Die schiere Wahrheit

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Dritter Tag, Ankunft von Wacht­meister Studer mit Ehefrau Hedwig in Saint-Georges

Mit dem Schnellzug von Bern nach Basel, mit dem Nachtzug der französischen Ostbahn von Basel nach Paris – im günstigeren Liegewagen, die Schlafwagenplätze waren in den knauserigen Reisespesen nicht vorgesehen –, am nächsten Morgen mit der Pariser Metro – wie immer, wenn Studer nach einiger Zeit den Geruch einatmete, der dort unten herrschte, diesen Geruch nach Staub, erhitztem Metall und Desinfektionsmittel, schlug ihm das Herz ein wenig schneller –, mit der Metro also vom Gare de Strasbourg quer durch den Bauch von Paris zum Gare de Montparnasse und am Vormittag mit der Staatlichen von Paris nach Nantes.

Wachtmeister Studer hatte diese Strecke mit der Staatlichen gebucht, weil auf deren Eisenbahnnetz die legendären Bugatti Autorails fuhren, und sie hatten Glück! Frau Hedy Studer bekam von ihrem Mann die technischen Merkmale dieses futuristischen Zuges in aller Ausführlichkeit erklärt, während die Brissagos zwischen seinen Fingern qualmten. Sie fand, dass eine solch verrückte Geschwindigkeit von hundertvierzig Kilo­metern in der Stunde beim Stricken doch sehr störe. Es rüttelte und schüttelte, und wie!

In Nantes hatten die beiden umzusteigen, und mit der Staatlichen ging es bis Challans, von wo mehrmals täglich ein Autobus nach Saint-Georges fuhr. In einem Anfall von mutigem Leichtsinn beschloss Studer jedoch, von Challans bis zur Pension Zur Goldenen Glocke ein Taxi zu nehmen.

Das Taxi, das leistet man sich nach der langen Zugfahrt, fürs Hedy vor allem, man möchte seiner Frau doch ein bisschen imponieren, auch wenn ein Berner Fahnderwachtmeister rechnen muss, und die Spesen werden auf den Rappen nachkal­kuliert! Wehe, wenn man zu viel berechnet, wehe, wenn man sparen könnte und es nicht tut! … Studer hatte es erlebt, dass ihm einmal ein Schnellzugzuschlag Basel-Bern nicht ausbezahlt worden war. Ein Personenzug hätte es auch getan!, hatte es damals geheißen. Aber diese Taxifahrt muss der «Alte» schlucken, man wird dann sehen!

Beinahe dreißig Stunden war Wachtmeister Studer mit seiner Frau Hedy unterwegs, und vierzehn Brissagos hat man be­reits geraucht. Besorgt zählte er im Geist seinen Vorrat durch, man kann zählen, so viel man will, sechzehn bleiben noch, was nie langen wird, nie und nimmer. So liebenswürdig und so gastfreundlich die Franzosen auch sind, Brissagos kennen sie nicht. Man hatte keine Zeit vor der Abreise, noch weitere zu kaufen, war das ein Gschtürm!

Das Taxi schlängelte sich im Schritttempo zwischen den Menschentrauben auf der Avenue de la Plage durch, die vom Dorf quer durch den Dünenwald pfeilgerade zum Seebadviertel am Meer hinunterführte.

– Schau, die kommen bestimmt von einem langen Tag am Strand zurück! Sonnengetränkt, so kamen Frau Studer all die braungebrannten Familien vor, die in entgegengesetzter Richtung zurück auf den Zeltplatz im Dünenwald und in ihre Ho­tels und Pensionen spazierten.

Sie hatte das Seitenfenster heruntergekurbelt – fremdartige Ferienluft wehte ins Wageninnere, Salzluft mit Sonnenöl – und manchmal winkte ein kleines Kind, beeindruckt von der schwarzglänzenden Limousine, ist das eine Königin? Beinahe so fühlte sich Frau Studer. Dass sie das erleben durfte!

Sie winkte aufgeregt und deshalb nicht sehr majestätisch zurück. Keine ihrer Bekannten war je in den Ferien gewesen und schon gar nicht im Ausland! Für die Frau eines kleinen Beamten wie der Studer war es schon allerhand, für ein paar Tage ins Tessin zu fahren … und jetzt ist die Frau Wachtmeister quer durch ganz Frankreich gereist! Paris! Bis – ja, bis ans Meer!! An den großen Atlantik!

Wie verrückt hämmerte das Herz vor Aufregung gegen den Brustkorb, es zerspringt fast. Und diese frische Meeresluft, sie kann nicht genug davon bekommen! Und all die modischen Sommerkleider hier … Herrjeh, und sie hat gestern Vormittag die falschen Kleider eingepackt, so musste sie pressieren, nur ein einziges kurzärmeliges Kleid, es war so kühl und regnerisch in Bern.

– Es zieht, brummte Studer.

Er habe ja bloß Angst, dass ihm die Brissago ausgehe, s’Hedy wird übermütig in dieser berauschenden Luft, sie denkt nicht daran, das Fenster zu schließen, so viele Stunden hat sie es in den stinkenden Zugabteilen ausgehalten, die ihr Köbu verqualmt hat!

Der Wachtmeister knurrte etwas Unverständliches und legte schützend die linke Hand über die wertvolle Brissago, die man in Frankreich leider nicht kaufen kann.

Dieses Gschtürm gestern Morgen! Kaum hatte er, pünktlich um acht wie jeden Tag, im Amtshaus z’Bern die Bureautür ge­öffnet und seinen nassen Regenmantel auf den Ständer hinter der Tür aufgehängt, den ebenso triefenden Hut darüber, ein Sauwetter da draußen und das Ende Juni – am liebsten tät er sich schütteln wie ein nasser Hund – da rief auch schon der Gefreite Reinhardt: zum Polizeihauptmann, Köbu, sofort. S’brennt irgendwo! Und kaum hatte Studer an die Tür des Chefs geklopft, rief auch der schon: Komm rein Studer, sollst schnellstens zum «Alten» rüber! Geheime Mission, von ganz oben!

In jedem Staatsbetrieb gibt es wenigstens einen Mann, der gewissermaßen das Salz des ganzen Betriebs ist. Von ihm, der als Außenseiter gilt, wird keine allzu regelmäßige Arbeit verlangt; das Alltägliche, mit seinem Stumpfsinn, wird ihm ferngehalten – oder besser, er hält es sich selbst vom Leibe. Dieser Mann findet vor allem Verwendung – und darin liegt eben sein Wert –, wenn etwas Außergewöhnliches zu tun war. Wenn es gilt, eine verworrene Situation aufzudröseln. Dann wird er gebraucht, dann ist er unersetzlich.

Wachtmeister Studer war das Salz der Berner Kantonspolizei. Das war wohl der Grund, der den Herrn Polizeidirektor dazu veranlasste, für diesen heiklen Fall den Studer holen zu lassen …

Der Polizeidirektor war ein stiller Mann, sah aber gar nicht nach einem Stubenhocker aus, braungebrannt wie er war, er stieg sommers und winters auf die Berge. Daneben hatte er eine Hundezucht und Studer musste, genau wie letztes Mal, erst eine Viertelstunde andächtig zuhören, was der Herr Direktor ihm eifrig über den Unterschied zwischen den verschiedenen Pedigrees beibringen wollte.

– Aber ach, der Polizeidirektor nahm endlich das Telegramm zur Hand, das vor ihm auf dem Tisch lag, kommen wir zur Sache. Eine unangenehme Sache. Der Polizeidirektor seufzte, sehr unangenehm. Spät nachts noch hat man ihm dieses Telegramm vorbeigebracht, hoch vertraulich, ein Jugend- und Parteifreund, Stettler, alte Berner Familie, der Studer verstehe si­cher ... Dessen Tochter ist … hm, er räusperte sich trocken … war verheiratet mit dem Zürcher Geschäftsmann Müller oder Miller Montgomery, ein Amerikaschweizer – schon das ist heikel, sehr heikel, Studer! Denn der Schwiegersohn sei unter mys­teriösen Umständen ertrunken. In den Ferien, in Frankreich, an einem Ort am Atlantik, der dem hohen Polizeidirektor gar nichts sagt. Und, er hustete diesmal richtig, jetzt kommt’s: Der ertrunkene Müller oder Miller Montgomery sei nicht ihr Ge­mahl, behauptet die Ehefrau Müller oder Miller Madeleine, ge­borene Stettler! Soll das noch einer verstehen! Wolle er seine Meinung wissen, Studer? Die Witwe steht unter Schock, ist durchgedreht, ganz einfach.

– Der einflussreiche Vater Stettler, er seufzte erneut, mein einflussreicher Parteifreund, traut der französischen Polizei nicht, er hat zusätzlich einen schweizerischen Fahnder angefor­dert, internationaler Fall ... Gehört eigentlich in die Zuständigkeit der Kantonspolizei Zürich, da Müller in Zürich wohnhaft ist … Aber der alte Parteifreund schreibt im Telegramm, der Polizeidirektor setzte umständlich seine Brille auf: «Dringend besten Fahnder der Berner Kantonspolizei nach Saint-Georges (Vendée) schicken! Spesen werden übernommen. Erwarte so schnell wie möglich Antwort. Danke!»

– Also, Studer, sagte der hohe Vorgesetzte, was halten Sie von der Sache?

Was man von der Sache hält? Viel, sehr viel! War dies vielleicht der «Große Fall», von dem jeder Kriminalist träumt, auch wenn er nur ein einfacher Fahnder ist? Aber Studer war alles andere als ein einfacher Fahnder. Wäre Studer «einfach» gewesen, so hätten seine Kollegen, vom Polizeihauptmann bis zum simplen Gefreiten, nicht behauptet, er «spinne mängisch». An dieser Behauptung war zum Teil die große Bankaffäre schuld, eine Intrigengeschichte, die ihm das Genick gebrochen hatte damals, als er wohlbestallter Kommissär bei der Stadtpolizei ge­wesen war. Er hatte den Abschied nehmen und bei der Kantonspolizei als einfacher Fahnder wieder anfangen müssen. In kurzer Zeit war er zum Wachtmeister aufgestiegen; denn er sprach fließend drei Sprachen: Französisch, Italienisch, Deutsch. Er las Englisch. Er hatte bei Groß in Graz und bei Locard in Lyon gearbeitet. Er besaß gute Bekannte in Berlin, London, Wien – vor allem in Paris. Den Divisionskommissär Madelin von der Police Judiciaire zum Beispiel. An kriminologische Kongresse wurde gewöhnlich er delegiert. Wenn seine Kollegen behaupteten, er spinne, so meinten sie vielleicht da­mit, dass er für einen Berner allzu viel Fantasie hatte. Aber auch dies stimmte nicht ganz. Er sah vielleicht nur etwas weiter als seine Nase, die lang, spitz und dünn aus seinem hageren Gesicht stach und so gar nicht zu seinem massigen Körper pas­sen wollte.

Der Studer war ein guter Spürhund, er konnte den Schweiß der Zwänge förmlich riechen, unter denen der Polizei­direktor jetzt stand …

– Einerseits, murmelte der Direktor und wischte sich über die Stirn, sei der Parteifreund sehr einflussreich …

Er gebrauchte gern die Form «einerseits-andrerseits». Und Studer hat auf den Stockzähnen gegrinst, weil er die Bemühungen seines Gegenübers sah, den zweiten Teil des Satzes auszusprechen. Endlich:

– Andrerseits die Zürcher Polizei … Wir wollen es den Zürchern zeigen. Wir Berner!

 

Als guter Spürhund konnte Studer auch die Gedanken seines Gegenübers lesen. So deutlich, wie wenn sie dem Polizeidi­rektor auf die Stirne geschrieben wären: Ob der Studer hier faulenzt oder ob er Ferien nimmt, bleibt sich gleich. Löst er die Sache nicht zur Zufriedenheit, so pensionieren wir den Mann. Der geht sowieso auf die sechzig zu.

Das jedoch sagte der Polizeidirektor nicht, sondern:

– Sie müssen heute noch reisen, Studer, die üblichen Spesen, Zug dritte Klasse, versteht sich! Und ein Zimmer in einer günstigen Familienpension. Ich lasse gleich nach Saint-Georges telegrafieren.

Der Direktor war unter Druck, jemanden zu schicken. Keine Zweifel. Sonst übernahm Zürich. Er hatte nur den Studer. Und der wollte bessere Reisebedingungen aushandeln. Zweitklassabteil im Zug, im Schnellzug! Und seine Frau soll auch mitkommen! Jawoll. Ab nächstem Montag hatte er nämlich eine Woche Ferien genommen, er wollte mit dem Hedy ins Tessin fahren.

Hätte man als junger Mann nicht die Entscheidung getroffen, sich auf die Seite der Guten zu schlagen und Polizist zu wer­den, wäre man vermutlich ein erfolgreicher Erpresser ge­worden. Und wäre jetzt reich. Als Ehrlicher aber muss man sich heute mit mageren sechshundert Franken Monatslohn durchschlagen.

Während Studer sich die Szene des gestrigen Morgens beim «Alten» genüsslich nochmal durch den Kopf gehen ließ, hielt das Taxi vor der Pension Zur Goldenen Glocke. Er schmunzelte noch beim Aussteigen und nahm einen tiefen Zug aus seiner Brissago, denn er hatte erreicht, was er wollte, s’Hedy und er sind in der zweiten Klasse gereist. Sie durfte mit, aber falls es ihm, dem Studer, nicht gelingen sollte – nicht gelingen!, hatte der Polizeidirektor doch tatsächlich geglaubt anfügen zu müssen –, den merkwürdigen Todesfall des Müller Montgomery aufzuklären, der nach Aussagen seiner Ehefrau nicht ihr Mann war … dann habe der Studer die Kosten für seine Frau aus der eigenen Tasche zu berappen. Davon weiß Frau Studer allerdings nichts.

Der Wachtmeister bezahlte das Taxi, er brauche aber eine Quittung! Hedwig Studer stieg aus dem Wagen, stützte beide Hände ins Kreuz und dehnte ihren schmerzenden Rücken. Sie strich über den völlig zerknitterten Rock und zog die verschwitz­te Bluse glatt, die klebte unangenehm am Körper. Das stundenlange Sitzen im Zug war Gift für ihr steifes Kreuz. Wenn jetzt bloß die Hex nicht einen Schuss setzt!

Die Pension lag unweit der belebten Avenue de la Plage an einem ruhigen Seitensträßchen, umgeben von hübschen kleinen Strandvillen in allen nur erdenklichen Baustilen. Hinter der Pension begann gleich der Dünenwald, und ein würziger Kieferngeruch, vermischt mit Salz und Jod, durchfloss die Abendbrise vom Meer her, die Frau Studer tief einatmete. Alles war so unglaublich fremdartig. Noch heute Abend muss sie der Tochter eine Ansichtskarte schicken. Zum ersten Mal am Meer!

– Zum Meer? Da hinunter!, zeigte der Hausbursche mit ei­ner Ellbogenbewegung, da er gerade die Koffer der neuen Gäste ins Haus trug und schnaufte, es ist so groß, dass Sie es nicht verfehlen können!

Er grinste. Den Parisern kann man jeden Bären aufbinden, sicher auch diesen tumben Schweizern!

Studer sah dem frechen Burschen verärgert nach, doch ei­gentlich sah er seinem neuen Koffer aus brauner Vulkanfiber nach, letztes Jahr auf seiner geheimen Reise nach Marokko als falscher französischer Inspektor musste er leider von seinem ge­liebten ramponierten Koffer aus Schweinsleder Abschied nehmen und den da kaufen.

Aber erst hat man die Formalitäten zu erledigen, man rennt nicht gleich ans Meer! Die Anmeldung ausfüllen, das Zimmer beziehen und die Koffer leeren, letzteres gehörte zu den Pflichten seiner Frau. Hedwig Studer stieg denn auch ohne Widerspruch mit dem Schlüssel für Zimmer Nr. 3 hinter dem Hausburschen die helle Holztreppe hoch.

Studer wartete am Tisch, der beim Eingang als Rezeption diente, mit dem Hut in der Hand und wischte sich bestimmt zum hundertsten Mal mit dem längst feuchten Nastuch über Na­cken und Stirn.

Madame Merle, die Besitzerin der Pension, kramte hektisch in den Papieren auf dem Tisch und dann in einer Schublade her­um.

Was sucht die Frau denn? Man möchte endlich den viel zu warmen dunklen Reiseanzug ausziehen, der so eklig an einem klebt wie eine nasse Fahne am Mast. Ungeduldig schaute er sich um. Ein hartnäckiger Hauch Javel von der morgendlichen Putzerei schwebte noch in der Eingangshalle.

Halle war übertrieben, ein Raum, der zugleich als Eingang, Durchgang und Aufenthaltsraum für die Pensionäre zu dienen schien, schwarze und weiße Bodenplatten, keine Teppiche, die Wände bis Brusthöhe getäfert mit demselben hellen Holz wie die Treppe, darüber grüngelbe Tapeten mit einem zackigen Muster, Studer schüttelte innerlich den Kopf, ein nüchternes Regal an einer Wand, nur Holzbretter mit ein paar Büchern und Zeitschriften drauf, mehrere viereckige Tischchen, deren Schlichtheit kein Tuch verbarg, kurz, alles modern, sehr eckig modern alles, und ungemütlich, vor allem die Sessel!

– Ich werd’s gleich gefunden haben ... wo hab ich sie denn bloß hingesteckt … nehmen Sie doch bitte Platz, Monsieur le Commissaire, rief Madame Merle nervös und wies auf die beiden Sessel vor ihrem Tisch.

Studer begutachtete sie misstrauisch – es waren dieselben Exemplare wie bei den langweiligen Tischchen – wer sich da hineinsetzt, kommt nie wieder hoch! Jedenfalls der Studer nicht. Tief waren sie, mit ungepolsterten, ebenso tiefen Armstützen. Er schüttelte den Kopf, was sucht die gute Frau eigentlich?

– Da sind sie ja! Aus dem Gestell mit den Fächern und Zimmerschlüsseln hinter ihr an der Wand – zwölf Zimmer hatte die Pension Zur goldenen Glocke – zog Madame Merle triumphierend zwei Briefe aus dem Fach Nr. 3, die sind heute für Sie abgegeben worden, einer am Mittag und der da vor kaum einer halben Stunde. Scheint wohl etwas Wichtiges und Dringendes zu sein?

Für «Monsieur le Commissaire Studer personellement!» stand auf beiden Briefen. Da schneit ihr das Schicksal einen Kommissar aus der Schweiz ins Haus und schon kommen zwei Briefe für ihn, wenn das kein wichtiger Mann ist. Diese Neuigkeit müssen ihre Freundinnen sofort hören, mon dieu, werden die sie beneiden! Noch besser wäre allerdings, sie wüsste, von wem die Briefe stammen … Ihre Nase, die überall reingesteckt wurde und reiche Erfahrung besaß, hatte sofort den zarten Veilchenhauch des zweiten Briefes gerochen …

Sie beugte sich ungeniert über den Tisch, als Studer einen Brief aufriss, natürlich den Veilchenbrief. Könnte sie doch bloß den Namen der Schreiberin lesen – nur eine Weibsperson, eine Dame!, schickt einem Herrn Veilchenbriefe ... Einem verheirateten Herrn!

Studer durchschaute die Wirtin, man hat schließlich nach so vielen Jahren Polizeiarbeit ein bisschen Menschenkenntnis gesammelt, er drehte sich weg, aber nur so viel, dass die neugie­rige Klatschbase glaubte, doch noch den Namen entziffern zu können. Sie kennt schließlich das halbe Dorf. Vor allem muss sie unbedingt in Erfahrung bringen, weshalb ein Kommissar aus der Schweiz bei ihr abgestiegen ist. «Ferien» hat er auf das Anmeldeformular als Zweck des Aufenthaltes geschrieben, aber für wie dumm hält er Madame Merle, natürlich glaubt sie ihm kein Wort! Bestimmt eine geheime Mission. Ist in Saint-Geor­ges gar ein Verbrechen passiert, von dem sie noch nichts weiß? Wäre unglaublich, geradezu unverschämt!

Der Wachtmeister grinste hinter dem Papier, man kann die Gedanken der guten Frau lesen, als ob die da im Brief aufgeschrieben wären.

Aber was steht denn nun im Brief? Er ist von Frau Müller, Madeleine Müller, geborene Stettler. Sie müsse den Kommissär Studer unbedingt sehen, bevor er den französischen Inspektor treffen wird. Es sei sehr wichtig! Sie erwarte ihn um halb sechs im Café du Centre, sie trage ein blaues Leinenkostüm, einen weißen Sommerhut und ein blaugelb gestreiftes Foulard. Sie wird ein Buch in der Hand halten.

Tropfen fielen von der Stirn des Wachtmeisters und hinterließen auf dem edlen Büttenpapier dunkle Flecken, unter de­nen die blauen Buchstaben zu zerfließen begannen … Gopfrid­stutz!, fluchte er, und Madame Merle, die noch nie ein schweizerdeutsches Wort gehört hatte, verstand sofort, dass etwas sehr Ärgerliches, ja bestimmt höchst Dramatisches in diesem Brief stehen musste!

– Gibt es ein Problem, Monsieur le Commissaire?, fragte sie lauernd.

Mit leicht zitternden Fingern holte Studer ein weiteres Mal sein Nastuch aus dem Hosensack und fuhr sich über den Haaransatz und den Schnauz.

Diesmal ist es eine innere Hitze, die aufsteigt und einem so zu schaffen macht. Eine noble Dame, die Frau Müller, man kann sich nicht so blamieren mit den Reisekleidern. Man spürt richtig, dass man einen Schritt in eine andere Welt tut, und es ist fast peinlich, diese Welt in den dunklen Kleidern zu betreten, die noch gestern im verregneten und kühlen Bern angebracht gewesen sind.

Er ging eilig zur Treppe und ließ ohne Bedauern die zutiefst gekränkte Madame Merle zurück, da fiel sein Blick auf die Uhr über der Glastür zum Speisesaal, eine modern quadratische Uhr mit Zahlen, keine römischen Ziffern, und die zeigten un­miss­ver­ständlich auf Viertel nach fünf!

Studer hatte keine Ahnung, wo er das Café du Centre finden und ob er das in einer Viertelstunde schaffen würde, aber keinesfalls die hilfsbereite Madame Merle danach fragen. Wenn der Name nicht völlig irreführend war, musste sich das Café im Dorfzentrum befinden.

Und so war es auch. Seinem Instinkt folgend war der Wachtmeister die Avenue de la Plage hochgegangen, in seinem dunklen förmlichen Reiseanzug, nicht mal die Krawatte wagte er zu lockern, inmitten der luftig und sportlich gekleideten Strandheimkehrer. Alle lachten sie bestimmt hinter seinem Rücken, man fühlt sowas. Dann durch den Dünenwald, der vor einem dunkelblauen Himmel in allen Grüntönen leuchtete und dufte­te, was er kaum beachtete, so schnell, wie er ging, und so heftig, wie er keuchte, und auf der andern Seite des Waldes am kleinen Bahnhof vorbei ins Dorf hinunter, bis zum großen viereckigen Platz, den schon das Taxi bei der Herfahrt durchquert hatte. Der Platz war mit den typischen Platanen gesäumt und hieß be­stimmt Place de la République. So war es, wie es sich gehört in einer Republik, und dort lag unübersehbar das Café du Centre gegenüber der Kirche. Ja, man kann sich auf seinen Instinkt und seine Frankreichkenntnisse verlassen.

Studer schnaufte und schwitzte und stand zwei Minuten nach halb sechs vor der Terrasse des Wirtshauses. Die wenigen Tischchen ohne Schatten waren leer, das Gelächter und Gläserklirren drängte sich unter die schützenden Sonnenschirme. Hier im Westen verspürte die Junisonne am späten Nachmittag noch keinerlei Lust zu sinken, stolz und hoch am Himmel stand sie und heizte den Menschen tüchtig ein.

Wie findet man im Gewimmel an den Tischchen die Frau Müller? Sie hatte den Landsmann in seinem schwarzen Gehrock bereits erkannt, ein schwerfälliger Rabe, der inmitten bun­ter Sommervögel gelandet war. Sie winkte kaum merklich mit dem Buch, als Zeichen, dass sie die Madeleine Müller ist, was unnötig war, man hatte sie auch gleich erkannt.

Die zierliche junge Frau im blauen Kostüm mit blaugelb ge­streiftem Schal und weißem Hut saß da wie ein exotisches Vö­gelchen inmitten einer lärmenden Spatzenschar, und dem Studer stieg noch mehr Röte ins Gesicht.

Ein heimliches Rendezvous mit der Geliebten, diskrete Handzeichen, die niemand sehen darf … Sieht das nicht alles so aus? Wenn das Hedy, die ja von nichts weiß, ihn jetzt so sähe … Dem massigen Wachtmeister brach der Schweiß auch noch aus der allerletzten Pore ob der Lächerlichkeit, nicht der Szene, aber seiner Gedanken. Wenn man sich bloß unsichtbar machen könnte!

– Frau Müller?, fragt man wie ein dummer Schulbub, und fügt schnell an, damit die Frage nicht so unnötig war: oder Frau Miller? Wie heißen Sie denn nun richtig in diesem Namensdurcheinander? Wenn der Wachtmeister verlegen ist, hört er sich schon mal ruppig an.

– Müller, lächelte sie, sie will ihm das schnell erklären, aber setzen Sie sich doch erst mal, Herr Kommissär Studer!

Man wollte den Kommissär-Irrtum sofort bereinigen und hatte schon das Maul geöffnet, die Hand gehoben … aber die Dame ließ einen nicht zu Wort kommen, sie scheint es nicht gewohnt zu sein, dass man sie unterbricht.

– Es ist so, Herr Studer, mein Schwiegervater Theodor Müller, Gott hab ihn selig, ist vor der Jahrhundertwende nach Ame­rika ausgewandert und hat sich dort als Miller niedergelassen. Mein Mann Montgomery ist in Boston zur Welt gekommen, aber nach dem Krieg … Ach Gott, sie winkte dem Kellner, der ge­rade am Nachbartisch Getränke ablud, Sie müssen ja verdursten, was möchten Sie denn gerne trinken, Herr Studer? Auch ein Glas Muscadet? Ein trockener Weißwein aus der Ge­gend. Kann ich sehr empfehlen. Sie sind natürlich mein Gast!

 

Da fühlt man sich schon die ganze Zeit wie ein geteerter und gefederter Bär, der fliegen soll, und jetzt wird man noch von ei­ner Dame eingeladen, wie beschämend, denkt sie etwa, der kleine Polizist kann sich kein Glas Weißwein leisten? Der durstige Studer sehnte sich aber nach einem Bier. Oder noch lieber zwei!

Der Kellner hatte den stummen Hilferuf gehört und fragte ohne zu fragen:

– Ein großes Pression für den Herrn?

Dankbar nickte Studer, unter Männern versteht man sich. Mit der Dame gegenüber schien es etwas schwie­riger.

– Wo war ich? Ach ja, der Krieg, Montgomery kam nach dem Krieg mit seinen Eltern in die Schweiz zurück, weil Montgomerys Mutter Schwindsucht hatte und in Arosa im Sanatorium war. Leider starb sie ein paar Jahre später. Wir heißen offiziell Müller. Ich weiß jedoch, dass mein Mann sich bei seinen Ge­schäften manchmal Miller nennt ... nannte …

Sie senkte den Kopf, Studer sah nur noch den breiten Rand ihres Hutes, und mit einer eleganten Geste, die dem Wachtmeister ziemlich theatralisch vorkam, zog Frau Müller ein winziges Etwas aus der Handtasche und betupfte sich damit die Augen.

Sollte man ihr nicht sein Beileid ausdrücken? Aber wenn sie so sicher ist, dass der Tote nicht ihr Mann ist, macht man sich doch lächerlich. Studer schnaufte, wie soll man da wissen, was richtig ist?

– Bitte sehr der Herr!

Der Kellner stellte das schäumende Glas Bier vor Studer, der sich am liebsten draufgestürzt hätte, aber stattdessen voller Verlangen die köstlichen Tropfen verfolgte, die über das be­schla­gene Glas rannen, während er ergeben wartete, bis die Da­me ihr Tüchlein wieder versorgt hatte.

– Prost!

Studer gab sich mit einem tiefen lautlosen Seufzer endlich dem ersehnten Bier hin. Kühl und bitter rann es den Hals hinunter und hinauf in Studers heiße Wangen. Die Dame hob auch ihr Glas.

– Zum Wohl, Herr Kommissär. Es tut mir schrecklich leid, dass Sie diesen weiten Weg auf sich genommen haben, nur wegen eines einfachen Todesfalls.

Er sei kein Kommissär, brummte Studer und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum aus dem Schnauz, er sei Wachtmeister bei der Berner Kantonspolizei!

– Wie bitte?

Frau Müller schaute verwirrt auf, ihr Vater hatte doch heute Vormittag telegrafiert, der beste Experte der Berner Polizei für ungewöhnliche Vorfälle sei nach Saint-Georges beordert worden, um die Angelegenheit zu klären. Wie kann ein kleiner Wachtmeister …

Man hat die Nase voll, gestrichen voll, sich immer rechtfertigen zu müssen! Studer schnaubte, er sei mal Kommissär gewesen, sei über eine Intrigenaffäre gestolpert. Habe danach bei der Kantonspolizei nochmal ganz unten anfangen müssen …

Wie unerträglich drückend es war, selbst im Schatten. Aber der Wachtmeister saß jetzt mit dem Rücken in der Sonne, die ganz hinterhältig gewandert war. Jetzt hätte man gerne eine Brissago angezündet. Wenn die Dame endlich mal zur Sache käme!

Die Dame schien nicht überzeugt, wirklich einen der besten Fahnder vor sich zu haben. Aber das spielte ohnehin keine Rolle mehr, wenn sie das gesagt haben würde, was sie dem Herrn Kommissär, der keiner mehr war, zu sagen hatte.

Es tue ihr leid ...

Weil man nicht mehr Kommissär war oder weil man den weiten Weg gemacht hat?

… denn es sei ganz eindeutig. Der Tote sei bestimmt ihr Mann, sie habe unter Schock gestanden, als sie ihn so tot da liegen sah – wieder nestelte sie in ihrem Täschlein nach dem winzigen Etwas – sie habe es einfach nicht glauben wollen. Erneut tupfte sie ihre Augenwinkel und sah dann Studer an.

– Sie sind vergebens hierhergeschickt worden, Herr Kom … Herr Studer, sagte sie jetzt mit entschiedener Stimme, es gibt nichts zu ermitteln. Es gibt nichts Mysteriöses! Es war mein Mann Montgomery und er ist ertrunken, ein Unfall, weil er spät nachts am Strand betrunken, so scheint es, von der Flut überrascht worden ist.

Frau Müller sah Studer so herausfordernd in die Augen, dass der Wachtmeister verwirrt den Blick senkte.

Was hat die Frau gesagt? Man hat sich wohl verhört, das Gelächter am Nebentisch schallte ins linke Ohr, während sie sprach. Er schüttelte den Kopf, um das Geräusch loszuwerden.

– Doch, Herr Studer, so muss es gewesen sein. Man sagt hier, dass die Flut mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes über den flachen Sand hochkommt.

Studer drehte das leere Bierglas mit beiden Händen.

Eine sternenlose und mondlose Nacht, der Strand ist bei Ebbe unendlich weit und verliert sich im Dunkel. Der Studer steht weit unten im feuchten Sand. Er hört gigantische Wellenpferde aus der Finsternis herandonnern, er sieht einen Mann in der Dunkelheit umhertorkeln, der Mann stolpert und fällt hin, die Wellen galoppieren heran und über ihn hinweg, hinten schäumen ihre Schweife von fluoreszierender Gischt, die Flut­rosse trampeln den Betrunkenen in den Sand, das Meer deckt ihn endgültig zu. Betrunken ertrunken.

Es könnte so gewesen sein. Vielleicht. Vielleicht nicht. Studer rieb sich die Augen, schüttelte nochmals den Kopf, diesmal, um die Bilder loszuwerden.

– Es tut mir wirklich leid …

Wie oft will die Dame das eigentlich noch sagen? Sie schaute ihm wieder herausfordernd in die Augen, und diesmal hält man stand!

– … aber Ihr Auftrag, Herr Studer, ist somit erledigt, annulliert. Eine Untersuchung ist unnötig, auch der französische In­spektor ist dieser Meinung.

Sie wird gleich danach ihrem Vater telegrafieren, damit er alles stoppe.

Wieder zurück in der Pension ging Studer eilig die Treppe hinauf, man muss sich endlich mal umziehen, und stürmte ins Zimmer Nr. 3.

Vor der geöffneten Kleiderschranktür stand eine mollige und hübsche Rothaarige im Unterkleid, erschrocken wandte sie sich um und schrie beim Anblick von Studer … Vom Bett sprang sofort ein Hüne von einem Mann, ebenfalls im Unterhemd, und kam drohend auf Studer zu ...

Gopfridstutz, wo ist man hier gelandet?

– Pardon, stammelte der Wachtmeister mit hochrotem Ge­sicht und hob beschwichtigend die Hände, falsches Zimmer!, und stolperte rückwärts wieder hinaus.

Man war doch richtig, das ist Zimmer Nr. 3!

Links und rechts hatten sich die Zimmertüren verstohlen einen Spaltbreit geöffnet. Von unten hastete außer Atem Ma­dame Merle die Treppe hoch.

– Monsieur le Commissaire! Sie haben ein anderes Zimmer, Nr. 10. Ihre Frau wollte wechseln!

Oben auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock erschien Frau Studers verlegenes Gesicht, sie rief mit unterdrückter Stimme, denn es war schon genug Tumult im Haus:

– Vatti, komm, mir sind än Stock höcher!

– Man solle ihn nicht Vatti nennen, brauste Studer auf.

Er war überreizt, ein langer Tag lag hinter ihm, im Nachtzug hatte man wohl die Augen zugetan, aber nicht geschlafen, dann die lange Fahrt, die ungewohnte Wärme hier, die böse Überraschung mit Frau Müller, diese peinliche Zimmergeschichte und jetzt auch noch «Vatti»! Es war begreiflich, dass ihm die Geduld riss.

Zimmer Nr. 10 war groß, mit zwei Fenstern übers Eck, durch das eine leuchtete der Dünenwald jetzt golden im Abendlicht, Bettstatt und Schrank alles schnörkellos gerade und modern, helles Holz auch hier – war das Akazie? – und die Wände mit hellblau gezackten Tapeten bezogen.

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