Anaconda 0.2

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Anaconda 0.2
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An einer politischen Demo wird Leo, ein junger Mann von zwanzig Jahren, von einem Hartgummigeschoss der Polizei so schwer getroffen, dass er ins Koma fällt und stirbt. In ihrer Trauer schlagen die ­Eltern ganz unterschiedliche Wege ein. Während die Mutter einen Verein für ­Persönlichkeitsrechte gründet und mit dessen Hilfe den Untersuchungsbericht der Polizei attackiert, versucht der Vater herauszufinden, was für ein Leben sein Sohn geführt hat, seit er vor einem Jahr von zu Hause ausgezogen ist.

Bei der Räumung des ehemaligen Kinderzimmers findet er eine seltsame, alte Spieluhr, die sich als geplante Paketbombe entpuppt. Auf der Suche nach den Per­sonen, die mit seinem Sohn in Kontakt standen, dringt er immer tiefer in den ­digitalen Kampf zwischen Big-Data-Konzernen und Antiglobalisierern vor, an dem sich Leo als Hacker beteiligt hatte. Als der Vater sich von seiner Frau zunehmend zu entfremden droht und gleich­zeitig feststellen muss, dass er in Leos digitalem Krieg längst seine eigene Rolle hat, fasst er einen Entschluss.


Urs Richle, geboren 1965 im Toggenburg, lebt mit ­seiner Familie in Genf. Er ist ­diplomierter Medien­ingenieur und veröffentlichte in den Neunzigerjahren eine Reihe von Romanen (u. a. «Das Loch in der ­Decke der Stube», «Mall oder das ­Verschwinden der Berge», «Fado Fantas­tico»), die in mehrere Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet wurden. Neben dem Schreiben arbeitet Urs Richle in Forschungsprojekten an der Univer­sität Genf und als Dozent am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel.

www.ursrichle.ch

Urs Richle

Anaconda 0.2

Roman

Limmat Verlag

Zürich

Language is a virus

William S. Burroughs /

Laurie Anderson

Flashball
1

Sie waren fünf-, dann zwölf-, dann zwanzigtausend. Die Fäuste aus den Taschen geholt, trugen sie die Wut auf ihren Zungen, mischten Wörter auf, verknoteten sie, formten Protestwolken und ließen Verurteilungen und Forderungen ha­geln. Mehr und mehr Leute strömten durch die Straßen der Innenstadt, drängten an den Schaufenstern der Kaufhäuser vorbei vor zu den Ordnungshütern, die den Verkehr zu deren eigenen Sicherheit blockierten. Einige hatten sich vermummt, andere begaben sich mit offenem Gesicht in die Konfrontation mit der Polizei.

Es war die Zeit der Börsencrashs, der einstürzenden Banken und kollabierenden Staaten, die Zeit des leichten Geldes für die einen und der schleichenden Misere für die andern. Wir klebten an den Bildschirmen, verfolgten die Nachrichten und stellten uns in die Startlöcher, um unsere kleinen Ersparnisse in jedem Augenblick ins Trockene zu bringen. Nur wo das sein sollte, wussten wir nicht.

Sie aber hatten die Straße gewählt, den Protest. Sie hatten Schilder gemalt, Sprachrohre organisiert, Parolen ausgedacht. Nachdem die Demonstration offiziell verboten worden war, hatte sich die Organisation in den Untergrund der Mobiltelefone und sozialen Netzwerke verschoben, weder Kopf noch Schwanz, eine große, wachsende Qualle, die sich durch die Stadt bewegte, bereit, mit ihren ständig sich wandelnden Nesselzellen jeden beliebigen Ort zu verbrennen.

Leo hatte sich unter die Demonstranten gemischt, sich ins Zentrum der Menge gedrängt, ohne Maske, weder Kappe noch Brille. Er war nicht der Typ, sich zu verstecken, nahm kein Blatt vor den Mund, war immer einer von denen, die sich die Hände schmutzig machten. Er trug ein Schild, gebaut aus einem großen, grauen Karton, den er auf einen Holzstab genagelt hatte. Auf den von der Polizei geschossenen Fotos kann man noch den Slogan lesen: Hast du Hunger? Friss einen Bankster! In roter Dispersion hatte er die Buchstaben mit einem großen chinesischen Kalligrafiepinsel auf sein Schild gemalt, überzeugt davon, dass dieses Instrument von nun an nur noch auf diese Weise verwendet werden würde, dass die Zeit der dekorativen Unterhaltung endgültig überwunden sei und dass die Sprache, nach so vielen Jahren der Dekadenz und der Verachtung der Moral, nun wieder einen Sinn erhalten, einen Vertrag bilden sollte zwischen dem, der sendet, und jenem, der empfängt. Ein Wort auf ein Schild malen und dieses mit erhobenem Haupt durch die Straßen tragen war für Leo, als würde er zum Messer greifen oder einen terroristischen Akt begehen. Die sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets waren seine Munition; die Zunge, die Schilder, die Manifeste seine Waffen. Da war er, mitten unter den Empörten, schrie sich die Lunge aus dem Leib, schrie bis zur Erschöpfung, klammerte sich an seinem Schild fest, das die Polizisten sofort als Feind identifiziert hatten, als Bedrohung der öffentlichen Ordnung, das musste Leo gespürt haben, er wird es in ihren Blicken erkannt haben, die durch Schutzbrillen drangen. Leo hatte keine Angst. Er drängte sich so nah wie möglich an die Polizisten heran, er wollte sie sehen. Er wollte, dass die Ordnungshüter seine Präsenz physisch erlebten wie eine Macht, gegen die es kein Mittel mehr gibt.

Da war er, an der Front des Umzugs, blockiert durch ei­ne lange Reihe vermummter Polizisten mit Schlagstöcken und großen Kautschukpistolen. Hinter dieser Front standen Trup­pen in den benachbarten Straßen bereit, hockten in den vergitterten Lieferwagen, kamen aus anderen Quartieren heranmarschiert, bereit, den Abszess aufzustechen, die Fangarme dieses Monsters der unbotmäßigen Jugend abzuschneiden.

Hinter Leo war die Menschenmasse weiter angewachsen. Der zunehmende Druck verringerte den Raum zwischen den Leuten, drängte Leo gegen die Polizisten, ließ ihn den Atem dieser schweigenden, stoischen Männer in ihren Rüstungen spüren, junge Männer, kaum älter als er selbst.

Eingezwängt zwischen Demonstranten und Polizisten musste er die Kraft der Masse in sich gespürt haben, die Wut, die auch die seine war, die Schreie der Empörung, seine Empörung. Ich stelle ihn mir glücklich vor in diesem Augenblick, glücklich wie er es wohl noch selten gewesen war in seinem kurzen, neunzehnjährigen Leben. Bestimmt hatte er ein Gefühl der Befriedigung empfunden, als er den Druck all der Leute hinter sich spürte, die ihre Ängste und nutzlos gewordenen Werte über Bord geworfen hatten, all die kleinen Privilegien und Gewohnheiten, seine Mitstreiter, die die Dinge wieder in die eigenen Hände und die Wörter in den eigenen Mund nahmen.

Seine Finger hatten sich am Holzstab des Schildes festgeklammert. Wie ein großes Segel wehte der bemalte Karton über seinem Kopf, sein Mund wohl trocken, die Kehle rau.

Der Augenblick, als alles außer Kontrolle geriet, ist nie geklärt worden. Vielleicht verlor ein Demonstrant die Nerven, vielleicht machte ein Polizist eine unüberlegte Bewegung. Kein Video, keine einzige Fotografie existiert, außer die Polizei habe sie verschwinden lassen, nichts, was den Anfang dokumentieren würde. Es gibt die Aussagen, natürlich, aber der Versionen sind unzählige.

Von Zeugenaussagen wissen wir, dass Leo sich von der Menge hatte mittragen lassen. Einige berichteten, er habe wie hypnotisiert gewirkt von allem, was rund um ihn herum geschah. Aber wer glaubt schon nachträglichen Erzählungen, diese von der einen oder anderen Meinung verdrehten Geschichten dessen, was geschah auf der Kreuzung der Hauptverkehrsader der Stadt?

Was wir hingegen wissen: Leo ist irgendwann umgefallen. Das Chaos war total, Demoschilder krachten auf die Schutzschilder der Polizisten nieder, Fäuste platzten auf Metallhelme, auf Panzerwesten und Plexiglasscheiben, hinter denen sich große mit Kautschukpatronen geladene Pistolen verbargen, die Flashball. Leo kannte diese Pistole, er hatte sich informiert, hatte Bilder im Internet betrachtet, und nun stand er vor ihr, konnte sie beinahe anfassen. Aber plötzlich trafen ihn Schläge, die Stöcke und Schilder prasselten von der anderen Seite auf die Demonstranten nieder, auf Schultern und Beine, Rücken und Köpfe. Die Schläge waren so heftig, dass mehrere Rippen brachen, Arme und Nasen. Das Blut der Demonstranten floss wie Öl ins Feuer der Proteste.

Leo zog sein Segel ein, wechselte den Griff seiner Hände am Stock des Schildes und begann auf die Helme und auf die Schutzschilder einzuschlagen, holte aus und schlug ein auf die Mauer, die sich rund um ihn herum gebildet hatte. Der Karton mit den leuchtenden Worten zerriss wie ein Papiertaschentuch in der Schlacht des Debakels, Wortfetzen flogen durch die Luft, und Leo schlug auf alles ein, was sich um ihn herum bewegte, als ob die Schläge die verflogenen Wor­te wieder zurückgeben würden, seine Stimme, die er in diesem Schlamassel verloren hatte.

Die Demonstranten waren gezwungen, sich langsam zurückzuziehen. Die Plexiglasschilder und schwarzen Schlagstöcke drangen vor, ohne zwischen Demonstranten und Schaulustigen zu unterscheiden. Panzerwagen und Kleinbusse rollten auf die Masse zu. Wasserwerfer streckten ei­nen um den anderen zu Boden. Und dann, nachdem sich zwischen den Demonstranten und den Polizisten endlich ein Abstand gebildet hatte, gab ein Schuss das Signal zur großen Panik. Alle begannen zu rennen, zu stoßen, zu schreien, zu heulen. Einige rissen an Haaren, an Kleidern, an Beinen und Armen. Nichts machte mehr Sinn, die Welt explodierte, überschwemmt von unterbrochenen Geschichten und frisch getöteten Hoffnungen.

Im Innern dieses Bildes hatte Leo innegehalten, den Stock in der Hand, die Nase gebrochen, das Blut floss ihm über die Lippe auf das Hemd, auf die Hose, auf den Asphalt.

Niemand weiß, ob Leo in diesem Augenblick, als er seinen Stock wie ein Krieger in die Luft streckte, den Blick des Polizisten kreuzte, der seine Flashball-Pistole auf ihn gerichtet hatte. Niemand weiß, ob Leo wusste, dass die Kautschukkugel, die daraus geschossen kam, für ihn bestimmt war und für niemand anderen. Das Einzige, was Leo wohl gespürt haben musste, war ein ungeheurer Schlag auf seine Brust, ein Schlag von einer solchen Stärke, dass er nach hinten geworfen wurde, den Kopf in die Höhe gestreckt, und im Geist voller Erstaunen über die Explosion, welche die Welt für einen Sekundenbruchteil hell aufleuchten ließ, um dann gleich wieder zu erlöschen wie eine Kerze in einem luftleeren Raum.

 

2

Als wir im Krankenhaus ankamen, war Leo bereits in den Operationssaal gebracht worden. Wir hatten Zugang bis vor die letzte Tür: Hände desinfizieren, grüner Kittel, gelbe Kappe auf den Kopf, durchsichtige Plastikhüllen über die Schuhe — Heuschrecken in einem sterilen Kühlhaus. Die Krankenschwester war freundlich und besänftigend, ließ jedoch nicht von uns ab, bis wir vorschriftsgemäss gekleidet waren. Mona war außer sich, marschierte den Korridor rauf und runter, entlud ihre Wut an einem Stuhl, am Wasserverteiler.

— Was machen die denn? Was tun sie ihm an? Ich will ihn sehen! Ich habe ein Recht darauf! David, unternimm doch was!

Was konnte ich schon tun? An die Tür klopfen? Sie öffnen? Die Sicherheitszone übertreten und einen Alarm auslösen? Und was hätte das unserem Sohn gebracht? Die Ärzte mussten wissen, was sie taten. Mona riss mir die olivgrüne Schürze vom Leib, schlug mir mit ihren beiden Fäusten auf die Brust, stieß mich rückwärts, bis ich in einen Leder bezogenen Sessel fiel.

— Warum informieren sie uns nicht? Was soll dieses Schweigen? Was ist ihm zugestoßen?

Man hatte uns nur gesagt: Herr Conda? Sind Sie Leos Vater? Ihr Sohn ... Lange Pause ... ein Unfall während der De­monstration. Das war ­alles, und die Adresse des Krankenhauses, der Name des ­behandelnden Arztes, Polane, und die Bitte, so schnell wie möglich zu kommen.

Es war mitten am Nachmittag. Ich musste ein Stück Code unfertig stehen lassen und einige Arbeitsberichte auf später verschieben, ich hätte mir einen anderen Grund gewünscht, um mich mitten am Nachmittag von der Arbeit fortzustehlen.

Ich schwang mich auf mein Fahrrad, raste durch die Stadt und erreichte das Krankenhaus vor Mona, die von zu Hause mit dem Auto losgefahren war. Und dann standen wir vor der großen Tür des Operationssaals, ohne Nachricht seit über einer Stunde. Jede Minute, die verstrich, verschlechterte den Fall unseres Sohnes, nagte an unserer Zuversicht, jede Sekunde fraß ein Stück unserer Hoffnung. Als die Krankenschwester uns vom anderen Flurende her endlich ein Zeichen machte, war von der Revolte, der Wut, dem Protest gegen die unerträglichen Umstände nur noch eine matte Erschlagenheit übriggeblieben.

— Ihr Sohn ist in ein Zimmer gebracht worden. Der Arzt möchte Sie sprechen. Bitte folgen Sie mir.

Eine einladende Geste. Noch ein Lug, noch ein Betrug. Während wir unseren Sohn vor uns hinter der Tür auf dem Operationstisch glaubten, war er in Wahrheit in diesem Labyrinth der chirurgischen Humanmechanik längst weitertransferiert worden.

— Lebt er?, fragte Mona, unfähig, sich zu erheben.

— Ja, er lebt. Kommen Sie.

Ich nahm sie unter den Armen wie ein Kind und zog sie zu mir hoch. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Das Warten hatte sie um einige Jahre altern lassen.

Der Arzt knöpfte seinen Kittel auf, streckte uns die Hand entgegen. Leo war versteckt unter den Decken und Laken, zwischen Schläuchen und Maschinen. Ich musste mich zum Kissen hinunterbeugen, um seinen Kopf zu sehen. Man hatte ihm die Haare abrasiert, ich sah Blutspuren, hörte die künstliche Beatmung, die über einen durchsichtigen Schlauch durch die Nase zugeführt wurde. Mona klammerte sich an meinen Arm.

— Wir haben unser Bestes getan, erklärte der Arzt, aber sein Zustand bleibt kritisch. Wir können nichts versprechen.

Dann erklärte uns der Chefchirurg Polane die Situation im Detail. Ich sah die Bewegungen seines Mundes, betrachtete den Berg an Kissen und Maschinen, der unser Sohn sein sollte. Die Worte des Arztes waren Nebengeräusche, Kulissen eines makabren, absurden Films.

Leo war im Koma, so viel hatten wir verstanden, eine Tatsache, gegen die weder unser Wille noch unsere Imagination etwas konnte, so wie er dalag, unter diesem weißen Kissenberg.

— Ich komme später wieder, sagte Doktor Polane noch, bevor er das Zimmer verließ, vor unserer Taubheit kapitulierend. Und dann, als er die Zimmertür hinter sich zugezogen hatte, nahm ich das regelmäßige Ticken der Maschine wahr, die Leos Herzrhythmus aufzeichnete.

— Hörst du das?

Mona hatte sich neben dem Bett auf einen Stuhl gesetzt. Wir durften die Kabel, Röhren und Schläuche nicht berühren; Haltung bewahren, sich nicht gehen lassen. Ich betrach­tete dieses elektronisch angetriebene, hydraulische System und vergaß Leo dabei, als wäre er noch an der Demo, irgendwo auf der Straße mit seinen Freunden, und käme später nach Hause in die Küche an den Tisch.

— Erzähl keinen Unsinn, keine falschen Hoffnungen!

— Das sind keine falschen Hoffnungen. Sie haben ihn operiert. Schau, Mona, man sieht die Vernähung an seinem Kopf, alles wird gut werden.

Die Schnittwunden an Leos Hinterkopf entflammten Monas Verzweiflung, zerschnitten ihre Sprache.

Das Signal von Leos Herzschlag erklang in einem zügigen, konstanten Rhythmus, und wir klammerten uns an dieses einzige noch gebliebene Lebenszeichen unseres Sohnes. Wir waren allein, zum Glück, nur wir und unsere Katastrophe, die in unsere Welt eingeschlagen war.

Zwei Stunden später kam Doktor Polane zurück, und diesmal hörten wir ihm zu: Er sagte Kunststoffgeschoss, er sagte Flashball, er nahm Wörter wie Benützungsvorschriften und Waffenhersteller in den Mund. Er verwies uns auf Polizei­reglemente und Bedienungsanleitungen und zitierte die Minimaldistanz von fünf Metern daraus. Die Kugel hatte Leo vorschriftsgemäß auf die Brust getroffen. Aber die Schlagkraft der Kugel war so stark gewesen, dass der Aufprall auf Leos Brust einen kurzen Herzstillstand provoziert haben musste. Für einige wenige Sekunden hatte er wohl das Bewusstsein verlor. Er fiel nach hinten, stürzte und prallte mit dem Hinterkopf auf die Bordsteinkante des Trottoirs. Der Schlag auf den Stein verursachte eine Hirnblutung. Aus diesem Grund musste notfallmäßig operiert werden.

So viel zu den Erklärungen.

— Alles hängt nun davon ab, ob die Blutung hat gestoppt werden können oder nicht und welche Bereiche des Hirns verletzt worden sind. Im Augenblick kann ich noch nichts sagen.

Doktor Polane wandte sich zur Tür, und damit ließ er uns allein.

Man brachte uns zwei Klappbetten, das Zimmer war groß genug, um uns alle drei zu beherbergen. Nadine rief an und fragte nach Leo. Sie hatte Selma von der Schule abgeholt.

— Ist was zu essen da? Kann ich uns eine Pizza holen? Wie lange muss ich Selma hüten?

Ich beschrieb ihr den Kissenberg vor uns und beruhigte sie.

— Er ist operiert worden. Alles ist gut. Mach dir keine Sorgen.

— Warum? Sollte ich mir denn Sorgen machen? Was haben sie operiert?

— Nichts, meine Liebe, nichts. Hol dir eine Pizza.

Beim Wort Pizza schrie Selma im Hintergrund auf vor Freude. Aber den Abend über riefen Nadine und Selma immer wieder an, wollten Neues wissen, wollten herkommen, wollten Leo sehen.

Die Krankenschwester stellte das Herzsignal leiser, zuerst auf null, aber Mona wollte es hören, und ich auch. Dieses kleine Geräusch beruhigte uns, das einzige Zeichen unseres Sohnes, der im Schlund von Panik und Angst verschwunden war, wir wollten es hören wie damals, als es sich auf dem Monitor des Ultraschallgerätes zum ersten Mal angekündigt hatte, unfassbar wie jetzt.

Es war um vier Uhr sechsunddreißig, ich konnte es beim Erwachen auf dem kleinen Radiowecker auf dem Nachttisch sehen, als Leos Herzschlag den Rhythmus wechselte. Mona saß auf einem Stuhl neben dem Bett.

— Wie kannst du schlafen!

— Was ist los?

Die Krankenschwester kam in zu schnellen Schritten und zu nervös ins Zimmer, als dass uns das hätte beruhigen können. Ohne ein Wort ging sie an die Maschine, tippte auf Knöpfe, druckte Resultate auf einem kassenzettelgroßen, fast durchsichtigen Papier aus, rief den Arzt um Hilfe und bat uns, vom Bett Abstand zu nehmen.

— Bleiben Sie da, bitte, man wird Sie abholen!, schnippte sie und schob das Bett mitsamt den Kissen und Schläuchen und Geräten an uns vorbei zur Tür hinaus.

— Was ist los, David? Was machen sie mit ihm?

Und schon war der Materialberg, den wir nun ganz für unseren Sohn nahmen, in den Gängen des chirurgischen Labyrinths verschwunden. Zwischen unseren beiden Klapp­betten hingen Kabel da und dort herunter wie abgerissene, ausgetrocknete Nabelschnüre.

— Wo haben Sie ihn hingebracht? Was passiert mit ihm?, schrie Mona, als die Nachtschwester zurückkam, um die unnütz gewordenen Apparaturen aufzuräumen.

— Beruhigen Sie sich, Frau Conda, die Ärzte machen ihr Bestes, Ihr Sohn ist in guten Händen.

— Aber was ist mit ihm?

— Ihr Sohn hat einen Rückfall. Die Hirnblutung konnte gestoppt werden, aber sein allgemeiner Zustand hat sich verschlechtert. Sie haben wahrscheinlich auch gehört, wie sein Herzrhythmus plötzlich unregelmäßig wurde. Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, Frau Conda, aber glauben Sie mir, Herr Polane ist ein sehr guter Arzt. Er weiß, was er zu tun hat, und er macht seine Sache sehr gut.

Sie bat uns, das Zimmer zu verlassen, ihr durch die verlassenen Gänge zu folgen, über Treppen und Lifte und weitere Flure. Sie brachte uns in ein Büro in einem anderen Gebäude, bat uns, dort wiederum zu warten, Geduld zu haben, bot uns Kaffee und Tee an, trockene Brötchen des Vortages, aber weder ich noch Mona konnte etwas anderes schlucken als Wasser, als wäre jegliche Nahrungsaufnahme ein Verrat an der Zeit, die wir hatten stillstehen lassen, als hätten wir kein Recht darauf, weiterzuleben, bevor Leo nicht wieder aus diesem Schlund der Unterwelt entkommen und nach Hause zurückgekehrt war.

Dann ließ sie uns allein in diesem von Ordnern und administrativem Kram überfüllten Raum, Formulare auf den Tischen, Ferienpostkarten an den Wänden. Die Geräusche der Schritte auf dem Linoleum draußen im Gang ließen uns regelmäßig aufschrecken. Aber niemals kamen sie bis zu uns in das Büro, niemals brachten sie Erklärungen und Lösungen. Die Ärzte hatten uns aufgegeben, die Krankenschwes­tern vergessen. Polane war vom Erdboden verschwunden.

Gegen halb sechs rief Nadine an, um nach Leo zu fragen.

— Ihr seid nicht mal nach Hause gekommen! Sie war um fünf aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen, wollte ins Krankenhaus kommen. Du musst Selma zur Schule bringen, und du selbst hast heute auch Kurs. Mach, was du zu machen hast!

Aber eine Stunde später, als bereits alles vorüber war, kamen die beiden trotzdem ins Krankenhaus, angetrieben vom schwesterlichen Instinkt, mit Recht befürchtend, dass man ihnen die letzte Stunde mit ihrem Bruder stehlen könnte. Sie wollten ihn sehen, wollten sein Gesicht berühren, seine Hände, seinen entspannten Mund, seine bleichen, grauen Lippen. Selma blieb wie versteinert neben dem Bett stehen. Ihr Gesicht war fahl und leer geworden. Nadine nahm Leos Hand, wie wir es vor ihr getan hatten, nachdem Herr Polane endlich gekommen war, um uns mitzuteilen, was wir bereits wussten, aber nicht wahrhaben wollten:

— Frau Conda, Herr Conda, es tut mir sehr leid, wir haben unser Möglichstes getan.