühlung sorgte. Tropfen klatschten gegen die Scheibe. Vom Wind getrieben bewegten sie sich ruckweise voran. Einige waren schneller als andere, vereinigten sich mit den langsamen. Das Abteil war voll, ich hielt die Tasche auf dem Schoß und horchte nach dem Rattern der Räder, einem Geräusch, das sich veränderte, wenn der Zug über Weichen fuhr. Ein Kind flüsterte, eine Frau kramte in einem Beutel, Papier raschelte. Das Kind kaute.

Der Mann, der mir gegenüber saß, zog eine Zeitung aus der Tasche, blätterte und las. Auf der Rückseite war das Foto eines Radfahrers in einem gelben Trikot abgedruckt. Der Titel klang wenig spannend: »Wie geht es weiter mit der Tour de France?« Der Mann las eine Weile, dann faltete er die Zeitung zusammen, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Zeitung lag jetzt auf seinen Knien. Die fettgedruckte Schlagzeile sprang mir ins Auge: Erdoğan – der türkische Albtraum. Und: Der Islamische Staat verübt ein Massaker an den Jesiden in Kocho. Weiter unten las ich, dass sich die Hälfte aller Deutschen durch Lärm belästigt fühle. Der Bericht ging weiter auf Seite 3, wo es zudem um die Meere gehen sollte und die Belastungen, die durch Überfischung und Überdüngung entstanden waren.

Ganz unten dann noch das Foto einer winkenden Dame mit Hut: Elizabeth The Second, Queen by the grace of God. Ich erfuhr, dass die Queen das Pferderennen in Ascot besucht hat und als Besitzerin und Züchterin von englischen Vollblütern alle Rennen verfolgt, an denen ihre Tiere beteiligt sind. God save the Queen. Mitsamt den Hunden.

Ein Schaffner ging von Fahrgast zu Fahrgast, gab Auskünfte, scannte die Billets. Der Mann auf dem Sitz gegenüber wachte auf, schob die Zeitung zusammen und während er aus dem Fenster sah, sagte er völlig unvermittelt: »Es muss alles anders werden, alles.«

Draußen Straßen, Brücken, Dörfer und Mauern. Ab und zu Kirchtürme. Ein Nebeneinander von Punkten.

Hecken und Sträucher bogen sich in dem vom Zug verursachten Wind.

Die Schienen überwanden den Raum viel zu schnell. Machten ihn irgendwie gleichgültig.

Eine Schulklasse reiste mit. Kinder saßen ein paar Sitze weiter vorne und stimmten, aufgefordert von einer resoluten Lehrerin, die mit erhobenem Finger das Zeichen des Einsatzes gab, auf der Höhe von St. Goar, unterhalb des Loreleyfelsens, ein Lied an: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin …« Lange blieb mir diese Zeile im Kopf. Sie passte zur Situation; sie passte zu Bertrams Verschwinden und klang irgendwie dunkel.

In Koblenz stieg ich in einen fast leeren Waggon um. Der Zug hatte Verspätung. Trotzdem hielt er überall, auch wenn niemand ein- oder ausstieg.

Es dauerte noch über eine Stunde, bis ich ankam. Die wenigen Reisenden, die mit mir den Zug verließen, verschwanden innerhalb von Sekunden.

Bis zum Dorf waren es zwei Kilometer. Ich ging zu Fuß, entlang der Kyll.

Die erste, der ich im Dorf begegnete, war Schniggischs Else. Sie stand, im Einkaufsnetz Salat und Möhren, ein Kind mit Schulranzen an der Hand, an der Bushaltestelle vor der Burg. »Wat machst du denn hier? Und so mitten in der Woch? Haste nix zu schaffen?« Als ich sie nach Bertram fragte, erntete ich einen vorwurfsvollen Blick: »Dat darf doch net wahr sein! Wegen dem biste hier?«

Auch meine Eltern wunderten sich, stellten aber keine Fragen.

Mein erster Weg führte die Dorfstraße hinauf, zu Bertram.

Der Regen hatte den Weg aufgeweicht und morastig gemacht. Bertrams VW-Bus parkte in hohem Gras und war, wie es aussah, lange nicht benutzt worden. Auf dem Dach hatten sich Moosflecken gebildet, unter den Scheibenwischern sammelten sich Laub und Zweige, der rechte Vorderreifen war platt und schien beinahe mit dem Boden verwachsen, strotzendes Grünzeug hatte es irgendwie in die Felgen geschafft.

Der Garten war verwildert, überall Löwenzahn und Giersch. Ein Schwarm ärgerlicher Spatzen erhob sich aus Nusshecken, wie aus der Hand in die Luft geworfen. Ein Hase duckte sich hinter einem Holzstapel und verharrte so still, dass ich seine blanken Augen sehen konnte.

Auch zwischen den Treppenstufen wucherte Unkraut. Wie eine kleine Laterne hing ein Wespennest über dem Eingang.

Der Briefkasten quoll über. Zeitungen, Wurfsendungen, Reklame. Die Stromrechnung. Der Kasten war so vollgestopft, dass ich alles mit Gewalt herauszerren musste. Postmüll von Wochen landete auf der Treppe.

Ich hatte den Schlüssel dabei, den Bertram mir mal gegeben hatte, stellte aber fest, dass ich ihn nicht brauchte. Die Tür war offen.

Ich rief.

Keine Antwort.

Ich rief wieder.

Im Flur war es dunkel. Ich drehte am Lichtschalter. Es war einer, den man noch mit Daumen und Zeigefinger bedienen musste. Der Strom war abgeschaltet.

Auf dem Küchentisch stand schmutziges Geschirr. Ein angefangenes Kreuzworträtsel und ein Kugelschreiber lagen neben einer angeschlagenen Tasse und Supermarkt-Prospekten. Dazwischen Brotkrümel. Der Aschenbecher quoll über vor Kippen. Auch Tabakbeutel und Feuerzeug lagen da, als hätte er sie eben noch in der Hand gehabt. Über Bertrams Stuhl mit der Sprossenlehne hing eine Strickweste. Auf der Spüle war eine Schale mit Zwiebeln zurückgeblieben, die lange Wurzeln in die Luft streckten. Daneben ein Rasierpinsel und verkrustetes Besteck auf dem Fliegen saßen. Am Fenstergriff baumelte ein getrocknetes Büschel Pfefferminze, gehalten von einer Paketschnur. Alles wie sonst. Sogar der Geruch nach Winter und Räucherstäbchen.

Nur dass Bertram nicht da war.

Ich schob die Gardine zur Seite, um Licht hineinzulassen, und öffnete das Fenster zum Garten. Frische Luft zog herein. Eine Fliege schreckte auf, ein dicker Brummer, bläulichschwarz. Er drehte eine Runde über der Spüle, kehrte zurück zum Fenster, und stieß seinen harten Kopf gegen das Oberlicht. Es war später Nachmittag. Irgendetwas musste Bertram mit der alten Zinkwanne vorgehabt haben, denn er hatte sie herausgeschleppt, bis unter einen der Apfelbäume, und mit Erde gefüllt.

Ich sah nach den Schwalben, die schreiend heranschossen, pfeilgerade in Richtung Dach, wo unter der Traufe ihre Nester klebten, Halbkugeln aus Lehm, den sie schnabelweise hinaufgeflogen hatten, um jetzt die Jungen zu füttern, die dort oben ihre breiten Schnäbel aufrissen. Geräusche von Sprengungen im Steinbruch rollten über den Wald. Ein Echo warf das Grollen zurück. Wie ein Gewitter hörte sich das an.

Das Licht in der Küche fiel in einem schrägen Winkel ein. Staub und Flusen schwebten leicht und anmutig wie Schneeflocken durch den Raum.

Von der Küche ging ich ins Wohnzimmer, vom Wohnzimmer in Bertrams Zimmer. Die Gitarre lag auf dem Bett; der Klavierdeckel war zugeklappt. Ich tappte zurück durch den Flur, in die Küche, wo ich mich in seiner beunruhigenden Atmosphäre an den Tisch setzte, seinen Tabakbeutel, seinen Stift, sein Feuerzeug betrachtete. In einem anderen Garten ging ein Rasenmäher. Jemand schlug eine Autotür zu. Das Licht in der Küche veränderte sich, etwas veränderte sich, hatte sich schon verändert. Bertram war weg.

Niemand im Dorf war erstaunt über Bertrams Verschwinden. »Der kann net weit sein«, meinte Hildegard, bei der ich Milch für meine Mutter holte und Pitter stimmte ihr zu. »Unkraut vergeht net.«

Die Kinder wussten nichts. Die Leute vom Fußballplatz zuckten die Schultern. Meine Suche kommentierten sie mit leeren Sprüchen. »Reg dich net auf. Der kommt schon wieder …«

Anne, die als Avon-Beraterin in viele Häuser kam, meinte, dass man ihn in Indien finden könnte. »Damit hatte er doch so einen Spleen.«

»Ach was, Indien«, lachte Onkel Hein, dem ich davon erzählte, »deinen Bertram haben die Raben gefressen.« Er warnte mich, zu viel Buhai daraus zu machen. Aber von einem Buhai konnte gar keine Rede sein.

Der Mann, der das Eierauto fuhr, meinte ihn schon mindestens sechs Wochen nicht gesehen zu haben. Tina, unsere Nachbarin, erzählte mir, dass sie ihn zuletzt mit einem auffallend großen Beutel Richtung Flecken habe gehen sehen. Kati, die ich ansprach, als sie in ihrem Garten werkelte, war sicher, ihm vor ein paar Tagen noch auf dem Friedhof begegnet zu sein. »Am Grab bei seinen Eltern war der. Aber meinste, der hätt mal gegossen? Sowat macht der ja net. Dat ist dem total egal!«

 

»Ein paar Tage, das kann nicht sein«, sagte ich und sie winkte ab: »Herrje, so genau weiß ich dat ja auch net mehr. Dann war et eben letzten Monat oder vorletzten, jedenfalls hab ich den gesehen und dat is noch gar net lang her.« Obwohl sie erst seit kurzem Witwe war, trug Kati ein buntes Kleid mit Blumenmuster und ihre nackten Füße steckten in lila Birkenstock-Sandalen. Eine Witwe hätte früher Schwarz getragen, dachte ich. Mindestens ein Jahr lang.

Bald wusste jeder im Dorf, dass ich ihn suchte, aber kein Wort, kein Zeichen, kein Wink. Nur verständnislose, ja spöttische Blicke und ab und zu die Frage, warum ich mir das antue. Als ob Bertram es nicht wert sei, vermisst und gesucht zu werden.

Ich wartete auf Bertram. Tage. Wochen. Monate. Sitzend, stehend, liegend, herumgehend von Fenster zu Fenster, von Zimmer zu Zimmer. Sogar in den Zügen suchte ich ihn, auf Bahnhöfen, in Cafés, in Parks, in denen er nie war. Ständig wartete ich auf einen Brief.

In seinem Haus, das ohne ihn leer war, suchte ich nach Spuren. Ich durchforstete die Post, fand seinen Adresskalender in der Küchenschublade, rief alle dort notierten Nummern an, auch welche, bei denen kein Name vermerkt war. Einmal hatte ich einen Buchladen am Telefon, ein anderes Mal die Müllabfuhr und eine Stimme vom Band. Nein, ich wollte keine Nachricht hinterlassen.

Ich entwarf ein Suchplakat, kopierte es, steckte es mit Reißzwecken an Bäume, klebte es mit Tesa an Laternenpfähle und auf den Schaukasten vor der Kirche. Marianne, Wirtin vom Gasthaus zur Schauerbach, fixierte das Plakat mit Stecknadeln auf der Wand neben dem Spielautomaten. Sie kannte Bertram und verstand mich.

Dann ging ich, die Plakate unterm Arm, zu Fuß in den Flecken, entlang der Kyll.

Der Fußweg, den ich benutzte, war neu angelegt, sehr schön, und machte den Weg kürzer.

Das Wasser der Kyll funkelte und fast war es so, als ob der Fluss ein Stück neben mir her liefe, wenn auch in eine andere Richtung, und ich war dankbar, dass er nicht auf direktem Weg in die Mosel strömte, sondern bei mir blieb auf diesem Fußweg und dann an unseren Dolomiten vorbeifloss, von denen ich einen Teil sehen konnte. Fünf Finger, eigentlich fünf Felsen, die aber aussehen wie die Finger einer Hand. Da oben war ich oft, auch mit Bertram. Ich erinnerte mich an Himmelsausblicke.

Linkerhand lag ein Supermarkt und kurz überlegte ich, eines der Plakate über das Werbeschild zu kleben, verwarf die Idee dann aber, weil meine Handynummer vermerkt war und ich Ärger fürchtete. Außerdem hing das Schild zu hoch.

In der Fußgängerzone hatte ich mehr Glück. Nach einer Stunde hingen sieben Plakate in Schaufenstern und Ladentüren. Immerhin.

Vor dem Portal von St. Anna fragte ich nicht lange, sondern zückte den Klebestreifen. Wer hat Bertram zuletzt gesehen? Wer weiß, wo er sich aufhält?

Die beiden Polizisten des städtischen Polizeipostens verzogen den Mund, als ich eine Vermisstenanzeige aufgeben wollte. Ob wir verwandt seien? Seit wann Bertram denn weg wäre? Ob er niemals sonst weggewesen sei? Warum er mir hätte Auskunft geben sollen? Ob ich glauben würde, dass Bertram in Gefahr oder Opfer einer Straftat geworden sei?

Ich sagte, dass Bertram allein lebt, dass ich aber eine Freundin sei, der er regelmäßig Briefe schreibe. Das ließen sie nicht gelten. Ich fand sogar, dass sie amüsiert wirkten, denn sie grinsten und die Blicke, die sie sich zuwarfen, sprachen Bände. Es käme nur dann zu einer Fahndung, erklärten sie mir, wenn der Verdacht bestünde, dass Bertrams Leben in Gefahr sei und dass ansonsten jeder das Recht habe, seinen Aufenthaltsort frei zu bestimmen, auch ohne dies seinen Freundinnen mitteilen zu müssen. Es sei also nicht Aufgabe der Polizei, Aufenthaltsermittlungen durchzuführen, wenn keine Gefahr für Leib oder Leben bestünde. »Wo kommen wir denn hin, wenn jeder einen Nachbarn, den er länger nicht gesehen hat, vermisst melden würde? Vielleicht will er Sie nicht mehr sehen? Hatten Sie vielleicht Streit?«

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