Bergmütter, Quellfrauen, Spinnerinnen

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Die Ahnfrau des Landes zeigt sich oft in dreifacher Gestalt. Auch der Walliser Sagenforscher Josef Guntern hat in seiner Sammlung drei Frauen beschrieben (Guntern 1979, Nr. 1159). Es sind wehmütige Geistwesen, die mit ihren Stöcken im Aletschgebiet gesichtet, in ihrer mythologischen Bedeutung nicht mehr erkannt und so zu Armen Seelen degradiert worden sind. Doch im Kessel des Gletschervorfelds der Rhone können sie sich in ihrer wahren Gestalt zeigen: Sie sind die Begründerinnen der ganzen Talschaft, die drei Schicksalsfrauen, wie man sie überall auf der Welt gekannt und verehrt hat.



Der Dreifrauenkult ist eine Mythologie, die auf allen Kontinenten anzutreffen ist und aus vorgeschichtlicher, mutterorientierter Zeit stammt. In Nordeuropa nannte man die drei Schicksalsfrauen Nornen, in Rom Parzen, in Griechenland Moiren und bei den Kelten Bethen. In den Sagen und Märchen erscheinen sie als drei Weisse Frauen, drei Schwestern oder drei Spinnerinnen, die den Lebensfaden führen, ihn aber auch trennen. Sie spinnen das Glück und weben das Schicksal. Man nannte sie auch Matronen oder Matres. Sie waren die Urmütter, die man anrief, um Heilung, Segen und Schutz zu erlangen. Sie erschienen in dreifacher Gestalt, wohl weil man versuchte, sie in ihrer umfassenden Ganzheit zu verstehen: als Schöpferin, als Lebenserhalterin und als Todesmutter.



Während der Christianisierung bot die Kirche Gegenbilder wie die Drei Marien, die dreigestaltige Anna oder die drei Nothelferinnen Margaretha, Barbara und Katharina. Diese heiligen Frauen sind im Wallis auf vielen Altären zu finden, so zum Beispiel auf dem linken Seitenaltar in der Marienkirche in Münster. Von den Nothelferinnen hiess es im Alpenraum: «Margaretha mit dem Wurm, Barbara mit dem Turm, Katharina mit dem Radl, das sind die drei heiligen Madl.»

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Auch die Rhone trägt noch den Namen einer Erd- und Wassergöttin. Flussnamen sind oft sehr alt, und das Wallis, die Westalpen und das Rhonetal sind frühe Besiedlungsregionen. Bei den Griechen heisst der Fluss, der das Wallis durchfliesst, Rodanos, und bei den Römern Rhodanus. Doch dieser Name ist höchstwahrscheinlich weder griechisch noch römisch, keltisch oder indogermanisch, sondern wohl vorindoeuropäisch oder alteuropäisch. Die Silbe *dan im Namen Ro-dan-os ist eine sehr alte Bezeichnung für Wasser. Gleichzeitig finden wir diese Wortwurzel auch bei der Erdgöttin Ena/Ana/Anu/Dana/Danu. Sie war die altorientalische und alteuropäische Muttergöttin. Da *dan und *an Wasser oder Quelle bedeuten, tragen es viele Flüsse in ihren Namen: so etwa die Donau

(Danuvius)

, der Inn

(Ainos)

, der Rhein

(Rhenus)

 oder eben die Rhone

(Rhodanos

).

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Vouivra, die Fluss- und Drachenschlange





verschiedene Orte





Von den Anhöhen aus konnten unsere Vorfahrinnen und Vorfahren die Rhone von oben betrachten. In ihrer mythischmagischen Sichtweise erlebten sie den Strom mit seinen Nebenflüssen wohl als Drachen, dessen Glieder sich auf beiden Seiten des Haupttals bis hinauf zu den Gletschern, Graten und Gipfeln ausbreiten.

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Die Menschen erfuhren die Wasserdrachin als Lebenskraft, die durch die Täler fliesst, und als Erdschlange, die unter den Flüssen oder in den Bergen wohnt. Sie ist die Eine, die Kraft des gesamten Landes und zugleich mächtiges Schöpferwesen aus aller Anfangszeit. Sie hat die Landschaft gestaltet – lange bevor die Menschen sie aufsuchten. Und sie tut es immer noch.



Die Menschen fürchten sich vor ihrer wilden, unbändigen Art: wenn sie sich in ihrem grenzenlosen Überfluss zeigt und die Rhone und ihre Zuflüsse nach Regenfällen bedrohlich anschwellen lässt. Auch dann, wenn die Drachenschlange in den Bergen rumort und Kräfte ordnet – was oft einen Felsabsturz, einen Murgang oder eine Gerölllawine zur Folge hat.



So soll im Baltschiedertal in alten Zeiten ein Drache gehaust haben, der Menschen, Tiere und Wasserleitungen verschlang. Auch in Naters ist eine Natter bekannt, die mit ihrem giftigen Atem alles verwüstete, im Hochwasser des Rottens sich ausdehnte und mitriss, was die Menschen erbaut und gepflanzt hatten. Auf den Alpen hausten Riesenschlangen, Lindwürmer, die so gross waren, dass sie sich dreimal um einen Stadel winden konnten.



Solche Ungeheuer sind mit allen Elementen vertraut. Sie schwimmen, kriechen und können Feuer speien. Sie fliegen funkensprühend von einem Berg zum anderen, nisten sich in Felsen ein, saugen das Gold aus den Bergen, unterwühlen und zernagen sie, sodass ganze Hänge zu Tale stürzen. So wird es in vielen Sagen beschrieben.



Im Unterwallis ist der Name der Unbändigen noch bekannt: Vouivra wird sie genannt. In ihrer zerstörerischen Kraft zeigt sie sich als furchterregende geflügelte Schlange, die in allen Gestalten und Farben vorkommen soll. Ihre Länge betrage mehrere Klafter, und in ihrem Katzen- oder Vogelkopf sollen sich kostbare Edelsteine befinden. Manchmal trägt sie einen Karfunkelstein als Auge, und auch mit einer Krone wurde sie schon gesichtet. Doch dann kann es vorkommen, dass sie plötzlich als wunderschöne, strahlende Frau erscheint.



Im Laufe der Zeit lernte die Bevölkerung, die Vouivra nicht nur zu fürchten, sondern mit ihr zusammenzuarbeiten – das war wichtig in einem Land, in dem das Wasser ein besonders kostbares Gut ist. Man scheute keine Mühe, es von den Gletschern auf die Wiesen und Äcker zu leiten, um Lebensraum für Pflanzen, Tiere und Menschen zu schaffen. Wo man die Vouivra sorgsam miteinbezog, wirkte sie segensreich. Wo man ihr jedoch keinen Respekt zollte, zerstörte sie alles, womit man sie einzudämmen suchte. Und manchmal, damit mussten die Menschen leben, lockte sie einen Mann in die Tiefe ihrer Schlucht, junge Bauern mochte sie am liebsten.



Es scheint, als ob auch die Vouivra im Verlauf der Erdgeschichte einen persönlichen Umgang mit den Menschen erlernt hat. Sie fand Gefallen an ihrer Aufgabe als Lebensspenderin und Beschützerin. Manchmal zeigte sie sich auch in menschlicher Gestalt, als Weisse Frau, die ein Kind vor dem Ertrinkungstod rettet, oder als eine, die mit ihrem Stab einen Murgang am Dorf vorbeilenkt.



Am Genfersee konnte man die wilde Vouivra des Rhonetals besonders lieblich erleben. In gewissen Nächten sah man früher ein Schiff, das weiss leuchtete, wie die Sichel des silbernen Mondes. Von acht Schwänen wurde es gezogen. Sanft glitt es durch die Wellen. Im Schiff stand eine anmutige Frau, die weiss gekleidet war. Geflügelte Kindergestalten umgaukelten sie während der Fahrt. Das sonderbare Schiff stiess nie an die Ufer. Doch an den Orten, denen es sich deutlich näherte, waren die Fluren im darauffolgenden Sommer fruchtbar wie nirgends sonst. Alles blühte in wundervoller Pracht. Und den Menschen, die es sahen, war der im Herzen gehegte Wunsch schon kurz darauf erfüllt.



Doch nichts bleibt, wie es ist. Im ewigen Zyklus des Werdens und Vergehens verschlingt und gebiert die Vouivra Landschaften und Geschöpfe. Auch heute sind ihre Drachenkräfte wach, die Erde wandelt sich. Vielleicht müssen wir uns neue Bilder von den Drachenenergien, von den Wandlungskräften unseres Planeten machen. Und vieles hängt für uns Menschen davon ab, ob es gelingt, uns wieder mit der alten Drachenschlange einzulassen, mit ihr in einen Dialog zu kommen und zu erspüren, was das für unser Leben bedeutet – für unser Tun und für unser Lassen.



Nach Anderegg 1979, S. 159; Giersberg 2015, Nr. 11; Guntern 1979, Nr. 111, 117, 352, 858, 1743–1755, 1766; Guntern 1965, Nr. 245 und Jegerlehner 1909, S. 100, 161





Erzählungen von Schöpferwesen wie der keltischen geflügelten Erd-Wasser-Göttin Vouivre

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 sind aus vielen Kulturen und Epochen bekannt. Einer der ältesten Mythen ist jener von Tiamat, der sumerisch-babylonischen Ur- und Schöpfungsgöttin, Göttin des Chaos und des Unerschaffenen. Sie ist der Urzustand, das Allumfassende, das Wüste und Leere – unter diesem Namen kommt sie auch in der Bibel vor (Genesis 1,2). Sie gilt als Muttergöttin von allem, als Grosse Drachin des Chaos, die aus sich heraus die Welt erschaffen hat. Und ihre Schöpfung hat kein Ende. Immer wieder nimmt sie ihre Geschöpfe in die Tiefe ihres Universums, um sie dann erneut zu gebären.

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Die Kirche hat ein eher gestörtes Verhältnis zu den Drachenenergien von Mutter Erde. Der Drache wurde zum Bösen an sich und mit dem Teufel gleichgesetzt. Erzengel Michael und Ritter Georg erschienen, um den Drachen zu besiegen, was auch eine Analogie zum Sturz der Muttergöttin durch eine männliche Gottesvorstellung ist.



Natürlich verschwinden solche elementaren Kräfte nicht einfach, auch in der bildlichen Darstellung nicht. So liess sich die Drachin zu Füssen der Gottesmutter nieder oder wurde zum Wurm der heiligen Margaretha. Diese beiden Frauengestalten wussten auf ihre Art, die alte Dämonin zu zähmen, und so ist sie heute im Wallis noch in vielen Kirchen und Kapellen zu bestaunen.





Die strickende Holzmiättärra





Lötschental





Zuhinterst im Lötschental soll einst die Holzmiättärra gelebt haben. Sie war im hohen Alter und mancherorts wurde berichtet, sie sei unsterblich. Man war sich nicht einig, ob das Holzmütterlein zur Gattung der Zwerge oder der Riesinnen zu zählen sei. Auf jeden Fall galt sie als bärenstark, und vor allem Frauen wussten ihren verständnisvollen Rat und ihren Schutz zu schätzen. Wer sich ihr gegenüber respektvoll verhielt, konnte auf ihre Unterstützung zählen. Wer jedoch ihre Gesetze nicht einhielt, lebte gefährlich.



Die Menschen waren davon überzeugt, dass sich das Holzmütterlein in einen Baum verwandeln konnte oder in den ganzen Wald – vor allem dann, wenn es darum ging, den Lawinen zu trotzen und die Dörfer zu beschützen. Und sie konnte noch mehr. Ihre hohle Lärche im Riedholz beherbergte die Seelen der Ungeborenen. Dorthin gingen die Lötschentalerinnen, wenn sie ein Büblein empfangen wollten. Mädchen waren im Wasserhuis zu finden, einem bedachten Wassertrog oberhalb von Blatten. Auch in den Felsrücken der Fafler- oder der Guggialp warteten Kinderseelen darauf, wieder ins irdische Leben geholt zu werden. Die Zeit dazu war besonders günstig, wenn beim Kinderrufen die Holzmiättärra mit ihrer

Lismeta

, ihrer Strickarbeit, dabeisass und zur Feier des Tages den gewaltigen Tschuggen abgelegt hatte, den sie sonst wie einen Hut auf dem Kopf trug.

 



Im Verlauf der Jahrhunderte jedoch ging das Wissen um die Kraft und Macht der Holzmiättärra zunehmend verloren. Nur noch Kinder konnten sie wahrnehmen. So erschien sie eines Tages mit einem viele Zentner schweren Stein in der

Tschifra

 im Geryndorf. Und trotz der enormen Last, die sie in ihrem Rückenkorb trug, strickte sie dabei. Darüber machten sich die Buben im Dorf lustig. Sie spotteten über die Holzmiättärra und lachten sie aus. Das war nun doch zu viel. Zornig schleuderte diese den Felsblock auf den Boden, mitten im Dorf, und zwar so, dass die schmalste Kante nach unten zu liegen kam. An dieser Stelle ist der Felsblock noch immer zu finden – mit dem Kreuz, das man ihm zu seiner Verchristlichung einverleibt hat.



Wer beim Gerynstein rastet und nachsinnt, kann heute noch erleben, dass dies ein Ort ist, an dem es leichter fällt als anderswo, die Verbindung mit der unsichtbaren Welt und den Segen zu spüren, der sich von hier aus über das ganze Tal ausbreitet.



Nach Guntern 1979, Nr. 412 und 1942





Mutter Erde, Schöpferin und Erhalterin des Lebens, wurde von den Menschen seit jeher lokal erlebt – dort, wo sie wohnten. Im Lötschental ist die Landschaftsahnin Holzmiättärra auch unter einem anderen Namen bekannt: Aanu. Es gibt zuhinterst im Tal einen Aanugletscher, einen Aanusee und einen Aanubach. Diese Bezeichnungen sind uralt, stammen aus einer vorindoeuropäischen Sprache und sind zurückzuführen auf die bereits erwähnte Ana/Anu/Dana – eine Erd- und Wassergöttin, die überall im Alten Europa und im Vorderen Orient verehrt worden ist (siehe

S. 32

 und

59

).



Diese Grosse Ahnfrau zeigte sich allerorts in rautenförmigen Bergen, Felsbrocken oder Menhiren in ihrer Steingestalt. Die Raute war offenbar von alters her ein Bild für den weiblichen Körper, und schon in der Altsteinzeit stellten die Menschen die ersten Figurinen der Urmutter in dieser Form dar. Im Bündnerland werden bestimmte rautenförmige Felsformationen noch immer Muma Veglia (alte Mutter) genannt, und es sind Bräuche zu ihrer Verehrung noch bis weit in die christliche Zeit hinein bekannt. Knaben, die erstmals auf der Alp waren, mussten sie zum Beispiel küssen.

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Auch der Gerynstein, von dem die Sage berichtet, hat die Form einer Raute. Interessanterweise wird er heute von den Einheimischen noch

Chees-Chessin

 genannt, also Käse- oder Alpkessel. Dabei ist anzumerken, dass der Kessel Alltagsgegenstand, zugleich aber auch ein Gefäss mit grosser symbolischer Bedeutung ist. Diese zeigt sich in seiner empfangenden, runden Form, die von jeher mit dem mütterlichen Schoss, der das neue Leben trägt und gebiert, in Beziehung gebracht und kultisch verehrt wurde.

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Zurück in den Schoss der Erdenmutter kehren auch die Seelen der Verstorbenen. Und nach einer Zeit der Regeneration können diese an bestimmten Orten in der Natur wieder ins irdische Leben drängen und dort von den Frauen empfangen werden. So glaubten und erfuhren es die Menschen der vorchristlichen Zeit. Relikte dieses Weltbilds sind im Lötschental noch immer zu finden.



Bis in die 1970er-Jahre existierte im Riedholz bei Kippel eine hohle Lärche, die als Kinderherkunftsbaum bekannt war. Felsrücken auf der Fafler- und der Guggialp galten ebenfalls als Orte, wo die Kinderseelen geholt werden konnten (siehe

S. 136

).



Der Holzmiättärra-Stein ist von Blatten, dem hintersten Dorf im Lötschental aus, am rechtsseitigen Berghang zu sehen. Vom Geryndorf, einer ehemaligen Siedlung, sind nur noch Ruinen zu finden.



Weitere Sagen zur Kinderherkunft bzw. zur kultischen Bedeutung des Kessels:





Vom alten Brauch des Kinderholens, Seite 136







Das Geheimnis der Kindbetterfluh, Seite 139







Im Kessel der Holzmüotterlini, Seite 223







Die Gämsmutter beim Langgletscher





Lötschental





Hinten beim Langgletscher im Lötschental lebte eine alte Frau, die man Gämsmutter nannte, weil sie die Gemsen pflegte und hütete.



Da war im Tal ein Jäger, der ihr manches Tier wegschoss. Einmal, als er wieder auf die Jagd zog, stellte sie ihn und sagte: «Ach, warum raubst du mir meine schönen Tierchen, tue es nicht mehr und lass mir meine Herde in Ruh, ich will dich dafür entschädigen!»



«Was willst du mir tun, du Alte?», entgegnete der Jäger in spöttischem Ton. «Ich schenke dir ein Käslein, und wenn du achtgibst, dass am Abend noch ein Restchen davon übrig bleibt, so wirst du es am andern Morgen wieder frisch und ganz vorfinden!»



Der Jäger war damit zufrieden, nahm das Gämskäslein, das ihm die Alte schenkte, und steckte es in die Tasche. Jeden Tag ass er es bis auf ein Restchen auf, und jeden Morgen lag es wieder frisch und ganz auf seinem Tisch.



Einst legte er das Käslein in einer Sennhütte auf die Bank. Er vergass es, als plötzlich Gämsen um die Hütte herumstrichen und er die Flinte ergriff und ein Tier erlegte. Als er wieder in die Hütte zurückkam, hatten die Mäuse den Käse samt der Rinde aufgefressen. Das schöne Geschenk der Gämsmutter konnte er nun nicht mehr geniessen.



Nach Jegerlehner 1913, Nr. 59




Hier zeigt sich die Ahnfrau des Tales als Herrin und Behüterin des Wildes – so, wie wir aus der römischen Mythologie Diana kennen oder aus der griechischen Artemis. Diese Göttinnen sind zutiefst mit den wilden, natürlichen Kräften verbunden, sie streifen auch mit Pfeil und Bogen durch die Wälder und bringen ausgewählten Tieren den Tod. In ihrer Doppelfunktion als Jägerin und Behüterin der Tiere zeigt sich, dass die Ahnfrau für alle sorgt: für die Population der Tiere und die Menschen mit ihrem Bedürfnis nach Nahrung.



Eine weitere Sage zur Ahnfrau als Herrin der Tiere:





Die weisse Gämse, Seite 43







Die weisse Gämse





Walsersage





Noch bis ins letzte Jahrhundert hinein war man sich im Wallis einig darüber, dass weisse Gämsen nicht geschossen werden dürfen. Man wusste, dass sie keine gewöhnlichen Tiere waren, und sah in ihnen Arme Seelen, die in Tiergestalt für ihre Vergehen büssen mussten. Natürlich gab es immer Jäger, die das besondere Tier holen wollten, koste es, was es wolle. Doch kaum einer, der es wagte, kam gesund von seinem Abenteuer zurück. Die weisse Gämse verführte viele, ihr auf den gefährlichsten Felspfaden zu folgen, und von dort aus stürzte mancher in den Abgrund, wo er zerschmettert liegen blieb.



In Ager, einer heute nicht mehr existierenden Walsersiedlung im Ossolatal, kannte man noch eine andere Geschichte: An einem Abend im Spätherbst stiegen zwei Jäger auf die Alp, wo sie sich in einer Höhle zum Übernachten einrichteten. Schon früh wollten sie am nächsten Morgen aufbrechen, um in die Schussweite der Gämsen zu gelangen, die sich in der aufgehenden Sonne die taufrischen Gräser schmecken liessen. Doch als sie am Morgen aufstanden, stand vor der Hütte ein Meter Schnee, und es hörte nicht auf zu schneien. Es war unmöglich, hinunter ins Tal zu gelangen, und so beschlossen die beiden Jäger, zu warten, während weiterhin grosse Flocken vom Himmel fielen. Als die wenigen Lebensmittel aufgebraucht waren und der sichere Tod sie erwartete, beschlossen sie, das Los bestimmen zu lassen, welcher von beiden überleben solle, damit er sich vom Fleisch des anderen ernähren könne. Doch völlig unerwartet – sie waren gerade dabei, auszulosen – sprang eine weisse Gämse in die Höhle. Ein Wunder! Sie hatten jetzt genügend Nahrung, und als das Wetter wieder besser wurde, kehrten sie nach Hause zurück.



Nach Waibel 2010, S. 94 und Guntern 1979, Nr. 462, 1738, 1739





Die Ahnfrau zeigte sich ihrem Volk in verschiedener Gestalt. Mal tritt sie als junge Frau auf, mal als füllige Matrone, dann auch als dunkle Alte. Sie spielt gern mit ihrer Form, und kaum glaubt man, ihre Gestalt erkannt zu haben, hat sie sich erneut verwandelt. Als Nebelfetzen zeigt sie sich, als Felsbrocken, als Busch, Baum oder auch als Tier: Schlange, Kuh oder weisse Gämse. Letztere weist auf ihre Doppelfunktion als Herrin der Tiere hin: Sie mahnt die Menschen, die Tiere zu schützen, doch wenn Not herrscht, gibt sie sich selbst in ihrer Tiergestalt als Nahrung hin, damit das Leben weitergehen kann.



In den Walliser Sagensammlungen wird die weisse Gämse nur noch als büssende Arme Seele verstanden. In den Walsersagen hingegen ist die wohl ältere Bedeutung der Gämse als nährenden Ahnfrau noch erhalten.



Als Walser gelten die Nachfahren jener deutschsprachigen Menschen, die im 12. und 13. Jahrhundert aus dem Wallis zunächst in benachbarte Gebiete und dann in den ganzen Alpenbogen von Tirol bis Savoyen ausgewandert sind. Ihnen wird die Besiedlung von 150 Ortschaften zugeschrieben.

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 In die neue Heimat nahmen die Ausgewanderten nicht nur ihr Wissen um die Techniken der Alp- und Viehwirtschaft mit, sondern ebenfalls ihr Brauchtum, ihre Sprache und auch Sagen und Geschichten wie die der weissen Gämse oder der Alpmuetter (siehe

S. 226

).



Eine weitere Sage zur Ahnfrau als Herrin der Tiere:





Die Gämsmutter beim Langgletscher, Seite 41







Die Bergmutter und ihr Hornkind





Zermatt





Wohl schon vor Tausenden von Jahren, als die ersten Wildbeuter und Hirtinnen vom Süden her in die alpine Gegend des heutigen Zermatt kamen, wird das markante, freistehende Matterhorn auf sie einen ganz besonderen Eindruck gemacht haben. In ihrer magisch-mythischen Sehweise nahmen sie wahr, was wir heute kaum noch auf diese Weise verstehen können: die heilige Landschaft und mittendrin die Bergmutter – sichtbar geworden in ihrer wundersamen Fels- und Eisgestalt voller Schönheit und Magie.



Ihr Anblick ist atemberaubend. Fest steht sie da, die Berggöttin, verankert im Talkessel, und ihr Wirkungsbereich erstreckt sich weit in den Himmel hinein. Am Morgen empfängt ihr Haupt die Strahlen der Sonne und glüht rot auf. Und es scheint, als ob sie ihre Bergzacken wie Arme verlangend ausstreckt, um das Licht zu begrüssen, es in orangen, goldenen, gelben und weissen Tönen an ihrem hohen Leib hinunter und ins ganze Tal fliessen zu lassen. Abends, wenn die Sonne untergeht, lässt sie sich noch einmal von ihr küssen, um dann in einem Meer von Farben zu baden, bis die ersten Sterne ihr Haupt umkränzen und sie nun auch die gesammelte Kraft der Gestirne ins Land gleiten lässt. Und wenn der volle Mond im Osten aufkommt, streckt sie ihre Arme ebenso dem silbernen Licht entgegen.



Und mit ihr tut dasselbe das Hörnli, das kleine Horn – ein Bergkind, das neben ihr auf dem waagrechten Felspodest sitzt. Es zeigt in kindlicher, kurzer Form eine ähnliche Gestalt wie seine Mutter, und ebenso wie diese streckt es sich dem aufgehenden Licht zu.



Die frühen Menschen erkannten die Bergmutter noch in einer weiteren Erscheinung. Wenn sommers der Schnee auf ihrer Ostseite dünn ist, kann man in der Mitte ihres Oberkörpers, zwischen den ausgebreiteten Armen, kleine Brüste sehen. Es sind drei an der Zahl, für eine Göttin nicht ungewöhnlich – umso grösser ist ihre Macht und Kraft, im Tal einen Paradiesgarten zu schaffen. Und die Menschen wussten denn auch während eines langen, goldenen Zeitalters die Gaben der Bergmutter zu schätzen und ihre Gesetze zu befolgen. Noch immer sind Kultplätze bekannt, wo man sie verehrt und ihre umsorgende Kraft gewürdigt hat.

 



Die Mütterlichkeit der Berggöttin umfasste nicht nur die Welt der Lebenden. Auch die Seelen der Verstorbenen waren bei ihr gut aufgehoben. Sie gingen ein in ihren Schoss unter dem Eismantel, der von ihren ausladenden Hüften herabfliesst. Dort wohnten die Seelen, bis die Bergmutter sie mit der Gletschermilch wieder ins irdische Leben entliess. So erfuhren es die Menschen der frühen Zeit, und das Hörnli war Garant für dieses Geschehen. Die künftigen Menschenmütter konnten die Seelen ihrer Kinder am Schwarzsee abholen. Auch heute gehen Frauen mit Kinderwunsch dorthin, zur «Maria zum Schnee», zur Bergmutter, die nun in einer K