Lockenkopf 3

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Aus der Reihe: Lockenkopf #3
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Lockenkopf 3
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Ursula Essling

Lockenkopf 3

Das Schicksal hat nichts zu melden

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Zum Buch

Figuren / Protagonisten

Ich will die Wiedervereinigung (1957)

Eine klassische Bewerberfalle

Traurige kleine Mumien

Das Schicksal hat nichts zu melden

Süßer die Kassen nie klingeln

Weihnachten in Sibirien

Saubere Mitbürger

Klopfzeichen

Der schlafende Philosoph

Gebrandmarkt

Vollkommene Harmonie

Ein spätes Mädchen

Eine allein stehende Frau und Mutter

Möbel aus Papier

Des Teufels Gelächter

Impressum neobooks

Zum Buch

Dies ist der Folgeband von „Lockenkopf II, Das Lächeln einer Fledermaus“.

Jetzt befinden wir uns in der Zeit des „Wirtschaftswunders“. Es geht bergauf.

Die Erinnerungen wurden aus der Sicht und dem Rückblick eines Teenagers im Alter zwischen 14 und 15 Jahren aufgeschrieben.

Ein Stück erlebte Zeitgeschichte (1957 – 1958), die bei dem erwachsenen Leser ein Kaleidoskop der Gefühle hervorruft.

Die Namen von Personen, Firmen und Orten wurden geändert.

Ursula Essling, Jahrgang 1943, lebt heute mit Ehemann und zwei Siamkatzen in der Nähe von Frankfurt am Main.

Figuren / Protagonisten

Wichtigste handlungstragende Personen

Ulrike Scholl: 14 – 15 Jahre alt, schreibt alles auf.

Inge Scholl: 7 Jahre älter, ihre Schwester.

Grete u. Walter Scholl: Die geplagten Eltern.

Renate: Ulrikes und Inges Tante.

Herr Lorbach: Erfahrener Lehrer, ehemaliger Hauptmann mit

Silberplatte.

Kathinka Weinheber: Reisebegleiterin.

Hans Rascher: Genosse und Leiter eines Ferienlagers.

Amanda, Siegfried u. Hans: Gruppenleiter im Ferienlager.

Reinhold Jäger: Ulrikes Lehrherr.

Amalie (Malli): Seine Frau.

Emilie (Milli): Zwillingsschwester von Amalie, genannt die „B“.

Hans Gruber: Ulrikes Mäzen

Elisabeth: Ulrikes beste Freundin und Klassenkameradin.

Ingrid, Regine u. a.: Ulrikes Klassenkameradinnen.

Jörn: Chaot und Klassenkamerad Ulrikes.

Peter: Genie und Klassenkamerad Ulrikes.

Günther: Philosoph und KlassenkameradUlrikes.

Herr Leis: Ein schüchterner Berufsschullehrer.

Dr. Schilling: Direktor der Berufsschule.

Frau Gutmann: Kassiererin und Empfangsdame.

Unser Gerhard: Ihr Neffe.

Rosalie Mende: Lehrling im 1. Stock.

Frau Mende: Eine alleinstehende Frau und Mutter.

Frau Mühlbauer: Klatschbase von Kattenbach.

Heidi Walter u. a. Kattenbacher

Kollegen, Kunden, Ärzte u. a. Menschen

Ich will die Wiedervereinigung (1957)

Vom Ernst des Lebens hört man die Leute dauernd reden und denkt sich nichts dabei. Aber, es erwischt nun mal jeden. Es packt und beutelt den Ahnungslosen, wie den Ahnungsvollen und drückt ihm seinen Stempel auf. Das nennt man dann Schicksal. Und dieses Schicksal warf dann auch über mich seinen drohenden Schatten und verdunkelte meine Zukunft. Vorbei die Zeit der aufgeschlagenen Knie und der blauen Flecken, vorbei die bittere Süße der Kindheit. Jetzt lernte ich langsam zu schätzen, was es bedeutete, dass man die Verantwortung für seine Person einfach an die Eltern abschieben konnte. Denn von nun an hieß es: Selbst denken, jedenfalls zum Teil.

Gottseidank blieb mir das aber noch erspart, jedenfalls fürs Erste. Ich durfte nämlich ein halbes Jahr länger zur Schule gehen, weil ich noch keine vierzehn Jahre alt war. Oh nein, ich bin nicht sitzen geblieben. Im Gegenteil, Herr Lorbach begrüßte es sehr, dass er mich noch länger genießen durfte. Schließlich gehörte ich noch zur alten Garde, die mehr oder weniger herzerfrischend seinen Unterricht unterstützt hatte. Ich war ein trauriges Überbleibsel der vergangenen Oberstufe, bei der er sich von seinen „Blasen und Nieten“ immer erholt hatte. Von mir bekam er eine perfekte Ballade, mit Augenrollen, Seufzern und Betonung. Alles an den richtigen Stellen. Die meisten Schüler leierten den Text nur so runter und wussten gar nicht, was sie da für eine schaurig schöne Geschichte verunstalteten, indem sie diese so stammelnd erzählten. Ich hatte das Buch immer unterm Tisch liegen und lernte das Gedicht, während die anderen mühsam ihre Versionen zum Besten gaben. Aber das brauchte der Lehrer ja nicht zu wissen. Herr Lorbach und ich lieferten uns auch schmissige Dialoge im mündlichen Sachunterricht. Außerdem sorgte ich nach alter Manier öfter mal für unterhaltsame Unterbrechungen des Unterrichts. Dafür war mir der Rest der Klasse sogar dankbar. Wenn Herr Lorbach so nebenbei aus dem Konzept gebracht wurde, erzählte er nämlich furchtbar gern von seiner glorreichen Zeit als Hauptmann im Zweiten Weltkrieg. Während er zum zehnten Mal den Schuss schilderte, der ihm seine Silberplatte im Kopf eingebracht hatte, konnten wir unseren eigenen Gesprächen nachgehen. Natürlich leise und hinter vorgehaltener Hand. Während ich Herrn Lorbach ab und zu einen bewundernden Blick zuwarf, spielte ich mit Heidi Walter Galgen und freute mich, wenn Heidi das gesuchte Wort nicht einfiel. Denn dann wuchs das Strichmännchen am Galgen und ich konnte mir vorstellen, das sei unser Lehrer beziehungsweise der Herr Hauptmann, aufgehängt von seinen verzweifelten Soldaten. O ja, so etwas war durchaus lehrreich.

Es gab natürlich auch Fächer, bei denen ich mich bescheiden im Hintergrund hielt. Immerhin war ich eine „Schulfreiwillige“!

Ich hatte auch sonst keine Probleme; denn die nachgewachsene Klasse, die ich jetzt besuchte, war mir bestens vertraut. Dafür sorgte schon unser mehrklassiges Schulsystem. Außerdem blieb mir Paul Wolf als Klassenkamerad erhalten, denn der hatte es nach all den Jahren doch noch fertig gebracht, sitzen zu bleiben.

Es war mein letzter Sommer in Freiheit. Ein Sommer mit Eis am Stiel und Hitzefrei, mit Waldmeisterbrause und Himbeerbonbons, mit genussvollem Dösen in der Sonne und Wasserknappheit.

Die Klassenfahrt mit der neuen Oberstufe war auch eine Klasse für sich. Sie führte uns in eine Jugendherberge in die fruchtbare Wetterau. Diese vorsintflutliche Bretterbude wurde von einer dazu passenden Herbergsmutter geführt. Nachdem wir uns heimisch gemacht hatten und der Streit um die oberen Betten beigelegt war, legten wir so richtig los! Die Nacht wurde zum Tag gemacht und war doch die Nacht. Herrlich!

Irgendwie tat mir die Hexenmutter leid. Sie konnte noch so schimpfen, und das tat sie so ausgiebig, dass ihr der Speichel aus den Mundwinkeln tropfte, gegen unseren Radau kam sie nicht an. Aber auch diese Nacht ging rum! Als die Morgenröte ihre sanften Strahlen aussandte, hatten die meisten von uns Halsweh und die Herbergsmutter war heiser.

Tagsüber besichtigten wir die mittelalterlichen Stadtmauern, das herrschaftliche Schloss, in welchem noch echte Fürsten wohnten und die fruchtbaren Felder, wohl wissend, dass hier das nächste Aufsatzthema lauerte. Wer also zu müde war zum Aufpassen, sammelte fleißig Prospekte, um später davon abzuschreiben.

Am Abend saßen die Älteren von uns am Waldrand zusammen. Wir spürten wohl alle irgendwie, dass der kühle Wind, der uns frösteln ließ, auch langsam unsere Jugend verwehte. Es war einfach schön und so still! Ich gab tiefsinnige Sprüche von mir und kuschelte mich fester in meine Strickjacke. Diese, eine Eigenproduktion meiner Mutter, war zwar nicht warm genug, dafür aber zu allen Gelegenheiten zu gebrauchen. Als der Mond majestätisch am hohen Himmel dahin segelte, besangen wir ihn, und kehrten seufzend in das Hexenhaus zurück. Ganz tief drinnen wusste ja jeder von uns, dass er diese besinnlichen Tage niemals vergessen würde.

Auf dieser Fahrt wuchs ich sportlich über mich hinaus und machte meinen Frei- und Fahrtenschwimmer in einem Rutsch. Der vorgeschriebene Sprung vom Einmeterbrett hätte mir eigentlich schon gelangt, aber für den Fahrtenschwimmer war noch ein Dreimetersprung erforderlich. Herr Lorbach tat alles, um uns die Angst vorm Springen zu nehmen. Das gelang ihm aber nicht so ganz. Der Abstand zum Wasser sah nämlich von oben wesentlich höher aus, als das von unten der Fall war. Aber ich sprang! Was für ein Erfolgserlebnis, das ich mit fünf anderen aus meiner Klasse teilte.

 

Ich war braun gebrannt, denn wir hatten wirklich Sommer, und ich hatte es erstmals fertiggebracht, mir Zöpfe zu flechten. Die Rattenschwänze waren zwar äußerst mickrig und lösten sich immer wieder von selbst auf, aber es waren Zöpfe! Ein mexikanischer Strohhut auf dem Kopf und eine Sonnenbrille im Gesicht krönte das Ganze. So ausstaffiert fühlte ich mich richtig flott und schick. Und frei! Dieses Gefühl, das Wissen darum, frei und jung zu sein, wurde mir in diesem wundervollen Sommer zum ersten Mal so richtig bewusst.

Die Ferien wurden in diesem Sommer auch voll genutzt. Ich verbrachte drei Wochen davon in der Ostzone. Mit Wolfgang Brandt und zwei jüngeren Kindern aus Kattenbach ging es in ein Ferienlager im verwunschenen Erzgebirge. Begleitet wurden wir von einer gemütlichen, halbkommunistischen Frau aus Auenheim, die ihren Enkel mitbrachte, das liebe Kläuschen. Der kleine Klaus ist ein blond gelocktes Engelchen, das es faustdick hinter den Ohren hat. Er könnte glatt Wolfgangs kleiner Bruder sein. Der guckt auch so treuherzig und ist es nicht.

Dies war ein Projekt der Völkerverständigung, das heißt, der Verständigung der Bundesrepublik mit der Ostzone, die aber nicht Ostzone heißen wollte, sondern sich Deutsche Demokratische Republik nannte. Unsere Kunstlederfabrik hatte damals, als Deutschland noch ein Land war, eine Tochterfirma im Sächsischen. Ja, und darauf besannen sich die Sachsen jetzt und luden ein paar Kinder, deren Eltern in der Kattenbacher Fabrik arbeiteten, zu sich ein.

Man fragte mich beiläufig, ob ich Lust hätte. Und ich hatte Lust. Schließlich sagte sogar meine Mutter immer, ich solle es nutzen, wenn ich Gelegenheit bekäme, etwas von der Welt zu sehen. Es war wirklich eine aufregende Sache. Ich musste mir sogar einen Kinderausweis ausstellen lassen. Darauf wurde mir bestätigt, dass ich wirklich ich sei. Ich durfte dieses Dokument auf keinen Fall verlieren, sonst könnte meine Ausreise aus der DDR gefährdet sein. „Die da drüben warten nur auf so was, die brauchen unverbrauchte junge Leute, um ihren Staat aufzubauen!“ Dies und noch eine Menge anderes dummes Zeug bekam ich zu hören. Als man mir dann auch noch zu meinem Mut gratulierte, freiwillig in die Ostzone zu fahren, wurde es mir doch ein bisschen mulmig zumute.

Der große Tag kam, die Reise ging los. „Lass Dich nicht aushorchen, rede nicht so viel und lehne Dich nicht aus dem Fenster“, meine Mutter lächelte leicht bekümmert und gab mir einen Kuss auf die Wange.

Bis Bebra ging es gut. Wir hatten uns in ein abgeschlossenes Abteil zurückgezogen und grinsten uns in Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, verschwörerisch an.

Wolfgang erklärte geheimnisvoll, dass er Ostgeld, also eins zu vier Getauschtes, dabei hatte. „Selbst wenn die Vopos mich durchsuchen sollten, aber das machen sie ja bei Kindern sowieso nicht, die finden das nie!“ Er rieb sich genüsslich einen bestrumpften Fuß am anderen.

„Sicher, die fallen ja auch erst mal in Ohnmacht, wenn Du Deine Socken ausziehen musst, bei dem Käsegestank!“

Leiser Neid regte sich in mir. Ich hatte leider nur so viel Westgeld dabei, wie man mitnehmen durfte. Dafür hatte meine korrekte, oder besser gesagt, meine ängstliche Mutter, schon gesorgt. Das musste ich drüben auch noch eins zu eins umtauschen.

„Wir wollen da kein Risiko eingehen, Ulrike, man weiß ja nie!“ Ich sah das realistischer. Schwarzgeld war doch auch Geld! Im Vorfeld zu dieser Reise hatte ich von so vielen „sicheren Verstecken“ gehört, nicht nur für Geld, sondern auch für Kaffee, Micky Maushefte und Kaugummi. Nur, ich hatte nichts zu verstecken!

Der Rest der Reise war chaotisch, anstrengend und schrecklich. In Bebra warf man uns aus unserem gemütlichen Abteil raus, weil wir keine Platzkarten hatten. Bis Dresden saßen wir im Durchgang des Zuges auf unseren Koffern. Jedes Mal, wenn ich gerade am Einnicken war, musste ein Mitreisender aufs Klo. Das heißt, er stieg über mich hinweg und rempelte mich gründlich an. Das war kein Zug, das war eine Sardinenbüchse. Dazu die übernervösen Reisenden. Viele hatten Angst vor der Grenze. Man schnappte öfter mal Wortfetzen wie diese auf: „Hoffentlich komme ich diesmal rüber. Sie haben mich schon zwei Mal zurückgeschickt! Mein Gott, ich will doch nur meine Mutter besuchen!“

Aus einer anderen Ecke hörte ich die ängstliche Stimme einer Frau: „Hoffentlich lassen sie mich wieder zurück! Ach, wenn ich nicht müsste, keine zehn Pferde brächten mich hierher. Hoffentlich geht alles gut!“

Eine grauhaarige und zerbrechlich wirkende Frau stand am Fenster. Sie blickte unschlüssig in die Nacht, in der irgendwo in der Ferne die Grenze zum anderen Deutschland lag.

„Du weißt, Heinrich, dass ich mich streng nach den Vorschriften richte, niemand soll uns was nachsagen können. Aber meinst Du nicht auch, dass wir zu viele Bananen dabei haben? Iss doch lieber noch eine!“

„Willst Du mich mästen“, knurrte der Angesprochene und versuchte, das Fenster im Gang nach unten zu drücken.

Sofort ertönte es von allen Seiten: „Es zieht, lassen Sie das Fenster zu!“ Als ob dieser kleine Zug im Zug was geschadet hätte! Man kochte ja förmlich im eigenen Schweiß.

Der Mann, der keine Banane essen wollte, drückte das Fenster wieder hoch. Seine kleine Frau hatte aber immer noch so ihre Bedenken. „Ich habe Cousine Betty einen ganzen Schwung Schnittmuster mit genommen. Ob man die verzollen muss, was meinst Du, Heinrich? In den Merkblättern steht nichts davon!“

Der Mitreisende, der auf seinem Rückweg vom Klo wieder über mich kletterte, grummelte vor sich hin: “Sorgen haben die Leute, Sorgen!“

Bei all diesem Durcheinander schnaufte der Zug ungerührt weiter und fraß Kilometer um Kilometer. Ich bekam jedenfalls kaum etwas mit, als wir die Zonengrenze, Verzeihung, die Grenze zur Deutschen Demokratischen Republik passierten. Nicht einmal mein gut trainiertes „Unschuldig aus der Wäsche gucken“ musste ich spielen. Ich verschlief die Zollkontrolle. So einfach war das. Und dann waren wir in Dresden und mussten uns mit unseren unpraktischen, veralteten Koffern durch Menschenknäuel hindurch wühlen. Angelika und Dieter wurden zwischen Wolfgang und mir aufgeteilt. Der große Koffer mit dem kleinen Mädchen entwickelte auch noch ein eigenes Leben, er schlitterte ziemlich unkontrolliert über den Bahnsteig. Mir tat die Kleine leid. Was blieb mir da anderes übrig, als dem spindeldürren Kind auch noch seinen Koffer tragen zu helfen? Über Floh’s Gesichtchen liefen sowieso schon Rinnsale und gruben sich ihren Weg durch Schweiß und Schmutz. Das fing ja gut an! Ich hätte vor Zorn geknurrt, wenn ich nicht zu müde dazu gewesen wäre. Der erste Eindruck ist immer der Beste, lautet eine alte Lebensweisheit. Und dies waren meine ersten Eindrücke vom anderen Deutschland! Zwischendurch hörten wir immer wieder Frau Weinhebers schrille, aber durch die ständigen Wiederholungen kraftlos gewordene Stimme: „Bleibt zusammen, lauft hinter mir her! Passt auf die Kleinen auf!“ Obwohl der Tag noch jung war, schwitzte sie schon gehörig und zog mit letzter Kraft das müde, griesgrämige Kläuschen hinter sich her.

„Genossin Kathinka?“ Ein dürrer Mann kam auf Frau Weinheber zu und lüpfte einen Strohhut, der zu seinen strohblonden Haaren hundertprozentig passte. „Ich soll Euch abholen, Ihr kommt doch aus dem Westen?“

„Hans“, stellte er sich vor, „ich bin Hans, Hans Rascher!“

Mit einem Seufzer der Erleichterung reichte ihm Frau Weinheber die eine Hand und nestelte mit der anderen in ihrer Handtasche, um ihren Personalausweis herauszufischen.

„Ja, wir kommen aus Kattenbach“, strahlte sie.

Wolfgang grinste mich wölfisch an: „Kathinka heißt die, ich lache mich kaputt!“

Ich musste auch lachen, denn die ganze Zeit im Zug, als wir noch ungestört im Abteil saßen, hatten wir versucht, Frau Weinhebers Vornamen heraus zu bekommen. Jetzt wussten wir, warum sie daraus so ein Geheimnis gemacht hatte. Kathinka heißt man einfach nicht.

Kläuschen machte einen mehr oder weniger erzwungenen Diener. Das wunderte mich, denn schließlich war unser Kontaktmann doch Kommunist. Aber seine Oma hatte ihn gut erzogen, oberflächlich zwar, aber wirkungsvoll. Sie selbst schien von innen zu leuchten, so erleichtert war sie, dass man uns nicht vergessen hatte. Sie brachte ja auch ein großes Opfer, denn die Reise in die Ostzone bedeutete, dass sie drei Jahre nicht in die USA reisen durfte. Dort hatte sie nämlich eine Tochter. Wenn sie diese sehen wollte, durfte sie keinen Hauch eines wie auch immer gearteten Kommunismus an sich haben. Das hatte sie uns während der behaglichen Phase unserer Reise selbst erzählt. Aber sie hatte ja gerade eine Amerikareise hinter sich. Die war notwendig, da ihre Tochter im Frühjahr ihr zweites Kind bekommen hatte und sie wurde als Oma gebraucht. Jetzt konnte sie mit ruhigem Gewissen eine dreijährige Pause machen. Schließlich kostete so eine Schiffsreise auch ziemlich viel Geld. Also kümmerte sie sich jetzt um Kläuschen und verschaffte ihm und uns schöne Ferien im Land der Werktätigen und Bauern. Frau Weinheber strahlte stets eine wohlwollende Gerechtigkeit aus, linderte harte Worte, war zu jedermann freundlich und trug immer ein schmerzliches Lächeln zur Schau. Letzteres bestimmt, weil ihr sehr wohl bewusst war, dass wir uns immer noch mitten im Kalten Krieg befanden.

Der strohbehütete Hans wandte sich um, musterte mit geübtem Auge den Rest der Truppe und meinte forsch:

„Na, dann gehen wir erst mal frühstücken!“

Mittlerweile regnete es auch noch und der Boden wurde schnell matschig. So nahmen unsere Koffer zu allem Überfluss noch ein nettes Schlammbad. Aber diese markigen Worte gaben uns mit einem Schlag unseren geballten Lebensmut zurück.

Das Frühstück fand in einer Mitropa Gaststätte statt und bestätigte meine ersten Eindrücke vollkommen.

Das Ferienlager war eine Schule, eine richtige, nach Mief, Gelehrsamkeit und den verhallten Seufzern mehrerer Schülergenerationen riechende Schule. Die Klassenzimmer waren vollgestellt mit Feldbetten, die viel zu schmal waren, besonders für Frau Weinheber. Das konnte man Nacht für Nacht erleben, und zwar immer dann, wenn sie sich umdrehte. Da knirschte und knarzte es bedrohlich. Frau Weinheber selbst ächzte auch. Sie hatte einfach Angst, raus zu fallen. Die Koffer schob man der Einfachheit halber unter das Bett und holte sie morgens vor, um sich was anzuziehen. Große Verschämtheit konnte man sich nicht leisten. Die Bettenzahl hatte sich nämlich in etwa an der Klassenstärke orientiert, also standen jeweils an die dreißig Stück im Zimmer. Alter sechs bis vierzehn, nicht der Betten, sondern der Kinder. Die Betten waren älter, die hatten schon geschichtliche Reife. In unserer Klasse schliefen nur Mädchen. Aufpassen durfte Frau Weinheber. Deshalb hatte man ihr auch zugestanden, dass das Kläuschen neben ihr schlafen durfte. Obwohl er ein Junge war. Und mir wurde die Verantwortung für Angelika aufgebürdet. Umso mehr, als die es fertigbrachte, selbst in dem schmalen Bett klein, ängstlich und hilflos auszusehen. Abends wurde „Gute Nacht“ gesagt von den Helfern, dann ging das grelle Deckenlicht aus und man konnte reden. Ich hatte in weiser Voraussicht eine Taschenlampe mitgebracht, denn ich brauchte abends im Bett mein Quantum Lesestoff. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, so etwas wie ein Papagei unter Spatzen zu sein. Nicht, weil ich so schillernd gewesen wäre, nein, es war ganz einfach. Ich kam eben aus dem Westen, dem Gelobten Land, in dem man so viele Bananen kaufen konnte, bis man sie rückwärts aß. Und der ganze Saal vibrierte vor Neugier. Alle anderen kamen aus Coswig bei Dresden und kannten sich schon ihr ganzes Leben lang. Und weil sich alle so gut kannten, durften sie auch gemeinsam Ferien machen. Sie kannten auch die Helfer, die freiwillig im Ferienlager ihre Ferien opferten, um die Kinder zu betreuen und sie bei der Fahnenstange zu halten. So erfuhr ich, dass unser Abholer Hans ein verdientes Parteimitglied war. Ein anderer Hans, der den schönen, gesamtdeutschen Namen Schmitt trug, war ein drahtiger Sport- und Russischlehrer, nicht verheiratet und erst sechsundzwanzig Jahre alt. Die älteren Mädchen verdrehten schon die Augen, wenn sie ihn nur mal so von ferne witterten. Karla, die grazile Brünette mit dem verhangenen Blick, seufzte immer, wenn sie ihn sah. Dementsprechend hatte er es auch leicht. Jeder seiner Befehle (er nannte sie selbstverständlich Anordnungen oder sogar Bitten), wurde bereitwillig und in null Komma nichts ausgeführt. Morgens, beim Fahnenappell, noch vor dem Frühsport, warf sich jeder ins Zeug, so gut er konnte, um vor ihm zu glänzen. Auch die Jungen, in deren Schlafsaal er seine Nächte verbrachte. Mit Inbrunst schleuderten sie ihre Bannflüche gegen alle möglichen Klassenfeinde hinter der Fahne her, während sie hochgezogen wurde. Dann rannte die ganze Meute enthusiastisch im „frischen Morgenwind“ durch das Gelände. Der flotte Hans immer vorne dran, mit wehenden schwarzen Haaren. Er hatte wirklich etwas von einem Piraten an sich. Aber von einem Feuerroten! Er sprach nicht, er brüllte. Und das so zackig, wie es eben nur ein Anführer oder ein Lehrer kann.

 

Ich kam immer rechtzeitig zum Frühstück, weil ich die ganzen Spielchen nicht unbedingt mitmachen musste. So genoss ich in aller Ruhe mein Marmeladenbrot und meinen durchsichtigen Kräutertee aus volkseigenem Anbau. Die hungrige Meute fiel immer erst mit Verspätung in den Speisesaal ein, weil sie sich vorher noch duschen musste.

Im Speisesaal thronte unsere Frau Weinheber, die wir jetzt alle Genossin Kathinka nennen sollten. Zu unserem heimlichen Vergnügen und zu ihrem heimlichen Verdruss. Neben ihr saß der andere, der blonde, dürre Hans. Für Ordnung war also gesorgt. Amanda, eine junge Frau mit braunen Locken, einem Grübchen auf der Wange und einem fröhlichen Lachen in ihrem hübschen Gesicht, wieselte zwischen den Tischen herum und passte auf. Also konnte ein Helfer, in diesem Fall eine Helferin, auch hübsch aussehen! Und das in einem Arbeiter- und Bauernstaat! Jeder hatte sie gern. Ich mochte sie auch auf Anhieb! Aber den jüngsten Helfer, der mit seinem warmen Lächeln und den sanften und doch glutvollen Augen einem Filmmagazin entsprungen zu sein schien, den hatte ich noch mehr als gern. Bei dem klopfte mein Herz unkontrolliert und mein Mund wurde trocken, wenn ich ihn nur so nebenbei ansah. Richtig ansehen, so von vorne und ohne was zu denken, konnte ich ihn sowieso nicht. Dann wurde ich knallrot. Und das ganz gewiss nicht aus politischer Überzeugung! Seine kleine Schwester schlief auf der Pritsche neben mir. So hatte ich ein paar Sekunden mehr von ihm, wenn er abends „Gute Nacht“ sagte. Denn auch hier zählen Familienbande. Und Siegfried, der in meiner Vorstellung zum wahrhaftigen „Jung Siegfried“ wurde, hatte Hannelore, die blond und fein wie Kriemhild wirkte, sehr gern.

Sie erzählte mir viel über ihren großen Bruder, auf den sie sehr stolz war. Er war sportlich. Das war ich nicht. Er war überaus musikalisch. Das war ich nicht. Er war begeisterter FDJ’ler. Das war ich auch nicht. Und er war sehr intelligent, Jahrgangsbester in seiner Klasse. Er hatte fest vor, Ingenieur zu werden. Ich hatte mal läuten hören, dass man in der Ostzone nicht unbedingt das werden durfte, was man wollte. Es gab junge Leute, die hätten hervorragende Chirurgen abgegeben, aber aus irgendwelchen Gründen war ihnen dieser Beruf versagt. So mussten sie sich damit zufriedengeben, Friseur zu werden und Haare zu schneiden. Na, immerhin arbeiteten sie auch so mit dem Messer am lebenden Objekt. Hannelore meinte, ihr Bruder würde auf jeden Fall Hoch- und Tiefbau studieren. „Meine Eltern“, meinte sie, „sind sehr pflichtgetreue Staatsbürger!“ Sie sagte wirklich: „pflichtgetreu!“ Also gute Genossen dachte ich. Aber das änderte nichts daran, dass himmelweite Unterschiede zwischen uns klafften. Und doch entwickelte sich ein zartes Pflänzchen in meinem Herzen, das ich mit meinen heimlichen Tränen begoss. Es war so ein Hauch von Frühlingsahnen, eine unbestimmte Sehnsucht in mir, die mich hoffen und bangen ließ. Allerdings wuchs sich das Frühlingsahnen schnell zu einem Wirbelsturm der Gefühle aus. Nämlich immer dann, wenn ich merkte, wie mein Idol ausgerechnet von der süßen Amanda angehimmelt wurde. Und das gefiel ihm auch noch und er himmelte zurück! Da meine furchtbaren Kämpfe sich ganz tief in meinem Inneren abspielten, merkte niemand etwas davon. So lernte ich, mit meinem Schmerz zu leben.

Wir wanderten wenn es regnete, wir wanderten wenn es trüb war, und wir wanderten wenn die Sonne schien. So lernten wir das Erzgebirge kennen. Wir lernten auch, dass, wenn man einen Kirschkern lange im Mund behielt, dieser den Durst verhinderte. So man denn auch nur eine einzige Kirsche hatte, die einen Stein hinterlassen konnte! Obst schien es hier kaum zu geben. Der dürre Hans lächelte, als ich ihn mal daraufhin ansprach. Das Klima sei zu rau. Die verschrumpelten Äpfelchen, die wir manchmal zum Nachtisch bekamen, waren holzig und schmeckten sauer. Aber Hans rief mich manchmal zu sich und steckte mir mit Verschwörermiene einen ganzen, rohen Kohlrabi zu. Und das, obwohl wir, wenn es Kohlrabigemüse gab, immer nur eine Handvoll auf den Teller bekamen. Wohlgemerkt, eine Kinderhand! Das war mir irgendwie peinlich, schließlich wollte ich den Arbeitern und Bauern nicht auch noch ihre Reserven wegessen. Und wenn ich dann, einsam, irgendwo auf dem Gelände, in die Kohlrabi biss, schmeckte sie mir lange nicht so gut wie zu Hause. Das schlechte Gewissen aß nämlich mit. Wir Westler wurden sowieso bevorzugt. Seltsamerweise, ohne den Neid der anderen zu wecken. Ich hatte so meinen Verdacht. Neid, oder besser gesagt, Neid zu zeigen, war strikt verboten. Wir Westdeutschen bekamen auch die Hauptrollen bei dem bunten Abend, den wir am Besuchertag veranstalteten. Ganz egal, wie schlecht wir waren. Als Königin im Dornröschen machte ich mich ja noch ganz gut. Das erhabene Gefühl, eine Krone zu tragen, gefiel mir sehr. Da machte es auch nichts, dass ich mich halb tot schwitzte in dem königlichen Kunststoffgewand aus dem volkseigenen Betrieb in Coswig. Meine Tochter Dornröschen wurde von Hannelore gespielt und die war richtig niedlich. Da die meiste Zeit in diesem Stück geschlafen wird, hatte ich auch nichts weiter zu tun, als still zu sitzen, königlich auszusehen und aufzupassen, wann das allgemeine Aufwachen wieder einsetzte. Da hörte ich, wie Siggi, der einfach so im Publikum saß, seinem Nachbarn etwas zuflüsterte:

„Wenn die Ulrike nicht so jung wäre, könnte man sich glatt in sie verlieben!“

Ich dachte, das Herz bleibt mir stehen. Ansonsten konnte ich überhaupt nicht mehr denken, nur das Eine: „Ich werde älter, das verspreche ich, und dann …“ Ja, was dann? Wir sprachen zwar dieselbe Sprache, lebten aber in zwei verschiedenen Welten. Das hatte ich mittlerweile begriffen, und das Herz tat mir richtig weh bei dem Gedanken.

Der Hofstaat erwachte langsam und ich musste mich auf meine königliche Rolle besinnen. Hundert Jahre waren im Schlaf vergangen. Kommt Zeit, kommt Rat. Wenn die Zeit vergeht, wird man zwangsweise auch älter.

Beim Reporterwettbewerb schilderte ich einen Boxkampf. Ich verstand nicht nur weniger als nichts vom Boxen, ich verabscheute diesen Sport auch, gab aber mein Bestes. Ich kam mit meiner leidenschaftlich vorgetragenen Reportage sogar bis zum Sieg durch k. o. Nachdem ich das Mikrofon falsch gehalten, öfter mal gebrüllt hatte und wie wild herum gestikulierte, wurde ich zum Sieger erklärt und bekam die Medaille. O, es war ein ausgesprochen erfolgreicher Tag gewesen, für uns alle. Wir bekamen viel Applaus von den Eltern. Besonders von Siegfrieds Eltern, die nicht nur ihr Dornröschen beklatschten, das wir uns kurzfristig als Tochter geteilt hatten. Nein, auch die Nebenrollen erhielten viel Lob von ihnen. Und meinen Boxkampf fanden sie so richtig spannend. Nette Leute waren das, richtig lieb. Man merkte ihnen überhaupt nicht an, dass sie Volksgenossen waren. Sie nannten mich doch tatsächlich Fräulein Scholl! Natürlich blühte ich in ihrem Dunstkreis auf und versuchte meine Nervosität zu zügeln. Schließlich waren das Siggis Eltern. „Pflichtgetreue Staatsbürger“ hatte Hannelore von ihnen gesagt. Meine Eltern waren das auch, denn sie gingen immer zur Wahl. Mama meinte nämlich, man sei dazu verpflichtet als guter Bürger. Ob man da immer richtig liege mit seinem Kreuzchen, das stünde auf einem anderen Blatt.

Hier aber, im anderen Teil Deutschlands, gingen die Menschen auch wählen. Sie mussten sogar. Aber, letztlich hatten sie doch keine freie Wahl. Denn: was hat man denn schließlich für eine Auswahl, wenn nur eine einzige Partei auf dem Zettel steht? Meine Schwester hatte mir mal erzählt, wie sie mitgekriegt hat, dass an Wahltagen in der DDR, so gegen Abend, Lautsprecherwagen durch die Gegend fuhren, die dann die Säumigen zur Wahl aufriefen. Das hörte sich etwa so an: „Berliner Straße Nummer achtundfünfzig hat noch nicht gewählt, Berliner Straße … und so weiter. Da wusste sofort jeder, wer sich da drücken wollte und die betreffenden Leute rannten schnellstens in ihr Wahllokal. Das fiel auf!

Lachend und schwatzend schlenderten wir zur „Futterkrippe“, und Siggi schlenderte mit Amanda am Arm davon!

Wenn wir abends noch nicht so richtig müde waren, erzählten wir uns gern Geschichten. Erfundene und wahre. Ich verstand mich besonders gut mit Karla, die in meinem Alter war. Sie hatte ein zartes Näschen, große Augen mit dichten Wimpern, die wie Vorhänge aussahen, und sechs kleinere Geschwister. Sie war also das Erzählen gewöhnt. Von ihr hörten wir all die Geschichten von den volkseigenen Helden der Revolution. Die Story vom kleinen Trompeter, der mit einem so mutigen Lächeln fiel, rührte mich besonders. Ich liebte auch das Lied. Unser Ferienlager hieß „Ernst Thälmann“ und das war natürlich auch ein Held, und zwar einer, den die Nazis im KZ ermordet hatten. Nazis gab es natürlich immer noch, aber im Westen, wusste Karla zu berichten. Ich hatte es nicht gewusst! Und die „Siechreische Sowjetunion“ wimmelte nur so von „Einzischartschen Menschen“, die ihr Leben oder ihr Blut, oder beides, der großen Sache geopfert hatten. So was gab es bei uns genau so wenig, wie Bannflüche ausgestoßen wurden. Ich konnte da nicht mithalten.