Wie das Leben so spielt

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Wie das Leben so spielt
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Ursula Göhr

Wie das Leben so spielt

Ein Jahr in Geschichten, Gedichten und Bildern

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Januar: Raureif auf der Seele

Februar: Schneeschmelze

März: Frühlingserwachen

April: Ameisen zum Frühstück

Mai: „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus“

Juni: Johannisfeuer

Juli: Ab in den Stau!

August: Hitzefrei

September: Im Rausch der Farben

Oktober: Erntedank

November: Novemberblues

Dezember: „Von drauß‘ vom Walde komm‘ ich her…“

Impressum neobooks

Januar: Raureif auf der Seele

Agnes fror wie ein Schneider. Noch nie war es in diesem Badezimmer so kalt gewesen! Die heiße Dusche hatte nicht viel bewirkt, denn noch beim Abtrocknen blühte die Gänsehaut wieder auf. Was zeigte denn das Thermometer? 15 Grad! Sie schnappte nach Luft. Seit Tagen stand fest, dass sie ihn am Wochenende besuchen würde und er wusste auch, wie verfroren sie war. Warum hatte er dann nicht eingeheizt? Fröstelnd und hastig zog sie sich an. Der Empfang war auch nicht gerade herzlich gewesen, wenn sie es recht bedachte. Hatte sie irgendetwas falsch gemacht? Sie war sich keiner Schuld bewusst.

Vielleicht hatte seine impertinente Schwester wieder gestänkert. Darauf verstand sie sich ja besonders gut. Konnte es sein, dass Eifersucht dahinter steckte? „Blödsinn“, sagte sich Agnes laut. „Bilde Dir keine Schwachheiten ein!“ Vorsichtig stieg sie die steile Treppe hinab und blickte sich suchend um. Das Haus war trotz seiner 100 Jahre ein echtes Schmuckstück. Das Esszimmer, sein eigentliches Herz, wurde von einem großen Kamin beherrscht, in dem ein Schwedenofen bollerte. Ah – immerhin, hier hatte er für Wärme gesorgt! Sie war erleichtert. Der Tisch war schon für das Abendessen mit Großmutters wunderschönem geblümten Geschirr eingedeckt und das warme Licht der Jugendstillampe spiegelte sich funkelnd in den Kristallgläsern. Sogar an Kerzen hatte er gedacht. Na ja, vielleicht hatte sie sich seine Kühle doch nur eingebildet. Ach herrje, es waren ja drei Gedecke! Die Schwester wurde also auch erwartet. Hatte sie es doch geahnt.

Wieso konnten sie beide nicht öfter ein Wochenende allein verbringen, wie es für andere Paare ganz selbstverständlich war? Nein, immer wieder musste sie die Monologe der Schwester ertragen, denen Fritz gebannt lauschte und die nicht unterbrochen werden durften. Wenn sie wenigstens einen geistreichen Inhalt gehabt hätten. Aber nein! Es wurde das Schicksal der näheren und weitläufigeren Verwandtschaft, enger und entfernter Freunde zuzüglich diverser Nachbarn in ihrer weit entfernten Heimatstadt durchgehechelt. Selbstredend kannte sie niemanden dieser illustren Gesellschaft und konnte daher nicht mitreden. „Das ist ja wohl auch der Zweck der Übung“ überlegte sie missmutig. „Sie will mich mit allen Mitteln vergraulen. Aber warum?“ Ihr blieb dieses Verhalten ein Rätsel.

„Ach, da bist du ja! Du siehst blass aus. Hattest du denn eine gute Reise?“ begrüßte Susanne sie zuckersüß und bot ihre linke Wange dar, die Agnes pflichtschuldigst küsste. Echt, ihr blieb auch nichts erspart. Dieser Person musste sie jetzt stundenlang gegenübersitzen! Für ihr nichtssagendes Gesicht und das kraftlos herunterhängende aschblonde Haar konnte sie ja nichts. Aber statt das Beste daraus zu machen, unterstrich sie mit ihrer nachlässigen Kleidung ihre hausbackene Erscheinung auch noch. Und die Spitze hatte Agnes sehr wohl herausgehört. Blass? Von wegen! Sie war mit einem frischen Teint gesegnet, der wunderbar mit ihrem lockigen dunklen Haar harmonierte. Auch, wenn sie nicht übermäßig eitel war, wusste sie, dass der taillierte rote Pullover, den sie heute zum ersten Mal trug, ihre Farbgebung vorteilhaft unterstrich. Wie konnte eine Frau nur so neidisch sein!?

Aber sie ließ sich nichts anmerken. „Danke, ich bin gut durchgekommen. Den Schneesturm, der sich über uns zusammenbraut, haben sie im Radio erst für heute Nacht angekündigt. Da hab ich nochmal Glück gehabt.“ „Das freut mich“ gurrte Susanne. „Weißt du, wo Fritz ist? Ich will seine Meinung zum Nachtisch hören, den ich mitgebracht habe“. Susanne hielt sich für eine gute Köchin und Fritz unterstützte sie in diesem Glauben. Zu Agnes‘ unvergleichlichem und von ihrem verzückten Freundeskreis zum Kult erklärten Rehrücken hatte er nie mehr als ein „ja, geht“ hören lassen. „Nein, keine Ahnung. Er ist gleich nach unserer Begrüßung verschwunden. Vielleicht wollte er im Garten noch ein paar Kräuter…“ „Hallo, Schwesterherz! Du bringst wieder Glanz in meine bescheidene Hütte!“ Die Geschwister umarmten sich herzlich. Agnes zuckte zusammen, als hätte eine kalte Hand sie berührt. Wann hatte Fritz sie zum letzten Mal so freudig begrüßt? Hatte er das jemals? In diesem Moment wäre sie am liebsten in ihr Auto gesprungen und wieder nach Hause gefahren, in ihre helle, warme Wohnung, in der sie mit ihren Freunden gemütlich zusammensaß und auf deren großem Balkon sie an manchem langen Sommerabend fröhlich feierten. Aber so kurz vor dem Schneesturm? Und wollte sie wirklich klein beigeben?

„Jetzt zeig doch mal, was du uns als Dessert mitgebracht hast!“ forderte Fritz seine Schwester auf und zog sie in die Küche. „Apfelkuchen! Lecker!“ schallte es begeistert durch die offene Tür. Agnes folgte ihnen und schaute sich das Exemplar gepriesener Backkunst näher an. Ein Boden, Apfelschnitze und Zucker darüber. Das hatte sie schon mit 12 Jahren in Mutters Küche alleine fabriziert. Aber gut, sie wollte sich nicht noch weiter in eine negative Stimmung hineinsteigern. Der Kuchen schmeckte sicher besser als der missglückte Schokoladenpudding vom letzten Mal.

Susanne strahlte über das Lob des Bruders. „Du bist doch sicher froh, dass du von uns so verwöhnt wirst, liebe Agnes?“ fragte sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag. „Vermutlich hast du wieder nichts Kulinarisches beisteuern können, weil dich dein Salon so auf Trab gehalten hat, stimmt’s?“ Autsch. „Ja, das ist leider richtig. Das neue Produkt von Biostethique hat so toll eingeschlagen, dass ich mich vor dem Ansturm neuer Kundinnen tatsächlich nicht mehr retten kann. Ich bin rundum zufrieden, dass ich da die richtige Nase hatte“, lächelte Agnes, soweit ihr das mit zusammengebissenen Zähnen möglich war. „Aber Fritz, mein Rehrücken an Weihnachten mit dem Mousse au Chocolat als Nachtisch hat dir doch bestimmt sehr gut geschmeckt, oder?“ „Ja, ging so“, meinte Fritz und drehte sich mit seinem Gulaschtopf zur Tür. „Kommt zu Tisch“.

Agnes war der Appetit eben vergangen. Da war er wieder, dieser Spruch. Diese mangelnde Wertschätzung schmerzte sie von Mal zu Mal mehr. Sie strampelte sich ab, um mit ihm die Wochenenden zu verbringen, beteiligte sich zur Hälfte an den Urlaubskosten, an den teuren Geschenken für die Schwester und am Unterhalt für dieses ständig reparaturbedürftige Anwesen und klagte nicht einmal mehr über die mangelnde Zärtlichkeit zwischen ihnen beiden. Sie erwartete keinen Dank, denn in einer Partnerschaft war ein Geben und Nehmen für sie selbstverständlich. Aber Undank? Nein, den hatte sie nicht verdient.

Schweigend nahm sie das Abendessen ein und hörte nur von Ferne das lebhafte Geplänkel zwischen den Geschwistern. Endlich kam die Schlafenszeit und Agnes war froh, sich nach einem anstrengenden Tag und einer langen Autofahrt ausruhen zu können. Als sie aus dem nach wie vor viel zu kalten Bad kam, wollte sie sich noch ein Glas Milch in der Küche heiß machen und tastete sich auf leisen Sohlen, um Fritz und die Schwester nicht zu wecken, die Treppe hinunter.

Eigenartig, durch die halb offene Küchentür drang ein Lichtschein. Und hörte sie da ein Flüstern? Eine seltsame Ruhe und kühle Klarheit überkam sie und sie näherte sich geräuschlos. Was sie sah, drehte ihr den Magen um. Fritz und Susanne standen eng umschlungen am Buffet und küssten sich leidenschaftlich. Nach Atem ringend löste sich Susanne gerade, lehnte ihre Wange an seine Schulter und fragte Fritz: „Wie lange soll das Theater noch weitergehen? Wann hast du sie denn endlich so weit, dass sie sich an deinem Geschäft beteiligt? Nicht, dass sie nochmal in ihren Friseurladen investiert, und wir gehen leer aus! Außerdem bin ich das Schwesterspielen leid! Ich kann es einfach nicht mehr ertragen, euch zusammen zu sehen. Wir beide sind doch ein Paar! Ich hoffe, du vergisst das nicht!“ Sie schien den Tränen nahe. Er drückte sie noch enger an sich. „Susi, ich liebe doch nur dich. Du bist meine ganz große Liebe seit der Schulzeit, das weißt du doch. Mach dir keine Sorgen. Es dauert nicht mehr lang, dann sind wir am Ziel. Wenn ich sie ab dem nächsten Mal wieder umschwärme, wird sie mir überglücklich aus der Hand fressen und …“ Agnes hatte genug gehört.

 

Mit letzter Kraft hielt sie ihre Panik in Schach, entfernte sich so leise, wie sie gekommen war und packte oben angekommen in wilder Hast ihren kleinen Koffer. Halb angezogen rannte sie Hals über Kopf die Treppe wieder hinunter und schlug die Tür hinter sich zu. Der Schneesturm war im vollen Gange, als sie sich verzweifelt zu ihrem Auto kämpfte. Ohne sich um die dicke Schneeschicht darauf zu kümmern, stieg sie ein, warf ihren Koffer neben sich und fuhr los. Sie wollte weg, nur weg! Halb blind kämpfte sie sich durch das dichte Schneetreiben, umklammerte zitternd das Lenkrad und schrie ihre Verzweiflung laut heraus. Dieses Elend, diese Enttäuschung, diese Niedertracht! In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander und alles in ihr verkrampfte sich. Die Scheinwerfer der vereinzelten Autos auf der Straße blendeten sie, aber sie steckte in einem tiefen schwarzen Loch und bohrte ihre tränenblinden Augen geradeaus in die flimmernde Nacht.

Nach einer halben Ewigkeit schimmerte von fern ein Licht und beim Näherkommen holten sie die hellen Umrisse einer Raststätte aus ihrer Schockstarre. Hier hielt sie sonst immer an, um sich für die lange Rückfahrt mit allem Nötigen einzudecken. Wie ferngelenkt bog sie ab und hielt auf dem Parkplatz. Lange saß sie dort reglos, den Kopf an das Lenkrad gelehnt. Die Kälte kroch allmählich an ihr hoch und sie fühlte einen Gedanken mehr als dass sie ihn innerlich hörte: „Willst Du denn hier erfrieren? Das ist keiner wert!“

Sie schaute auf und wurde sich jetzt erst des heftigen Sturms, der am Auto rüttelte, und des dichten Schneegestöbers richtig bewusst. Langsam und mit klammen Fingern öffnete sie ihren Koffer, wickelte sich aus ihrem Bademantel, zog sich Jeans und Pullover über ihren Schlafanzug und zog den Reißverschluss ihrer Stiefeletten hoch. Mantel und Mütze angelte sie sich vom Rücksitz. So ausgestattet stapfte sie steif und ungelenk durch den Schnee auf das Gebäude zu, vor dessen großen Fenstern die Schneekristalle im hellen Licht glitzerten.

Bei einer Tasse Kaffee und einem belegten Brötchen, das sie mechanisch kaute, kam sie langsam wieder zu sich. Sie war allein mit der Bedienung, die sich nicht um sie scherte. Was jetzt? Was sollte sie tun? Was machte noch Sinn? Sinn. Die Dinge des Lebens, die sie oft mit Martina diskutierte, ihrer philosophierenden, lebenserfahrenen Nachbarin und Freundin. Sie fand immer eine Erklärung und lieh ihre starke Schulter. Sie griff nach ihrem Handy wie eine Ertrinkende nach dem rettenden Strohhalm.

„Martina Baumgartner“? klang es nach längerem Klingeln verschlafen an ihr Ohr. Sie war zu Hause, Gott sei Dank! Eine Welle der Erleichterung schwappte über sie. Sie war doch nicht allein und verloren.


Februar: Schneeschmelze

Gabriele stand vor dem kleinen Hexenhäuschen und wusste nicht, was sie sagen sollte. Das also hatte Tante Hetti, die gute Seele, ihr vererbt! Nach dem Lärm der Großstadt war die Stille am Dorfrand, die nur von fröhlichem Vogelgezwitscher unterbrochen wurde, die reinste Erholung.

Vorsichtig öffnete sie das quietschende Gartentor und schlenderte die leicht verschneiten Trittplatten entlang auf die Haustür zu. Links und rechts vom Weg streckten Rosen ihre nackten Zweige der kalten Winterluft entgegen, hier und da lugten blaue oder terrakottafarbene leere Blumenkübel hinter kahlen Büschen hervor. Die grünen Fensterläden waren geschlossen, aber das Häuschen machte trotzdem einen freundlichen Eindruck und schien sie willkommen zu heißen. Ein bisschen Herzklopfen hatte sie schon, als sie den Hausschlüssel hervorkramte, den ihr der Notar am Vormittag übergeben hatte und sie war froh, dass sich die Tür leicht öffnen ließ.

Als sie sich im Halbdunkel des kleinen Flurs zu orientieren versuchte, wurde sie von plötzlich auf sie einstürmenden Erinnerungen fast überwältigt. Natürlich, der Lichtschalter war gleich rechts neben der Tür. Und „ihr Zimmer“ befand sich im ersten Stock. Ob die zweitoberste Stufe noch knarrte? Im Küchenbuffet hatte sie ihr eigenes Fach – und im Wohnzimmer „ihren“ Sessel, auf der nur sie und Hummer, der Kater, sitzen durften. Wie glücklich war sie als Kind gewesen, wenn sie hier ihre Ferien verbringen konnte! Und der verwunschene Garten mit den vielen Versteckmöglichkeiten – und den leckeren Beeren und Früchten! Sie grinste leicht betreten, als ihr einfiel, wie ihre Mutter wegen der Obstflecken auf ihren T-Shirts Stress gemacht hatte.

Das Herzklopfen setzte wieder ein, als sie die Fensterläden öffnete, das Licht hereinließ und langsam durch die Zimmer schritt. Ihr schien alles unverändert, ordentlich aufgeräumt und urgemütlich. Ihre Hetti-Tante hatte immer ein Händchen für ein wohnliches Ambiente gehabt. Tatsächlich, „ihr“ Sessel stand noch am selben Platz. Nur Hummer fehlte, vermutlich war er längst gestorben. Was für ein wunderbarer Spielgefährte er doch gewesen war!

Sie ließ sich mit einem Seufzer in „ihren“ Sessel sinken und schaute durch die großen Türen auf die Terrasse, die in eine kleine, von Büschen und Bäumen umrahmte Rasenfläche überging. Zu Hause. Bei diesem Gedanken spürte sie, wie sich der enge Knoten in ihrem Herzen allmählich löste. Ein warmes Gefühl der Geborgenheit breitete sich in ihr aus und es schien, als ob ihr Blut, das vor Wochen vereist war, aufzutauen begann. Sie lehnte sich zurück und gab sich diesem wunderbaren Aufblühen ihrer Lebensgeister uneingeschränkt hin.

Gabriele wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte – aber als sie aufstand, war sie ein neuer Mensch. Sie war Tante Hetti unendlich und von Herzen dankbar für dieses einmalige Geschenk. Jetzt hatte sie eine solide Basis und konnte voller Zuversicht und Freude ihr Leben neu ordnen.

Zuerst einmal konnte sie endlich aus dem Gästezimmer ihrer Kollegin ausziehen, die sie mitleidig aufgenommen hatte, nachdem ihre Existenz buchstäblich zusammengebrochen war. Seltsam, jetzt konnte sie tatsächlich daran denken, ohne zu einem Eisblock zu erstarren oder in Trauer zu ertrinken. Klaus hatte sie letzten Sommer von heute auf morgen verlassen. Dafür hatte es nicht die geringsten Anzeichen gegeben, alles war wie immer gewesen. Nach dem Frühstück war er zur Arbeit gegangen, sie hatte noch kurz aufgeräumt und war dann wie sonst auch mit der Straßenbahn ins Büro gefahren. Als sie abends heimkam, war er noch nicht zu Hause, was sie nicht erstaunte, weil er in letzter Zeit geschäftlich oft unterwegs war und viele Überstunden gemacht hatte. Dann fand sie die Nachricht. Er war weg. Die Wohnung und das Mobiliar überließ er ihr. Und natürlich die Zahlung der horrenden Miete.

Für sie brach damals eine Welt zusammen. Diesen Mann hatte sie innig geliebt und ihm blind vertraut. Und er hatte ihr nie den geringsten Anlass gegeben, an seiner Liebe zu ihr zu zweifeln. Wie niederträchtig und feige konnte ein Mensch sein? Am nächsten Morgen war sie außer Stande, zur Arbeit zu gehen und meldete sich bei ihrer Kollegin krank. Ihr hatte sie es zu verdanken, dass sie, die hoch sensible und zart besaitete Frau, nicht seelisch an diesem Tiefschlag zugrunde ging. Carola kam sie am Abend nach der Arbeit besuchen, hörte sich mit versteinerter Miene ihr laut herausgeschluchztes Elend an, packte alles Nötige in einen Koffer und nahm sie mit zu sich. Sie kümmerte sich auch um die Versteigerung der Wohnungseinrichtung und die Suche nach einem Nachmieter. Gabriele wäre dazu nicht in der Lage gewesen.

Die folgenden Monate waren für Gabriele die Hölle gewesen. Der Kummer nagte Tag und Nacht an ihr und ließ sie nicht zur Ruhe kommen, ihr Selbstvertrauen war zerstört, und ihr Lebenswille erlahmte zusehends. Nur die Arbeit und die liebevolle Fürsorge der Kollegin gaben ihr noch Halt. Dann, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, erreichte sie die Nachricht eines Notars, dass ihre Patentante Hetti gestorben war und ihr das Häuschen vermacht hatte. Zum ersten Mal vergaß sie eine Zeit lang ihr Elend und beschäftigte sich in Gedanken mit dieser wunderbaren Überraschung.

„Carola, echt, ich frage mich, wann sie dieses Testament verfasst hat. Sie hat mir nie etwas davon erzählt. Das muss lange vor ihrer Demenz gewesen sein – sie hat mich ja zum Schluss im Heim gar nicht mehr erkannt!“ Carola überlegte. „Du hast mir doch mal erzählt, dass Deine Hetti-Tante Klaus nie wirklich mochte. Sie hatte ja immer einen sechsten Sinn. Vielleicht ahnte sie, dass eure Beziehung eines Tages in die Brüche gehen würde“. Gabriele nickte. Ja, das war durchaus möglich. Die Menschenkenntnis ihrer Tante war in der Tat nicht berühmt, sondern berüchtigt gewesen. „Dann werde ich mich mal um den Busfahrplan kümmern und rausfahren“. Sie lächelte zum ersten Mal nach langer Zeit ihre Kollegin fröhlich an. „Nein, du nimmst mein Auto und ich die Tram“, bestimmte Carola. Es sind nur 20 Minuten und die Busse auf’s Land verkehren ja nur dreimal am Tag. So bist du unabhängig.“

Ja – und nun stand sie hier und konnte es nicht fassen, wie leicht und froh ihr Leben auf einmal war. Sie hatte bisher keine bezahlbare Wohnung in der Stadt gefunden, und plötzlich hatte sie ein Haus! Sie würde sich einen kleinen Gebrauchtwagen leisten und hier in Frieden leben können. Da bewegte sich doch etwas hinten am Fliederstrauch? Sie beugte sich vor. Das war doch …. Nein, das konnte nicht sein. Hummer! Sie riss die Terrassentür auf und rannte ungeachtet der Kälte und der Wasserpfützen auf die Katze zu. Aber nein, das war nicht Hummer. Dieses Kätzchen hatte zwar die gleiche rötliche Farbe, war aber doch noch viel zu jung und schlank. Hummer hatte schon vor ein paar Jahren ein stattliches Gewicht gehabt. Trotzdem, es lief auf sie zu, als würde es sie erkennen und strich schnurrend um ihre Beine. Sie streichelte das Kätzchen ausgiebig und sprudelte all die Koseworte heraus, die sie damals ihrem lieben Hummer gegeben hatte.

Sie war so vertieft, dass sie ihren Beobachter gar nicht bemerkte. „Hallo Gabi! Das ist eine von Hummers Töchtern!“ hörte sie eine Männerstimme rufen und fuhr erschreckt herum. Dicht am Zaun zum Nachbargrundstück stand ein großer, schlanker Mann mitten in voll erblühten Schneeglöckchen und lachte sie an. „Du bist es doch, Gabi, oder?“ „Ja, schon“, erwiderte sie, und überlegte fieberhaft, während sie auf ihn zuging, wer um Himmels Willen er sein könnte. Dann lachte sie befreit auf. „Mensch, Manfred, dich hätte ich fast nicht erkannt! Wie lange ist das jetzt her?" Sie reichte ihm die Hand, die er herzlich drückte. „Das müssen mindestens 10 Jahre sein“, mutmaßte er. „Ich hab in England studiert und gearbeitet und bin letzten Monat hergekommen, um mich um Opa zu kümmern. Er sieht nicht mehr gut. Ich hab echt Glück, dass meine Firma Niederlassungen in Deutschland aufbauen will. So kann ich immer mal herkommen und nach ihm sehen.“

Sie strahlten sich an. „Weißt du noch, wie ich den Apfelbaum deiner Tante geplündert habe? Du hast mich nie verpfiffen! Seitdem hast du bei mir einen ganz großen Stein im Brett!“ Sie lachte. „Und du bist mein Held, seit du mich gegen diesen fiesen Ulrich verteidigt hast. Du hattest Kratzer und blaue Flecken wegen mir und hast sie so stolz getragen, als hättest du eine Schlacht gewonnen!“ Er grinste. „Es war mir eine Ehre. Du warst das hübscheste und netteste Mädchen hier im Dorf und ich habe mich jedes Mal wie Bolle auf die Sommerferien gefreut, weil ich wusste, du würdest da sein. Ich war total verknallt in dich, wusstest du das?“ „Echt“? Gabriele wurde verlegen und schaute kurz zu Boden. „Nein, das wusste ich nicht. Hätte ich auch nie gedacht. Du warst doch der Schwarm der gesamten Weiblichkeit hier im Dorf. Was hätte ich dir schon bedeuten können?“ „Jetzt mach aber mal nen Punkt!“ lachte Manfred. „Hast du wirklich nicht gemerkt, dass dich alle Jungs hier im Dorf angehimmelt haben? So blond, so blauäugig, so grazil – du warst unsere Prinzessin! Ich war mächtig stolz, dass du gern mit mir zusammen warst. Mensch, haben die anderen Jungs mich beneidet!“ Man sah ihm an, dass ihm die Erinnerung daran sehr gefiel. „Was hast du?“ fragte er besorgt, als ihre fröhliche Miene von einer Sekunde zur anderen einem traurigen Ausdruck wich. „Hab ich etwas Falsches gesagt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich dachte nur eben daran, dass mein Lebensgefährte das wohl anders gesehen hat. Der hat mich nämlich Knall auf Fall sitzen lassen.“

 

Manfred schaute sie mitfühlend an. „Hey, das muss ein echter Idiot sein. Sei froh, dass du den los bist. Weißt du was? Unser Wiedersehen müssen wir feiern. Wollen wir nicht in die „Eiche“ gehen, so wie früher? Aber diesmal genehmigen wir uns etwas Stärkeres als Apfelsaft. Was ist, hast du Lust?“

Gabriele wusste nicht, wie ihr geschah. Sie hatte Manfred immer sehr gemocht und sich manchmal gefragt, was wohl aus ihrem Gefährten aus Kindertagen geworden war. Jetzt stand er leibhaftig vor ihr – irgendwie größer als früher, aber mit dem gleichen verwegenen Grinsen und demselben warmen Leuchten in seinen dunklen Augen. Ja, warum nicht? Sie fühlte, wie eine neue Leichtigkeit in ihr erwachte und ein Hauch ihrer kindlichen Unbeschwertheit zurückkehrte. Sie lächelte ihn an. „Klar, lass uns gehen!“ Er sprang behände über den Zaun, legte ritterlich den Arm um sie, und gefolgt von Hummers Töchterchen liefen sie einträchtig auf das Häuschen zu.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?