Wege zur Rechtsgeschichte: Römisches Erbrecht

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Aus der Reihe: Wege zur Rechtsgeschichte #1
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3.4.1 Senatusconsultum Tertullianum

Das erste, aus der Zeit des Kaisers Hadrian (117 – 138 n. Chr.) stammende senatusconsultum Tertullianum regelt die Erbfolge der Mutter nach ihren Kindern:

Inst. 3.3.2Postea autem senatusconsulto Tertulliano, quod divi Hadriani temporibus factum est, plenissime de tristi successione matri, non etiam aviae deferenda cautum est: Ut mater ingenua trium liberorum ius habens, […] ad bona filiorum filiarumve admittatur intestatorum mortuorum, licet in potestate parentis est, ut scilicet, cum alieno iuri subiecta est, iussu eius adeat cuius iuri subiecta est.

Später aber ist durch das senatusconsultum Tertullianum, das zu Zeiten des vergöttlichten Kaisers Hadrian abgefasst worden ist, hinsichtlich der Übertragung der traurigen Erbfolge auf die Mutter, nicht auch auf die Großmutter sehr ausführlich angeordnet worden, dass eine freigeborene Mutter, die das Dreikinderrecht hat, […] zur Erbfolge ihrer testamentslos verstorbenen Söhne oder Töchter zugelassen wird, auch wenn sie sich in der Gewalt ihres Vaters befindet, so dass sie natürlich, weil sie fremdem Recht unterworfen wurde, auf den Befehl desjenigen hin, dessen Recht sie unterworfen ist, die Erbschaft antritt.

Voraussetzung für die Erbberechtigung der Mutter nach ihrem gewaltfreien und damit vermögensfähigen Kind ist, dass sie selbst freie Römerin sui iuris ist und bereits drei Kinder geboren hat. Das Dreikinderrecht entstammt der Ehegesetzgebung des Kaisers Augustus (27 v. Chr.–14. n. Chr.) und sichert der Frau dort die testamentarisch erworbenen Vorteile (Kap. 4.3). Frauen, die weniger als drei (eheliche) Kinder geboren haben und das Dreikinderrecht (ius trium liberorum) auch nicht als Privileg verliehen erhalten haben, verlieren den ihnen durch Testament zugewandten Nachlassteil. Der hadrianische Senatsbeschluss geht über diese Regelung hinaus, indem er der gewaltfreien, freigeborenen Frau mit drei Kindern ein eigenes Intestaterbrecht nach den aus der Gewalt des Vaters entlassenen Kindern verspricht. Danach kann die Mutter für sich selbst die Erbschaft ihrer Kinder erwerben.

Das neu geschaffene Intestaterbrecht der Mutter steht allerdings hinter vorrangigen Erbberechtigungen zurück:

Inst. 3.3.3Praeferuntur autem matri liberi defuncti, qui sui sunt […]. Sed et filiae suae mortuae filius vel filia opponitur ex constitutionibus matri defunctae, id est aviae suae. Pater quoque utriusque, non etiam avus vel proavus, matri anteponitur, scilicet cum inter eos solos de hereditate agitur. Frater autem consanguineus tam filii quam filiae excludebat matrem: Soror autem consanguinea pariter cum matre admittebatur: Sed si fuerat frater et soror consanguinei et mater liberis honorata, frater quidem matrem excludebat, communis autem erat hereditas ex aequis partibus fratri et sorori.

Der Mutter aber werden diejenigen Kinder des Verstorbenen vorgezogen, die Hauserben sind […]. Aber auch der Sohn oder die Tochter seiner verstorbenen Tochter werden nach den Konstitutionen vor der Mutter der Verstorbenen, das heißt vor der Großmutter, berücksichtigt. Auch wird der Vater von beiden, nicht auch der Großvater oder Urgroßvater, der Mutter vorgezogen, wenn nämlich zwischen ihnen allein über die Erbschaft verhandelt wird. Der von der Vaterseite stammende Bruder aber sowohl eines [vorverstorbenen] Sohnes als auch einer [vorverstorbenen] Tochter schloss die Mutter aus: Eine von der Vaterseite stammende Schwester hingegen wurde mit der Mutter zugleich zugelassen. Wenn aber ein von der Vaterseite stammender Bruder, eine von der Vaterseite stammende Schwester und eine durch Kinder ausgezeichnete Mutter vorhanden waren, schloss zwar der Bruder die Mutter aus, aber die Erbschaft gehörte dem Bruder und der Schwester gemeinsam zu gleichen Teilen.

Vorrang vor der Mutter genießen zunächst die Hauserben des Erblassers und die Abkömmlinge der Tochter, die als erste zur Intestaterbfolge berufen sind. An zweiter Stelle steht der Vater des verstorbenen Kindes. Auch der von der Vaterseite stammende Bruder des Verstorbenen schließt die Mutter aus, während die von der Vaterseite stammende Schwester gleichzeitig mit der Mutter zugelassen wird. Bei Zusammentreffen von Bruder und Schwester von der Vaterseite bleibt es beim Ausschluss der Mutter, so dass die Erbschaft beiden Geschwistern zu gleichen Teilen gehört. Diese Regelung gilt auch und gerade dann, wenn die Geschwister des Erblassers ausschließlich Abkömmlinge des Vaters sind, zum Beispiel aus einer weiteren Ehe des Vaters mit einer anderen Frau stammen.

Im Ausschluss der Mutter bei Überleben eines Bruders von der Vaterseite ist erneut das Bestreben erkennbar, unterschiedliche Familienvermögen getrennt zu halten. Der Bruder von der Vaterseite setzt nämlich die agnatische Familie, zu der auch der Erblasser gehörte, fort. Für die Mutter des Erblassers, die regelmäßig nicht Teil dieser Familie ist, hat diese Betrachtungsweise zur Folge, dass sie neben einem Bruder erst an vierter Stelle zur Intestaterbfolge berufen ist. Nur mit einer Schwester des Erblassers von der Vaterseite (consanguinitas) kann die Mutter schon an dritter Stelle die Intestaterbfolge erhalten.

Übersicht 11: Rangfolge der Erbschaft der Mutter nach ihrem Kind


Die im Senatsbeschluss postulierte Reihenfolge der Intestaterben des Kindes beruht auf einer originellen Kombination bereits bekannter Prinzipien: Der Vorrang der eigenen Hauskinder des verstorbenen Sohnes entspricht dem ius civile ebenso wie das vorrangige Erbrecht des Vaters als (früherer) proximus agnatus vor der nur kognatisch verwandten Mutter.13 Auch die Bevorzugung der Geschwister väterlicherseits (consanguinei) erklärt sich aus der in der Interpretation des ius civile angetroffenen Begrenzung der Erbberechtigung von Frauen nach dem zweiten Verwandtschaftsgrad (Kap. 3.1.4). Die Berücksichtigung der Kinder einer verstorbenen Tochter (Abkömmlinge der weiblichen Erblasserin) sowie die Anerkennung des mütterlichen Erbrechts sind dagegen Neuerungen, die in ihrem Schutz der kognatischen Verwandtschaft noch über das prätorische Edikt hinausgehen, da sie die Mutterschaft als Verwandtschaft nach ius civile anerkennen. Allerdings wäre die Mutter auch nach ius praetorium in der Klasse unde cognati zum Nachlassbesitz berechtigt gewesen (Kap. 3.2.2). Die Bedeutung des senatusconsultum Tertullianum liegt daher vorrangig darin, dass es der Mutter die Erbenstellung nach ius civile zuweist. Diese Ergänzung der zivilen Intestaterbfolge hat auf Ebene des ius praetorium zur Folge, dass die Mutter von der Klasse der Kognaten (unde cognati) in die Klasse der gesetzlichen Erben (unde legitimi) aufrückt.

Schon die Konkurrenzregelung zeigt, dass das senatusconsultum Tertullianum das bestehende Intestaterbrecht des ius civile und ius praetorium nicht vollständig verdrängt, sondern ergänzt. Die kaiserzeitlichen Juristen sprechen insoweit explizit von einer Abstimmung zwischen dem neuen Recht (ius novum) des Senatsbeschlusses und dem überkommenen alten Recht (ius antiquum).

3.4.2 Ius novum und ius antiquum

Da das senatusconsultum Tertullianum nur punktuell das Erbrecht der Mutter regelt, erlaubt es keine Zuweisung der Erbenstellung, wenn nicht die Mutter, sondern ihre Konkurrenten als Intestaterben zum Zuge kommen.

Die von den Juristen vorgenommene Prüfung der Erbberechtigung ist daher mehrstufig: Sie prüfen zunächst, ob die Mutter nach der Regelung des senatusconsultum Tertullianum als Intestaterbin berufen ist, wenden also ius novum an. Wie gesehen, gilt es bei dessen Anwendung allerdings zu berücksichtigen, dass andere Erbberechtigte der Mutter vorgehen. Der Vorrang dieser Personen wird im Rahmen des ius novum nur als Voraussetzung für das mütterliche Erbrecht, also gleichsam hypothetisch, untersucht. Tritt im Rahmen dieser hypothetischen Prüfung zu Tage, dass der Vorrang besteht, endet die Prüfung des senatusconsultum Tertullianum und die Erbfolge wird nach ius civile und ius praetorium entschieden. Erst wenn keiner der nach ius antiquum Berechtigten die Erbschaft annimmt, kann erneut untersucht werden, ob die Mutter die Erbschaft nach dem senatusconsultum Tertullianum erwerben kann. Nimmt die Mutter, nachdem ihr Erbrecht aufgrund des Senatsbeschlusses festgestellt worden ist, die Erbschaft an, ist das Verfahren um den Nachlass beendet. Schlägt sie aus, kommt (erneut) das alte Recht zur Anwendung:

D. 38.17.2.20 Ulpianus 13 ad SabinumSi mater hereditatem filii filiaeve non adierit ex senatusconsulto Tertulliano, in bonorum possessione antiquum ius servandum est: Cum enim cesset praelatio matre omittente senatusconsulti beneficium, ius succedit vetus.

Wenn die Mutter die Erbschaft eines Sohnes oder einer Tochter nach dem senatusconsultum Tertullianum nicht angetreten hat, so muss hinsichtlich des Nachlassbesitzes das alte Recht (antiquum ius) beachtet werden; weil nämlich das Vorzugsrecht endete, als die Mutter den Vorteil des Senatsbeschlusses aufgab, tritt [nun] das alte Recht an seine Stelle.

Nach ius antiquum können sowohl die nach ius civile als auch die nach ius praetorium berufenen Intestaterben die Erbschaft antreten. Soweit die Mutter als kognatische Verwandte im Rahmen der bonorum possessio ab intestato zur Erbfolge berufen ist, kann auch sie nach diesem Recht nochmals zum Zuge kommen. Allerdings beschränkt sich ihre Erbberechtigung auf die Klasse unde cognati. Ihr Recht, sich auf den Senatsbeschluss zu berufen und in der Klasse unde legitimi den Nachlassbesitz zu beantragen, hat sie durch den Verzicht auf das zivile Erbrecht verloren.

 

Umgekehrt bleibt, wenn sie nur auf den Antrag auf bonorum possessio ab intestato verzichtet hat, das nach ius civile bestehende Erbrecht unberührt:

D. 38.17.2.21 Ulpianus 13 ad SabinumSed si mater repudiaverit bonorum possessionem, de adeunda autem hereditate deliberet, dicendum erit adgnatum non succedere, quoniam nondum verum est non adisse matrem.

Aber wenn die Mutter den Nachlassbesitz abgelehnt hat, über den Antritt der Erbschaft gleichwohl nachdenkt, wird man sagen müssen, dass der agnatische Verwandte in der Erbfolge nicht nachrückt, weil ja noch nicht zutrifft, dass die Mutter nicht angetreten hat.

Die Mutter hat auf die Beantragung der bonorum possessio ab intestato (in der Klasse unde legitimi) verzichtet, nicht aber das zivile Erbrecht abgelehnt. Damit ist die Anwendungsprüfung des Senatsbeschlusses noch nicht beendet, vielmehr ist in der Schwebe, ob das ius novum oder die Intestaterbfolge nach ius antiquum Anwendung findet. Aus diesem Grund wird es dem agnatus proximus, der nach ius civile nach den Hauskindern erbberechtigt wäre, verwehrt, die Erbschaft anzutreten. Erst wenn die Mutter die Erbschaft definitiv ausgeschlagen hat, kommt mit der Anwendung des alten Rechts auch die Agnatenerbfolge nach ius civile zum Zuge. Die Alternativen bei der Anwendung des senatusconsultum Tertullianum sind in Übersicht 12 zusammengefasst:

Übersicht 12: Anwendungsprüfung von ius novum und ius antiquum


3.4.3 Senatusconsultum Orfitianum

Eine vergleichbare Gemengelage ergibt sich für das Erbrecht der Kinder nach ihrer Mutter, das durch ein senatusconsultum Orfitianum im Jahre 178 n. Chr. eingeführt wurde:

Inst. 3.4pr.

Per contrarium autem ut liberi ad bona matrum intestatarum admittantur, senatusconsulto Orfitiano effectum est, quod latum est Orfito et Rufo consulibus, divi Marci temporibus. Et data est tam filio quam filiae legitima hereditas, etiamsi alieno iuri subiecti sunt: Et praeferuntur et consanguineis et adgnatis defunctae matris.

Dass im Gegenteil aber die Kinder zum Nachlass ihrer testamentslos verstorbenen Mütter zugelassen werden, ist durch das senatusconsultum Orfitianum zustande gebracht worden, das unter dem Konsulat des Orfitus und des Rufus zu Zeiten des vergöttlichten Kaisers Mark Aurel ergangen ist. Und sowohl dem Sohn als auch der Tochter ist die gesetzliche Erbfolge gewährt worden, auch wenn sie fremdem Recht unterworfen worden sind. Und sie werden sowohl den blutsverwandten Geschwistern als auch den agnatischen Verwandten der verstorbenen Mutter vorgezogen.

Der Senatsbeschluss, der auf Kaiser Mark Aurel (161 – 180 n. Chr.) zurückgeführt wird, gewährt den Kindern ein Intestaterbrecht nach der Mutter, das dem Intestaterbrecht der Agnaten (nach ius civile) wie der Kognaten (nach ius praetorium) vorgeht. Auf diese Weise verdrängt das kaiserliche Intestaterbrecht die bestehende Erbfolgeordnung des ius civile:

D. 38.17.1.9 Ulpianus 12 ad Sabinum„Si nemo filiorum eorumve, quibus simul legitima hereditas defertur, volet ad se eam hereditatem pertinere, ius antiquum esto.“ Hoc ideo dicitur, ut, quamdiu vel unus filius vult legitimam hereditatem ad se pertinere, ius vetus locum non habeat: Itaque si ex duobus alter adierit, alter repudiaverit hereditatem, ei portio adcrescet. […].

„Wenn niemand von den Kindern oder von denen, welchen die gesetzmäßige Erbschaft gleichzeitig anfällt, will, dass diese Erbschaft ihm gehöre, soll das alte Recht gelten.“ Dies wird deswegen gesagt, damit, solange nur ein Sohn will, dass die gesetzliche Erbschaft ihm gehöre, das alte Recht nicht zur Anwendung kommt. Wenn daher von zweien der eine die Erbschaft angetreten hat, der andere sie ausgeschlagen hat, wächst diesem [dem ersten] der Anteil an. […].

Ulpian (3. Jahrhundert n. Chr.) setzt sich mit dem Wortlaut des Senatsbeschlusses auseinander, in dem die Fortgeltung des alten Rechts nur für den Fall angeordnet wird, dass kein Erbe nach dem ius novum antritt. Das alte Recht sei solange ausgeschlossen, wie sich wenigstens ein Kind bereit findet, das Erbe der Mutter anzutreten. Nur wenn alle Kinder ausschlagen, können die Intestaterben des ius civile und des ius praetorium zum Zuge kommen. Da dem Kind ein vorrangiges Erbrecht nach seiner Mutter gewährt wird, das heißt eine hauserbenähnliche Stellung, ist die Abstimmung zwischen ius antiquum und ius novum im Fall des senatusconsultum Orfitianum weniger schwierig als beim senatusconsultum Tertullianum: Das kaiserliche Erbrecht der Kinder geht so lange vor, bis alle Kinder ausgeschlagen haben.

Auch das senatusconsultum Orfitianum begründet ius civile, greift also in die zivile Erbfolgeordnung ein, die ihrerseits auf das ius praetorium zurückwirkt:

D. 38.17.6.1 Paulus liber singularis ad senatusconsultum OrfitianumFilius, qui se nolle adire hereditatem matris dixit, an potest mutata voluntate adire, antequam consanguineus vel adgnatus adierit, videndum propter haec verba „si nemo filiorum volet hereditatem suscipere“, quia extensiva sunt. Et cum verba extensiva sint, paenitentia eius usque ad annum admittenda est, cum et ipsa filii bonorum possessio annalis est.

Man muss erwägen, ob der Sohn, der gesagt hat, dass er die Erbschaft der Mutter nicht antreten will, nach der Änderung seiner Meinung antreten kann, bevor ein Verwandter von der Vaterseite oder ein agnatischer Verwandter angetreten ist, und zwar wegen folgender Worte: „Wenn keines der Kinder die Erbschaft übernehmen will“, weil sie sehr weit gefasst sind. Und da der Wortlaut so weit gefasst ist, ist seine Reue nur ein Jahr lang zuzulassen, weil die bonorum possessio des Kindes auch selbst auf ein Jahr beschränkt ist.

In dem von Paulus behandelten Fall hat der Sohn, der auf das zivile Erbrecht nach dem Senatsbeschluss verzichtet hat, die bonorum possessio ab intestato nach der Mutter verlangt. Da der Nachlassbesitz in der Klasse unde legitimi auf das zivile Erbrecht des senatusconsultum Orfitianum gestützt wird, stellt sich die Frage, ob der zivile Verzicht auch das prätorische Erbrecht erfasst. Paulus (3. Jahrhundert n. Chr.) entscheidet, dass der Verzicht auf die zivile Erbenstellung dem Antrag auf die bonorum possessio ab intestato nicht entgegensteht, weil der Senatsbeschluss das Kind nur dann ausschließe, wenn es auf beide Erbberechtigungen verzichtet habe. Das ius antiquum kommt daher nur dann zur Anwendung, wenn der Sohn sowohl die Erbenstellung nach ius civile als auch – gegebenenfalls durch Verstreichenlassen der Antragsfristen – den Nachlassbesitz ab intestato nicht übernehmen will.

Auf diese Weise wird der Sohn, der nach dem senatusconsultum Orfitianum den Nachlassbesitz unde legitimi nach der Mutter erlangen will, besser gestellt als die Mutter, die nach dem senatusconsultum Tertullianum den Nachlassbesitz unde legitimi als Erbin ihres Kindes beantragt. Wie gesehen (Kap. 3.4.2), wird die Mutter nämlich von der bonorum possessio ab intestato in der Klasse unde legitimi ausgeschlossen, wenn sie den Erbschaftsantritt (aditio hereditatis) nach ius civile verweigert hat. Dagegen wird dem Kind, das auf das zivile Erbrecht nach dem senatusconsultum Orfitianum verzichtet, die bonorum possessio ab intestato in der Klasse unde legitimi zugestanden. Paulus rechtfertigt diesen Unterschied mit dem Hinweis auf den Wortlaut des Senatsbeschlusses. Hinzukommen dürfte, dass das Erbrecht der Mutter auch sonst von dem Verzicht vorrangig Berechtigter (nach ius civile und ius praetorium) abhängt, während die Kinder alle übrigen Berechtigten (nach ius civile und ius praetorium) verdrängen. Das ius antiquum und damit die Verdrängung der Regelung des Senatsbeschlusses treten beim senatusconsultum Orfitianum erst dann ein, wenn alle Kinder auf die ihnen offenstehenden Formen der Intestaterbfolge verzichtet haben. Dagegen kommt es bei Anwendung des senatusconsultum Tertullianum schon bei der Prüfung der Erbberechtigung der Mutter zur Frage, ob ein vorrangig Berechtigter die bonorum possessio ab intestato verlangt hat oder hätte verlangen können. Auch wenn die Juristen die Anwendung des ius novum vom ius antiquum trennten, erfolgte auf diese Weise beim senatusconsultum Tertullianum kein klarer Schnitt zwischen beiden Rechtsschichten, wie er für das senatusconsultum Orfitianum durch die Vorrangregel ermöglicht wird.

Dass die Kinder der Mutter durch das kaiserliche Intestaterbrecht besser gestellt wurden als die Mutter als Intestaterbin der Kinder, ergibt sich dabei schon aus der bei Kaiser Justinian (527 – 565 n. Chr.) mitgeteilten Konkurrenzregel zwischen den Kindern der Tochter und der nach dem senatusconsultum Tertullianum erbberechtigten Mutter (Kap. 3.4.1). Wie gesehen, gehen nämlich die Kinder, die nach dem senatusconsultum Orfitianum zu Erben der Tochter berufen werden, der Mutter, die nach dem Senatsconsultum Tertullianum erbberechtigt ist, vor. Innerhalb des ius novum genießt also das senatusconsultum Orfitianum Vorrang vor dem senatusconsultum Tertullianum.

Die beiden Senatsbeschlüsse bilden den Endpunkt der Entwicklung des antiken römischen Intestaterbrechts, wenngleich nachfolgende Reskripte und Einzelfallentscheidungen das beschriebene System weiter verfeinert haben. Daher kann von den beiden Senatsbeschlüssen aus ein zusammenfassender Rückblick auf die Rechtsschichten des Intestaterbrechts und ihre Entwicklung unternommen werden.

3.5 Fazit zum Intestaterbrecht

1. Am Ende der Kaiserzeit stellt sich das römische Intestaterbrecht als Kombination von verschiedenen Regelungen dar: Grundlage ist nach wie vor das im Zwölftafelgesetz von ca. 450 v. Chr. angelegte Intestaterbrecht der Hauskinder und Agnaten. An diese Grundlage anknüpfend bestimmt der Prätor diejenigen, die nacheinander nach Klassen des Edikts zum Antrag auf die bonorum possessio ab intestato berufen sind. Ergänzend treten die mit Blick auf das Erbrecht zwischen Müttern und Kindern formulierten Senatsbeschlüsse als ius novum hinzu, das direkt in die zivile Ordnung eingreift.

Übersicht 13: Rechtsschichten des kaiserzeitlichen Intestaterbrechts


Die Übersicht 13 zeigt, dass sich die verschiedenen Rechtsschichten nicht nur übereinander ablagern, sondern gegenseitig durchdringen. Diese wechselseitige Abhängigkeit kommt zunächst dadurch zum Ausdruck, dass das Kaiserrecht Anordnungen auf Ebene des ius civile trifft, also gleichsam in eine frühere Schicht eingreift. Sie ist auch darin erkennbar, dass der kaiserrechtliche Eingriff in das ius civile im ius praetorium rezipiert wird, also eine Neuordnung der prätorischen Erbfolgeordnung bedingt.

2. Trotz dieser gegenseitigen Abhängigkeit beruhen die verschiedenen Schichten keineswegs auf einer einheitlichen rechtspolitischen Zwecksetzung: Während sich das Erbrecht des ius civile als Fortsetzung der agnatischen Familienstruktur über den Tod des Oberhauptes hinaus darstellt, setzt das Intestaterbrecht des ius praetorium programmatisch auf die Gleichberechtigung von Abkömmlingen, unabhängig davon, ob sie unter der väterlichen Gewalt stehen oder nur kognatisch verwandt sind. Dabei liegt es in der prozessualen Natur der prätorischen Regelung, dass sie formal keine Veränderung der zivilen Erbrechtsordnung bewirken kann. Der eigentliche Eingriff in das überkommene ius civile erfolgt erst in der Kaiserzeit, in der durch senatusconsulta abweichendes, neues ius civile geschaffen wird, das vor allem die erbrechtliche Stellung der Frauen zu ihren Kindern verbessert. Auf diese Weise wird endgültig der Wechsel zu einem kognatischen Familienmodell vollzogen.

 

3. Das überkommene agnatische Familienmodell wird dennoch nicht abgeschafft, sondern wirkt in der nach wie vor anerkannten Erbberechtigung des agnatus proximus, der auch nach ius praetorium (unde legitimi) berufen ist, fort. Da mit Ausnahme des Gentilenerbrechts die Intestaterbfolge des ius civile neben der prätorischen bestehen bleibt, ergeben sich Widersprüche, namentlich bei der emancipatio von Hauskindern zwischen der zivilen und der prätorischen Ordnung. Auch diese Widersprüche werden – wie gesehen (Kap. 3.3.2) – erst durch den stärker systematisierenden Zugriff der Kaiserzeit gelöst, die in der nova clausula Iuliani einen Ausgleich zwischen ius praetorium und ius civile schafft. In diesem Edikt werden beide Schichten miteinander verschmolzen, indem sowohl zivile als auch prätorische Erben nebeneinander zur Intestaterbfolge berufen sind. In dieser Regelung zeigt sich die Tendenz des Kaiserrechts, das Spannungsverhältnis zwischen ius civile und ius praetorium zugunsten einer einheitlichen, vom princeps geprägten Ordnung aufzulösen.

9 Die Rekonstruktion folgt Michel Humbert/Andrew D. E. Lewis/Michael H. Crawford, Lex duodecim tabularum, in: Michael Crawford (Hrsg.), Roman Statutes II, London 1996, 580.

10 Otto Lenel, Das Edictum perpetuum, 3. Aufl. Leipzig 1927, 355.

11 Die Adoption erfolgt – wie die emancipatio – durch Manzipation des Hauskindes an einen Treuhänder, der es freilässt. Ist auf diese Weise durch dreimalige Manzipation des Haussohnes oder einmalige Manzipation anderer Hauskinder das Gewaltverhältnis erloschen, beansprucht derjenige, der Adoptivvater werden will, im Rahmen eines fiktiven Prozesses (in iure cessio) die Hausgewalt über das Kind. Der frühere Hausvater widerspricht nicht, so dass das Kind unter die Hausgewalt des Adoptivvaters tritt.

12 Die bonorum possessio sine re ist zwar gegenüber dem zivilen Erben ohne Wirkung, vermittelt dem Inhaber aber Schutz gegenüber Dritten, die die Erbschaft für sich beanspruchen oder der Erbschaft Sachen entziehen.

13 Dabei ist zu beachten, dass das „Kind“, wenn es aus der Gewalt entlassen wurde, nicht mehr agnatisch verwandt ist. Die Stellung des Vaters erklärt sich daher aus der Position als Freilasser aus der Gewalt. Kinder, die außerhalb einer Ehe, also von vornherein gewaltfrei geboren waren, wurden erst durch die spätere Juristeninterpretation unter das senatusconsultum Tertullianum gezogen.

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