Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book)

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Gründliche Analysen schärfen Wahrnehmung und stimmige Intuition

Für die Schulung intuitiver und treffsicherer Diagnosen braucht es den analytischen Blick, mit dem die Dinge aus Distanz betrachtet werden, etwa in einer nachträglichen Videoanalyse oder einer Rückschau auf den Unterricht, allein oder mit weiteren Studierenden oder Lehrpersonen. In der Lehrpersonenbildung sind Begleitseminare zu Praktika der bevorzugte Ort für systematische Analysen und Verknüpfung mit Wissensbeständen. Die Analysen erfolgen zum Teil streng regelgeleitet, um Einseitigkeiten und blinde Flecken der Wahrnehmung aufzudecken und um gegebenenfalls zu gleichermassen unerwarteten wie erhellenden Einsichten zu gelangen.

Anders ausgedrückt: Um professionelle Praktiken der Lernunterstützung aufzubauen, braucht es auch

–das sorgfältige Analysieren von Spuren des Unterrichts – Videos, Texte, Schülerarbeiten, Berichte –, idealerweise zusammen mit anderen Lehrpersonen oder Studierenden, und

–den Rückgriff auf Einsichten Dritter – damit ist das gemeint, was Studierende gemeinhin als «Theorie» bezeichnen und in Wahrheit ein weitläufiger Wissens-, Erkenntnis- und Erfahrungsvorrat ist. Es wäre dumm, diesen nicht zu nutzen.

Dies alles dient der Fähigkeit, im Unterricht zeitnahe diagnostische Einschätzungen zu machen. Die Wahrnehmung muss geschärft und trainiert werden; man lernt, Informationen schnell und intuitiv zu deuten, zu priorisieren und zu verarbeiten, um dann angemessen reagieren zu können. Kurz: Dies alles trägt dazu bei, die professionellen Praktiken der Lernunterstützung aufzubauen, zu verbessern und wirkungsvoller zu gestalten.

Feedbacks einholen und annehmen!

Es liegt in der eigenen Verantwortung der Studierenden bzw. der Lehrpersonen, an Praktiken zu arbeiten, die professionell sind und die bei Schülerinnen und Schülern die erhofften Bildungswirkungen erzielen. Das vorliegende Arbeitsbuch will genau dies unterstützen: Selbst Verantwortung für die «Selbstprofessionalisierung» zu übernehmen.

Feedbacks von Dritten als Leitplanken der professionellen Entwicklung

Gut, wenn Lehrpersonen ihre eigenen Praktiken weiterentwickeln wollen. Aber man kann einen berechtigten Einwand vorbringen: Wie ist eigentlich sichergestellt, dass deren Praktiken am Ende auch professionell sind? Am Beispiel Diagnostizieren: Wird die Lehrperson die beruflichen Situationen angemessen interpretieren und die besten Schlüsse daraus ziehen? Zwar können Situationen ja immer unterschiedlich gedeutet werden – aber wie ist zu vermeiden, dass die Lehrperson offensichtlich falsche Schlüsse zieht, blinde Flecken hat oder kontraproduktiven Intuitionen folgt? Diese Bedenken sind ernst zu nehmen, zumal Lehrpersonen oft allein und ohne Rücksprachemöglichkeit handeln müssen.

Der entscheidende Punkt ist, dass Professionalisierung nie ohne Feedback von anderen möglich ist, insbesondere in diesem Beruf. Ohne Feedbacks riskieren Lehrpersonen, dass sie ihre Praktiken in problematische Richtungen entwickeln oder sich sogar deprofessionalisieren. Paradoxerweise werden immer Praktiken aufgebaut – Lehrpersonen können nicht ohne Praktiken sein, wenn sie den täglichen beruflichen Herausforderungen nachkommen wollen. Die Frage ist, wer oder was die Entwicklung dieser Praktiken in eine erwünschte professionelle Richtung lenkt.

Dieses Unterkapitel thematisiert nun die Steuerung des eigenen Lernens durch Feedbacks von Dritten, d. h. Feedback an die Lehrperson, bevor dann im nächsten Kapitel das Feedback von der Lehrperson für andere im Zentrum steht.

Implizite Feedbacks von Schülerinnen und Schülern

Mit impliziten Feedbacks sind nicht direkt ausgesprochene Feedbacks von Schülerinnen und Schülern gemeint. Auch solche Feedbacks können Wirkungen des eigenen Handelns spiegeln. Eine Schülerin, die verwirrt ist; eine Klasse, die apathisch erscheint; ein Kind, das nicht weiss, was es tun muss; ein Leistungstest, der verheerende Resultate liefert; Körperhaltungen, die die Befindlichkeit ausdrücken usw.

Von Lehrpersonen wird erwartet, dass sie diese Signale zur Kenntnis nehmen und sie einordnen. Nicht jedes Signal dieser Art hat mit der Lehrperson zu tun; deshalb ist nüchtern zu analysieren, inwieweit es sie direkt betrifft. Vielleicht liegt die Ursache woanders, bisweilen erledigt es sich von selber oder die Lehrperson bringt die Sache diskret in Ordnung, und damit hat es sich. Man sollte es sich zweimal überlegen, bevor ein solches implizites Feedback offen verbalisiert wird, und wenn doch, dann keinesfalls im Ton des Vorwurfs, sondern des Interesses, um die Dinge besser zu verstehen. Manchmal aber – gerade bei persönlichen Dingen, die einen treffen können – ist ein Gespräch mit einer Kollegin oder einem Kollegen der bessere Weg.

Selbstverständlich geben Schülerinnen und Schüler gelegentlich auch explizite Feedbacks, vor allem auf der Sach- und Motivationsebene («Das habe ich nicht verstanden», «Das ist langweilig»). Bisweilen richten sich die Feedbacks aber an die Lehrperson, ihr Verhalten, ihren Stil des Unterrichtens und Erklärens usw. Auch hier ist ein behutsamer, nichtkonfrontativer Umgang ratsam.

Kurz: Implizite Feedbacks sind andeutungsweise Botschaften, für die die Lehrperson ein Sensorium entwickeln wird. Sie muss die Signale ernst nehmen und als Hilfe sehen, aber sie sollte nicht überreagieren, sondern die Botschaften in einen Kontext einordnen und verhältnismässig und lösungsorientiert reagieren.

Explizite Feedbacks von Kolleginnen und Kollegen sowie von Fachpersonen

Ein wichtiger Steuerungs- und Korrekturmechanismus ist das kollegiale Feedback bzw. Peer-Feedback sowie das Feedback von Fachpersonen. Damit dieses ankommt, sind einige Dinge zu beachten:

Über die Lernwirkung des Handelns sprechen

Der Aussenblick von anderen Studierenden, Lehrpersonen oder Dozierenden ist dann hilfreich, wenn er ganz ausgerichtet ist auf die Lernprozesse und Fortschritte der Schülerinnen und Schüler (und nicht primär darauf, wie gut die Lehrperson war). Leider nehmen Kolleginnen, Kollegen und Fachpersonen bisweilen das Verhalten der Lehrperson als Erstes in den Blick; sie sehen sofort, was man anders hätte machen können und sollen. Deshalb sollte man immer zuerst auf die Schülerinnen und Schüler schauen und herausfinden, was bei ihnen abgeht – und erst in einem zweiten Schritt überlegen, inwieweit die Lehrperson darauf einen günstigen oder hemmenden Einfluss hat.

Freundschaftliche Haltung

Ebenso wichtig ist eine freundschaftliche Haltung der Peers und Fachpersonen. Diese sind nicht Examinatoren, die über gut und schlecht urteilen; sie sehen sich als «critical friends», die nicht an der Lehrperson herumnörgeln, sondern helfen, die Schülerinnen und Schüler optimal in ihren Fortschritten zu unterstützen.

Vertrauensvolle Atmosphäre

Wer Feedback entgegennimmt, zeigt sich verletzlich. Selbst implizite Feedbacks können für Lehrpersonen unangenehm, ja schmerzlich sein. Da kann es vorkommen, dass sie diese übersehen, ignorieren, verdrängen oder herunterspielen. Auch das explizite Feedback kann «überhört», ignoriert oder abgewehrt werden. Es braucht deshalb eine vertrauensvolle Atmosphäre, in der die betreffende Lehrperson ihre Empfindlichkeiten überwindet und die Karten auf den Tisch legt. Umgekehrt kann die Lehrperson von den Fachpersonen eine kollegiale Vertraulichkeit erwarten. Dadurch wird der Aufbau professioneller Praktiken zu einem Kooperationsprojekt, bei dem nicht Personen beurteilt, sondern Praktiken verbessert werden.

Alles auf den Tisch

Die Peers und Fachleute brauchen Informationen und Zugang zum Geschehen. Bloss punktuelle Einblicke von Fachleuten, etwa bei Unterrichtsbesuchen, lassen wenig erkennen. Wenn die Fachpersonen vor Ort sind, partizipieren sie idealerweise an der täglichen Arbeit, z. B., indem sie beim Planen und Vorbereiten konkret mithelfen oder indem sie einfach mitgehen und beobachten («shadowing»). Sind die Fachpersonen nicht vor Ort, müssen sie zu möglichst authentischen Informationen kommen – nicht persönlich gefärbte Berichte, sondern «hard facts»: Dokumente, Videos, Arbeiten von Schülerinnen und Schülern usw.

Nochmals: Die heimtückischste Falle beim Feedback ist das Urteil über den anderen Menschen. Feedback von Peers und Fachpersonen machen am meisten Sinn, wenn sich die Beteiligten gemeinsam fragen: Wie können wir die Bildungswirkungen bei den Kindern und Jugendlichen erhöhen?


Aktivitäten und Anregungen
Anregungen, wie Sie das Feedback von Peers und Fachleuten weiterbringen kann
Feedback-Situationen gemeinsam gestaltenEs fehlt nicht an Fach- und Ratgeberliteratur zu Feedbacks, die man bei Bedarf konsultieren kann. Konzentrieren Sie sich bei allen Feedback-Situationen mit Peers oder Fachleuten auf folgende Punkte. Es sind wenige, aber sie sind wichtig.1. Stellen Sie sicher, dass der Ausgangspunkt des Gesprächs nie Ihre Person ist, sondern die Frage: Wie können wir Fortschritte, Lernerfolg, Motivation, kooperatives Verhalten usw. der Schülerinnen und Schüler noch mehr unterstützen?2. Sprechen Sie wenn möglich auch von einzelnen Schülerinnen und Schülern und suchen Sie nach Möglichkeiten der Unterstützung oder Förderung.3. Sprechen Sie über Ihre Praktiken, aber nur insofern, als sie für das Lernen und die Fortschritte der Schülerinnen und Schüler relevant sind.Wenn Gestaltungsfragen des Unterrichts und der Hilfsmittel nichts zu den erwünschten Wirkungen beitragen, stellen Sie sie zurück und sprechen sie über anderes.4. Sprechen Sie nur über Aspekte Ihrer eigenen Person, wenn Sie gemeinsam übereinkommen, dass dies in diesem Zusammenhang bedeutsam ist.

Professionelles Feedback an Lernende – zentral für jegliche Unterstützung
Feedback an Lernende

Die folgenden Abschnitte zeigen, wie Sie den Schülerinnen und Schülern professionelles Feedback geben können. Beachten Sie: Das Wort «Feedback» wird vieldeutig verwendet. Hier geht es fast ausschliesslich um das Feedback der Lehrperson an die Lernenden mit dem Ziel, die Fortschritte zu unterstützen. Am Schluss des Kapitels wird Ihr Lernprozess nicht abgeschlossen sein; diese Praktik ist anspruchsvoll und ist dauernd weiterzuentwickeln, um auch in neuen Kontexten und zu anderen Inhalten flexibel und professionell handeln zu können. Hier werden also keine Regeln und Checklisten zu Feedbacks vermittelt, sondern Basisinformationen und Trainingsvorschläge.

 

Feedback zunehmend im Fokus

Seit den 2000er-Jahren hat das Thema des unterrichtlichen Feedbacks einen eigentlichen Boom erlebt. Zahlreiche Publikationen legen Konzepte vor, berichten von Forschungsbefunden oder leiten Empfehlungen für die unterrichtliche Praxis ab. Bis heute wegweisend sind zwei Aufsätze, der eine von Kluger und DeNisi (1996), «The effects of feedback interventions on performance», der andere von Hattie und Timperley (2007), «The power of feedback». Beide sind allein in wissenschaftlichen Texten je über 5000-mal zitiert worden. Der erste Aufsatz fasst die Forschungsergebnisse zu Feedback bis 1996 zusammen, der zweite ergänzt mit neueren Befunden und präsentiert das Vier-Ebenen-Modell, von dem schon die Rede war. Auf eine differenzierte Darstellung der Konzepte und Forschungsbefunde zu Feedbacks muss verzichtet werden. Einige bedeutungsvolle Aspekte und Befunde werden aber in aller Kürze zusammengefasst, und es wird auf entsprechende Literatur verwiesen.


Man kann die grosse Resonanz des Themas «Feedback» so deuten, dass Unterrichtsforscher, Lehrpersonen und die Lehrpersonenbildung die Bedeutung von Feedback an die Lernenden und von den Lernenden weitgehend erkannt haben. Dessen unterstützende Wirkung ist nachweislich unverzichtbar für Fortschritte im Lernen und in der Entwicklung und ist fester Bestandteil jedes professionellen Unterrichts geworden.

Und dennoch können die Forschungsbefunde nicht in starre Regeln übersetzt werden. Die meisten Befunde geben Tendenzen an, Wahrscheinlichkeiten über die Wirkung. Es hängt von der jeweiligen Situation ab, wie die Feedbacks funktionieren. Ungewiss ist vor allem, wie die Lernenden auf Feedback reagieren, ob sie es annehmen oder womöglich gar zurückweisen und wie wiederum die Lehrperson darauf reagiert.

Was folgt daraus? Feedback gehört zu den anspruchsvollsten Praktiken; die Praktik des Feedbacks ist mit viel Training und Erfahrung, aber auch mit viel Fachwissen und Verstehen für Lernprozesse aufzubauen. Die nachfolgend beschriebenen Aspekte zum Feedback sind ein starting point, nicht mehr. Was folgen muss, ist eine tiefe, beharrliche Auseinandersetzung damit, wie individuelle Lernprozesse gelingen können.

Gutes Feedback: Zentral für professionelle Lehrpersonen

Das Feedback ist quasi ein Alleinstellungsmerkmal der professionellen Lehrperson – Feedback kann kaum durch etwas anderes ersetzt werden, und wenn es fehlt (bzw. unbrauchbar ist), geraten die Lernprozesse vieler Lernender ins Stocken oder auf Abwege. Die Lehrperson orchestriert die Lernprozesse einer ganzen Klasse und versucht, mit vernünftigem Aufwand das Lernen zu verflüssigen. Die Lehrperson interveniert also im richtigen Moment auf die bestmögliche Art, um eine gute Wendung der Dinge einzuleiten – in Richtung besseren Lernens, mehr Zuversicht und Motivation, tieferen Verständnisses, aber manchmal auch nüchternen Konstatierens eines Irrwegs. Sie soll im richtigen Moment das Richtige tun, wie schon betont wurde, denn das Zeitfenster für Entscheidungen ist kurz – vielleicht ein paar Sekunden, selten mehr.

Dass die Lehrperson dazu über viel Wissen und viel Erfahrung verfügen muss, dürfte klar sein. Was erlaubt ihr dann, genau jetzt das Richtige zu tun? Es sind die elaborierten Praktiken, die sich auf Wissen, Erfahrung und geschärfte Intuition stützen. Die folgenden Aspekte liefern nur Hinweise; diese in die eigenen Praktiken zu integrieren, ist die Arbeit der Studierenden und Lehrpersonen.

Besseres Feedback durch Entschlossenheit, etwas zu bewirken

Bisweilen ist die Entschlossenheit, die Kinder und Jugendlichen weiterzubringen, noch wenig entwickelt. Lehrpersonen mit weniger Erfahrung sind ja oft damit ausgelastet, überhaupt den Unterrichtsbetrieb sicherzustellen. Je intensiver sich die Lehrperson mit den individuellen Schülerinnen und Schülern befasst, desto entschlossener dürfte sie werden, das Maximum zu bewirken und allen auf ihrem Weg durch die Schule beizustehen. Das ist zwar eigentlich eine Selbstverständlichkeit, sie macht den Kern des Lehrberufs aus; aber auch diese berufsethische Haltung muss genährt werden. Gerade im einzelnen Fall, bei einer verzweifelten Schülerin, einem lethargischen Schüler, einem enthusiastischen Kind, erweist sich, ob die Lehrperson sich engagiert.

Der nachfolgende Auszug berichtet von einer Feedback-Studie in England. Er deutet den Entwicklungsprozess an, den Lehrpersonen durchlaufen, wenn sie sich dem Lernen der Schülerinnen und Schüler zuwenden. Die Lehrpersonen erkannten, dass ihre bisherigen Strategien und Feedbacks ungenügend waren; sie wollten anfangs nur ihr Feedback verbessern, doch sie lösten eine Reihe von Veränderungen aus, etablierten ein gänzlich neues Verhältnis zu ihren Schülern, gestalteten ihren Unterricht zunehmend lern- und zielorientiert, und die Lehrpersonen entwickelten dazu neue und verbesserte Praktiken.

Wir erklärten den Lehrerinnen und Lehrern, dass Feedback effektiver wäre, wenn sie nicht nur sagten, ob das Ergebnis korrekt sei, sondern sie auch herausfänden, was die Schüler für besseren Lernerfolg tun sollten. Zu unserer Überraschung fanden sie das sehr schwierig …

Einige Monate nach Beginn des Projekts baten uns die Lehrer um einige Informationen zur Lernpsychologie. Zuerst hat auch das uns überrascht, aber so überraschend war es gar nicht. Wir hatten sie ja gebeten, Feedback zu geben, das ihre Schüler nutzen können, und dazu brauchten sie eben Modelle des Denkens ihrer Schüler. Trotz der Tatsache, dass die meisten Lehrer über umfangreiche Unterrichtserfahrung verfügten, erteilten sie Unterricht, ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, was in den Köpfen ihrer Schüler vor sich ging …

Die Lehrer begannen nun, viel genauer über die Aufgaben nachzudenken, die sie ihren Schülern stellten. Sie erkannten, dass sie, um ihren Schülern ein effektives Feedback zu geben, mehr über deren Denken wissen mussten und dass die Aufgaben, die sie routinemässig nutzten, sehr unterschiedlich waren – nicht alle Aufgaben lieferten nützliche, nachvollziehbare Informationen über das, was die Schüler konnten.

Das wiederum machte den Lehrern bewusst, dass sie mehr Klarheit über die Ziele ihres Unterrichts brauchten, um die geeignetsten Fragen oder Aufgaben stellen zu können. Während sich das Projekt ursprünglich auf Feedback konzentriert hatte, verschob sich der Akzent in der tatsächlichen Umsetzung: Die Lehrer suchten nach Wegen, den Lernstand zu erfahren, und dazu mussten sie wiederum Klarheit über die Lernziele haben.

Mit den Praktiken, die die Lehrer nun anwandten, wurden auch die Lernenden stärker verantwortlich für das eigene Lernen. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Veränderungen bei den Lehrern veränderte auch die Arbeit der Schülerinnen und Schüler. Indem das Potenzial der formativen Evaluation und des Feedbacks voll genutzt wurde, hatten auch die Schülerinnen und Schüler zu lernen, ihre eigenen Arbeiten und die ihrer Peers zu beurteilen. (Wiliam, 2018, S. 20-21, Übersetzung U. F., leicht gekürzt)

Besseres Feedback durch Wissen über Feedback und dessen Wirkungen

Selbstverständlich brauchen Lehrpersonen ein solides, tief verstandenes und verinnerlichtes Wissen, wie Feedbacks «funktionieren» können. Gewisse Feedbacks sind fast immer kontraproduktiv, sie sind ein «No-Go». Wer sie gleichwohl anwendet, ist vermutlich einfach nicht professionell. Bei anderen Feedbacks ist die gute Wirkung durch solide Befunde belegt, und bei wieder anderen ist man geneigt zu sagen: «Vielleicht wirkt es – es kommt darauf an.» Darüber liegen zahlreiche Forschungsergebnisse vor, von denen nachfolgend einige zentrale Befunde und Mechanismen diskutiert werden.

Weiterführende Informationen und Materialien

«The power of feedback»

Die folgende Zusammenfassung bezieht sich auf vier oft zitierte und folgenreiche Meta-Analysen (Kluger & DeNisi, 1996; Hattie & Timperley, 2007; Hattie; 2009; Hattie, 2018).

Ergebnisse von Tausenden von Studien zu Wirkungen unterrichtlichen Handelns sind wiederholt in Metaanalysen zusammengefasst worden. Diese geben – bei aller Vorsicht – interessante Hinweise auf die Effekte von Feedbacks und anderen Unterrichtsmerkmalen.

Werden Merkmale von Unterricht in ihrer Wirkung verglichen, gehört das (individuelle) Feedback zu den Spitzenreitern. Zum Vergleich sind einige weitere wirkungsvolle Merkmale aufgeführt.


Einflussgrössen auf Lernerfolg Spitzenreiter (Hattie, 2018, Auswahl)Effektstärke d
Formative Evaluation des Unterrichts0.90
Eingehen auf Lernende mit Förderbedarf0.77
Feedback0.75
Klarheit der Lehrperson0.75
Lehrer-Schüler-Beziehungen0.72
Metakognitive Strategien0.69

Was heisst «Effektstärke»?

Die Effektstärke d ist ein statistisches Mass, mit dem man angeben kann, wie gross die Wirkung einer einzelnen Massnahme oder einer Einflussgrösse ist, im Vergleich zu früher oder im Vergleich zu einer Situation ohne diese Einflussgrösse. Die Effektstärke eignet sich besonders gut als Mass zum Vergleichen verschiedener Studien.


Wie sind Effektstärken zu deuten?

Bei Studien zu Effekten im Bildungsbereich gilt es zu berücksichtigen, dass Menschen immer lernen, auch ohne Schule (bis d = 0.15). Weiter ist zu beachten, dass der Durchschnitt aller schulischen Massnahmen bei d = 0.4 liegt. Ein wirklich guter Effekt liegt also über 0.4, während Effekte unter 0.4 sich nicht vom Üblichen abheben. Hattie (2009) stellt Effekte zur schnellen Visualisierung in einem «Effektstärken-Barometer» dar. Nur Effekte im obersten Bereich (d > 0.4) machen einen Unterschied zu konventionellem Lehren und Lernen.

Auch zur Wirkung einzelner Feedbacks liegen Befunde vor. Gemeint sind mit Feedbacks alle Interventionen der Lehrperson, die das individuelle Lernen unterstützen und begleiten. Die nachfolgend ausgewählten Ergebnisse geben einen ersten Einblick in die Wirkmechanismen von Feedbacks.

Gemäss Kluger und DeNisi (1996) ist Feedback effektiver,

–wenn es sich nicht auf die Person der Lernenden konzentriert;

–wenn es mehr als nur Informationen über die Richtigkeit der Antworten liefert;

–wenn es Leitlinien – aber keine Anweisungen – liefert, wie die Aufgabe zu bewältigen sei und dadurch das aktive Mitdenken fördert, das heisst: keine Anweisungen, bei denen die Lernenden nicht selbst denken müssen;

–wenn bei anspruchsvolleren und komplexeren Aufgaben das Feedback unmittelbar erfolgt und nicht erst verzögert.

 

Bei Hattie und Timperley (2007) sind ein paar Typen von Feedbacks in jeweils zwei Varianten genannt, die ganz unterschiedliche Wirkungen haben. Hattie und Timperley beziehen sich dabei auf Hunderte von Studien.

Gegenüberstellung zweier alternativer Varianten von Feedbacks


Grössere EffektedVergleichsweise geringere Effekted
«Es ist richtig»0.43«Es ist nicht richtig»0.25
Feedbacks zu Änderungen gegenüber früheren Versuchen0.55Keine Feedbacks zu Änderungen gegenüber früheren Versuchen0.28
Kein Lob bezüglich Lösen einer Aufgabe0.34Lob bezüglich Lösen einer Aufgabe0.09
Nicht komplexe Aufgaben stellen0.55Sehr komplexe Aufgaben stellen0.03
Anspruchsvolle Ziele setzen0.51Geringe Ansprüche stellen0.30
Feedback als geringe Bedrohung des Selbstwertgefühls0.47Feedback als grosse Bedrohung des Selbstwertgefühls0.08

Die Effekte mancher Feedbacks sind überraschend und widersprechen der Intuition, so etwa der geringe Effekt des Lobens (sofern es nicht mit weiteren Informationen verknüpft ist) oder der grosse Effekt anspruchsvoller Ziele bei gleichzeitig wenig komplexen Aufgaben.

In der Mehrheit der Fälle offensichtlich wirkungsvoll sind die Feedbacks zu (individuellen) Zielen und zu Veränderungen gegenüber früher; sie enthalten Informationen über den Lernprozess und helfen den Schüler/-innen abzuschätzen, wo sie stehen, was sie schon gelernt haben und was ihnen noch bevorsteht.

Es ist aber wichtig, sich der Beschränkungen dieser kurzen und sehr verallgemeinernden Liste von effektiven und weniger effektiven Feedbacks bewusst zu sein. Diese wenigen Hinweise werden nicht ausreichen, um als einzige Leitlinien für professionelle Lehrpersonen zu dienen – aber es ist ein Anfang (vgl. Literaturliste zu Feedbacks).


John Hattie, Bildungsforscher.

Weiterführende Informationen und Materialien

Wie verbindlich können die Empfehlungen der Bildungsforschung sein?

Der englische Bildungsforscher Dylan Wiliam stellt sich dezidiert auf den Standpunkt, dass empirische Evidenz zu Lernen, Unterricht und Schule nicht als generell gültige Handlungsempfehlungen verallgemeinert werden dürfen, da (1) die Ergebnisse nie ganz eindeutig sind und eine Streuung aufweisen und in einzelnen Fällen auch gegenteilige Effekte eintreten, und da (2) die Bedingungen lokal immer anders sind als in den jeweiligen Studien. Er schliesst daraus:

«In der Bildungsforschung ist ‹What works› meist die falsche Frage, denn fast alles funktioniert irgendwo, und nichts funktioniert überall. Eine bessere Frage ist: ‹Unter welchen Umständen funktioniert das›, weshalb die Nutzung der Forschung zur Verbesserung der Bildung nicht durch sklavisches Befolgen eines Rezepts erreicht werden kann.» (Wiliam, 2019, S. 137, Übersetzung U. F.)

Ähnliche kritische Positionen gegenüber sogenannt evidenzbasierter Bildungsplanung vertreten z. B.

–Gert Biesta (2010, «Why ‹What Works› Still Won’t Work»)

–Catherine Snow (2015, «Doing Educational Science in the Real World»)

–Anthony Bryk und Mitarbeitende (2015, «Learning to Improve»)

Die Folgerung dieser Autorinnen und Autoren ist nicht, Evidenz aus Studien zu verwerfen, sondern immer zu prüfen, inwieweit sie auch unter den lokalen Bedingungen gültig sind und wie die Empfehlungen differenziert zu betrachten sind, um die beste Wirkung zu erzielen.

Studien können auf günstige Wirkungen hinweisen, aber entsprechende Empfehlungen haben in vielen Einzelfällen genau den gegenteiligen Effekt.

Wiliam verdeutlicht dies am Beispiel des Feedbacks: Kluger und DeNisi (1996) stellten in ihrem sorgfältigen Review fest, dass das Feedback im Durchschnitt die Leistung deutlich erhöhe. Aufgrund dieser und eigener Befunde schlug John Hattie vor, dass «die einfachste Empfehlung für höhere Bildungswirkungen in einem gehäuften Feedback bestehen muss» (Hattie, 1999). Doch obwohl Kluger und DeNisi einen durchschnittlich positiven Effekt zeigten, waren etwa 38 Prozent der total 607 Effektgrössen negativ. Mit anderen Worten, in mehr als einem Drittel der von ihnen untersuchten Fälle wäre es besser gewesen, einfach kein Feedback zu geben. Mit Blick auf den Gesamtnutzen ist Hatties Empfehlung nachvollziehbar. Aber in den vielen Fällen, wo dauernd leistungshemmendes Feedback praktiziert wird, ist die Empfehlung kontraproduktiv, und da hilft es wenig, dass der Gesamtnutzen über alle Studien hinweg eher günstig erscheint.

«Ich meine deshalb, dass das gesamte Projekt evidenzbasierter Bildung und Erziehung niemals erfolgreich sein kann. Alle Aussagen darüber, ‹was funktioniert›, sind notwendigerweise lokal, da sie sich auf die tatsächlich untersuchten Personen und Zusammenhänge beschränken. Es braucht ein kritisches Urteilsvermögen, um sie sinnvoll auf andere Situationen anzuwenden. Zudem werden solche Aussagen immer provisorisch sein, da neue Erkenntnisse und Einsichten in Frage stellen, was bisher als glaubwürdige Deutung der Forschungsbefunde gegolten hat.» (Wiliam, 2019, S. 135–136, Übersetzung U. F.)

Die Literatur zu Feedbacks führt in der hier diskutierten Perspektive zum Teil deutlich weiter. Fundierte Beiträge liefern insbesondere die Bücher, an denen John Hattie direkt oder indirekt beteiligt ist (Hattie & Clarke, 2018; Wisniewski & Zierer, 2017).

Siehe auch Kasten mit Literaturhinweisen

Eine Auswahl von Publikationen zum Thema «Feedback»

Bastian, J., Combe, A., & Langer, R. (2007). Feedback-Methoden: Erprobte Konzepte, evaluierte Erfahrungen. Weinheim: Beltz.

Behnke, K. (2016). Umgang mit Feedback im Kontext Schule: Erkenntnisse aus Analysen der externen Evaluation und des Referendariats. Wiesbaden: Springer.

Buhren, C. G. (Hrsg.) (2015). Handbuch Feedback in der Schule. Weinheim: Beltz.

Ditton, H., & Müller, A. (Hrsg.) (2014). Feedback und Rückmeldungen. Münster: Waxmann.

Hattie, J. & Clarke, S. (2018). Visible Learning: Feedback. London: Routledge.

Hattie, J. & Timperley, H. (2007). The power of feedback. Review of Educational Research, 77(1), 81-112.

Lipnevich, A. A., & Smith, J. K. (Eds.) (2018). The Cambridge Handbook of Instructional Feedback. Cambridge UK: University Press.

Pollock, J. E. (2012). Feedback: The Hinge that Joins Teaching & Learning. Thousand Oaks: Corwin.

Schrittesser, I. & Schuchart, C. (Hrsg.) (2019). Feedback. Journal für Lehrerinnen- und Lehrerbildung, 19(1).

Strahm, P. (2008). Qualität durch systematisches Feedback: Grundlagen, Einblicke und Werkzeuge. Bern: Schulverlag blmv.

Wilkening, M. (2016). Praxisbuch Feedback im Unterricht: Lernprozesse reflektieren und unterstützen. Weinheim: Beltz.

Wisniewski, B. & Zierer, K. (2017). Visible Feedback: ein Leitfaden für erfolgreiches Unterrichtsfeedback (mit einem Vorwort von John Hattie). Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?