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Ulrik Remy

Ohne Chancein Denpasar

Autobiografischer Roman

Es gibt kein unglaubliches Glück, wenn du daran glaubst

Sandjai Bandarenore

Auf See

Wir hatten einen Klapptisch gebaut, aus einer alten Palette, die in Durban übrig geblieben war, und im unbenutzten Zustand sah das Ding wirklich aus wie, nun ja, irgendeine alte Palette, die jemand beim Stauen vergessen hatte – „wieso steht’n das Scheiß-Ding immer noch da rum, verdammt nochmal!“ –, aber obendrauf hatten wir eine Sperrholzplatte genagelt und mit feinem grünen Filz bezogen. Man musste nur die beiden Ketten oben am Querspant festmachen und die Haken in ihre Ösen an der Seitenwand einhängen, und schon hatte man den feinsten Spieltisch, den du dir vorstellen kannst.

Das Ganze befand sich auf der Plattform vor der Eisenstiege, die hinunter in den Maschinenraum führte, gleich hinter der Mannschaftsmesse, und zwischen den Kontrollgängen verzockte die Bunkerwache hier ihre Heuer.

Der alte Mann durfte davon nichts wissen; er hatte in seiner Gott weiß wie langen Fahrenszeit genug gesehen, um strikt gegen Glücksspiel, Alkohol im Dienst, Frauen an Bord, gegen Wachentausch, Ledersohlen und andere Unbotmäßigkeiten zu sein. Gerade auf dieser Reise, welche seine letzte vor dem Ruhestand sein sollte, schien er noch einmal all seine Register ziehen zu wollen, um seine Erfahrungen und Überzeugungen auszubreiten und uns Jüngeren die richtige Einstellung zur Seefahrt zu vermitteln. Seine Reden beim Captain’s Dinner pflegten von den wahren Werten zu handeln, von echter Seemannschaft, moralischer Sauberkeit und wirklicher Kameradschaft – man fühlte sich immer irgendwie erhoben hinterher, gereinigt, voller guter Vorsätze, und so.

Na ja, wir mochten den alten Mann; er war ein erfahrener, urteilssicherer Kapitän, ein wettergeprüftes Schlachtross, nicht mehr ganz von dieser Welt, aber was soll’s, es war seine letzte große Reise als Kapitän, und wenn man aufpasste, erwischte man auch meistens die Stelle, an der man zu lachen hatte.

Bloß, wie gesagt, von unserem Spieltisch am Niedergang durfte er nichts wissen.

Die Stammbesatzung der „Pere Lindström“ bestand aus mehreren schwedischen Offizieren und Technikern, die normalerweise keinen Kontakt zur Mannschaft pflegten. Es gab zwei holländische Leichtmatrosen, zwei Vollmatrosen, von denen ich einer war, einen puertoricanischen Koch und sechs ranglose Deckshände, die in drei Wachen eingeteilt waren.

Ich hatte mich um die Heuer bei einer Agentur beworben, die mir einer meiner Ausbilder an der Seefahrtschule empfohlen hatte, denn ich brauchte ein paar tausend Seemeilen, um mein Offizierspatent zu erneuern und mir die Aussicht auf meine weitere Ausbildung zum Kapitän zu sichern.

Man hatte mich als Lademeister für das achtere Geschirr eingeteilt, weil ich aus meiner Zeit auf dänischen Steinfischern ein bisschen Erfahrung mitbrachte. In Lagos, bei unserer ersten Anlandung seit Rotterdam, war der Kollege am vorderen Geschirr verunglückt, und da man so kurzfristig keinen Ersatz besorgen konnte, übertrug man mir die Verantwortung für alle Hebeanlagen des Schiffes.

In der Praxis bedeutete das, dass ich während der Aufenthalte in den Häfen sehr viel Arbeit hatte, weil die Lösch- und Ladearbeiten immer unter großem Zeitdruck stattfanden; solange mein Schiff auf hoher See war, hatte ich vergleichsweise wenig zu tun. Im Wesentlichen bestand meine Aufgabe darin, die Winschen, Gelenke und hydraulischen Elemente der Ladebäume gängig zu erhalten und vor der salzhaltigen Seeluft zu schützen; das Training der Deckshände am Gerät und ein bisschen Papierkram, dazu regulärer Decksdienst, das war meine tägliche Routine, und damit war ich ziemlich schnell fertig. Die verbleibende Zeit meiner Dienstwachen verbrachte ich am liebsten in der Funkbude mit dem Navigationsoffizier, denn dort gab es für mich am meisten zu lernen.

Für die Deckshände und die Leichtmatrosen kam unser Spieltisch nun natürlich gerade recht; zwischen Durban und Singapur verbrachten wir gut zwei Wochen auf See, praktisch immer ohne Landsicht, und das ist eine verdammt lange Zeit.

So spielten wir Black Jack, Texas Hold’em und Straight Poker wie Besessene auf dieser langweiligen Reise über den Indischen Ozean, immer mit einem dritten Auge im Hinterkopf, und wenn der alte Mann seine Runde machte, klappte unser Spieltisch blitzschnell wieder an die Wand und sah genauso unschuldig aus wie die Bunkerwache.

Singapur

Nach beinahe zwei endlos erscheinenden Wochen auf See erschienen die Inseln Sabang und Breueh am Horizont, die der Nordspitze von Sumatra vorgelagert sind. Wir ließen sie an Steuerbord liegen und fuhren durch den Great Channel in die Adaman Sea ein, drehten dann nach Südost ab in die Straße von Malacca.

Von nun an hatten wir Landsicht; die Nordküste von Sumatra war an Steuerbord fast immer zu sehen oder zu erahnen, und im Laufe des folgenden Tages kam an Backbord auch die Südküste von Malaysia in Sicht. Die Stimmung unter den Offizieren wurde spürbar angespannter, je näher wir unserem ersten Zwischenstopp Singapur kamen, denn es herrschte reger Schiffsverkehr, und kräftige Strömungen bei geringer Wassertiefe machten das Navigieren schwierig.

Kurz vor der Einfahrt in die Singapore Strait wurde ein Pilot angefordert, der von Jurong mit einem Kutter herüberkam, um die „Pere Lindström“ sicher durch das Insel- und Riffgewirr um die Insel Sentosa herum zu unserem Liegeplatz am östlichen Ende des Hafens zu lotsen.

Da war nichts Romantisches an den Docks der Eastern Warf, wo wir schließlich festmachten. Das Wasser im Hafen stank nach Teer, verfaulten Algen und noch ein paar anderen Dingen, die man sich besser nicht bildlich vorstellt. Nach den Wochen auf offener See mit dem salzigen Geruch des Windes in der Nase kam mir Singapur wie ein stinkendes Dreckloch vor. Auf der Landseite begrenzte eine Hochstraße auf rostigen Stelzen das Lagergelände des Freihafens, und gegenüber auf der anderen Seite lag Brani Island mit weiteren Kais und Lagerplätzen.

Draußen auf der Reede sah man ein paar einheimische Boote, ohne die man vermutlich gar nicht auf die Idee gekommen wäre, man könne sich in einem südasiatischen Hafen befinden. Die Stadt und das Hinterland waren flach; es gab keine Berge, keine auffälligen Landmarken oder Orientierungspunkte, an denen das Auge sich hätte festmachen können.

„Kommst du mit? Wir haben eine Limo.“ Der zweite Offizier stand vor mir, schnieke in seiner Ausgeh-Uniform.

„Nee, danke“, gab ich zurück, „will sehen, dass ich das Zeug heute noch gelöscht kriege, dann geht’s morgen etwas entspannter.“ Das „Zeug“ waren ein paar Seekisten, fünfzehn oder zwanzig, die für Singapur bestimmt waren. Die konnten wir mit unserem bordeigenen Ladegeschirr löschen, ohne auf die großen Hafenkräne angewiesen zu sein.

„Außerdem muss ich morgen auch noch vier Temps heuern“, das waren Hilfsarbeiter, die nur für einen bestimmten Streckenabschnitt an Bord kamen.

„Kannst du das nicht auch in Singaradja machen?“, fragte er. Singaradja auf Bali war unsere nächste Station. Dort würden wir den größten Teil unserer Fracht löschen.

„Weiß nicht, ob ich da welche kriege. Und ich brauch auch mindestens einen Tag, um sie einzuweisen, sonst sind sie nicht versichert“, erklärte ich, „außerdem hat die Agentur das alles schon organisiert.“

„Na, musst du wissen“, schnappte er, „man kommt ja nicht alle Tage nach Singapur.“

Ich sah ihn nur an und zuckte die Schultern. Abgesehen von der Arbeit, die auf mich wartete, hatte ich auch einfach keine Lust auf einen Abend mit ein paar schwedischen Seemännern auf der Suche nach billigem Alkohol und illegalen Drogen, der dann irgendwann in einem Puff oder auf einer Polizeiwache enden würde.

„Na, dann viel Spaß mit dem alten Mann“, lachte er, drehte sich um und ging hinüber zu dem Gate, an dem die Gangway festgemacht war.

Ich stieg hinunter in die Mannschaftsmesse und holte mir die beiden Deckshände, die zur Wache eingeteilt waren, und einen der Leichtmatrosen. Gemeinsam hievten wir die Seekisten aus dem Frachtraum und setzten sie auf dem freien Platz vor unserem Schiff ab, von wo zwei einheimische Hafenarbeiter sie mit Gabelstaplern zu einem Lagerschuppen am Ende des Hafenbeckens brachten.

Gegen zehn Uhr abends waren wir fertig damit; ich entließ die Arbeiter und stieg zur Brücke hinauf, um meine Logbuch-Eintragung abzuschließen. Während ich noch damit beschäftigt war, stand plötzlich der alte Mann hinter mir.

„Was machst’n da?“

„Ich bin am Ausloggen – wir haben gerade –“

„Ja, ich weiß – hab’s gesehen.“ Er beugte sich über das Log, las meine Eintragung, nahm dann einen Kugelschreiber aus seiner Jacke und setzte seine Initialen darunter.

„Einen Scotch in der Captain’s Lounge?“, fragte er lächelnd, indem er sich aufrichtete. „Oder möchtest du erst was essen?“

„Ich hatte ein Sandwich zwischendurch, danke“, erwiderte ich, „ein Scotch mit Ihnen wär jetzt genau das Richtige.“

„Dann komm.“ Mit einer Kopfbewegung dirigierte er mich zur Captain’s Lounge, die ein halbes Stockwerk tiefer hinter der Brücke untergebracht war.

„On the rocks with a splash, oder nur on the rocks?“

„With a splash, bitte.“

„Setz dich.“ Er deutete auf die beiden lederbezogenen Sessel, die in einer Nische des großen Raumes auf beiden Seiten eines kleinen runden Rauchtischchens standen. Ich ließ mich in einem davon nieder.

„Du weißt, dass du nicht autorisiert bist, Eintragungen ins Log zu machen?“ Er stand, mit dem Rücken zu mir, vor dem Barfach, das in die Wandvertäfelung eingelassen war.

„Ich weiß, aber alle Offiziere waren schon von Bord gegangen. Ich hätte morgen früh einen gebeten –“, stammelte ich.

„Ist schon gut. Du warst ja Wachführer, dadurch, dass niemand anderes an Bord war.“ Er stellte zwei Whiskygläser auf das Rauchtischchen und setzte sich in den anderen Sessel.

„Skol.“ Er hob sein Glas.

„Skol.“ Ich hob meines.

„Warum bist du nicht mit den anderen an Land gegangen?“

„Na ja, ich wollte die Löscharbeiten hinter mich bringen, damit ich morgen mehr Zeit für die Interviews mit den Temps habe.“

„Hast du einen von den Offizieren dabei, bei den Interviews?“

„Ich hab Jensen gebeten, dabei zu sein.“

„Gut.“ Er starrte auf sein Glas und lachte leise. „Wenn er’s denn schafft, rechtzeitig aus seiner Koje zu kriechen; wird wohl ’ne lange Nacht werden für die Jungs heute.“

„Mhm.“ Ich wusste nichts Rechtes darauf zu sagen, wollte auch nicht respektlos gegenüber den Offizieren scheinen. Der alte Mann zog ein ledernes Etui aus der Innentasche seiner Jacke, nahm eine Zigarre heraus und suchte in seinen Jackentaschen herum.

„Hast du ein Streichholz? Nee, Moment, ich hab’s.“ Er biss die Spitze seiner Zigarre ab und spuckte sie aus. Dann strich er ein Streichholz an und ließ seine Zigarre drei-, viermal daran aufflammen, ehe er einen kräftigen Zug daraus nahm und den Rauch genüsslich aus Mund und Nase zugleich ausströmen ließ. Er blickte den dicken grau-blauen Wolken nach und wandte sich dann wieder mir zu.

„Und du sitzt hier mit deinem alten Käpt’n – interessiert es dich denn gar nicht, ein fremdes Land kennen zu lernen?“

„Oh doch, sehr sogar“, versicherte ich, „aber – ich glaube nicht, dass man ein fremdes Land auf einer abendlichen Sauftour wirklich kennen lernt.“

„Nein, nicht wirklich“, er nahm einen Schluck aus seinem Glas und lächelte versonnen, „um ein Land wirklich kennen zu lernen, muss man mit seinen Menschen leben, ihren Alltag teilen, ihre Speisen essen – weißt du –“, er beugte sich über den Rauchtisch zu mir herüber, „man sagt, dass ich ein erfahrener Südost-Asien-Kapitän bin, und als solcher werde ich in ein paar Monaten in den Ruhestand gehen. Und weißt du, was ich dann tun werde?“

„Sie werden’s mir hoffentlich verraten –“, ich zwinkerte ihm zu, und er lehnte sich lachend zurück, nahm einen weiteren tiefen Zug aus seiner Zigarre.

„Ich werde reisen“, sprach er in den Rauch hinein, „mit meiner Frau. Wir werden alle die Länder besuchen, in denen ich schon mal war und von denen ich noch nicht mal so viel“, er schnippte verächtlich mit den Fingern, „gesehen habe. Immer nur die Häfen, sonst nichts.“ Er redete sich langsam in Fahrt, seine Augen begannen zu leuchten.

„Und diesmal werden wir aus den Häfen rausgehen, ins Land hinein. Mit den Menschen leben, ihren Alltag mit ihnen teilen und ihre Feste mit ihnen feiern. Monatelang, so lange, bis sie traurig sind, wenn wir sie verlassen. Und vielleicht werden wir auch bleiben, irgendwo. Aber vor allem“, er hob eine Hand hoch und verlieh seinen Worten mit der Zigarre besonderes Gewicht, „vor allem werden wir uns in jedem Land eine dicke, fröhliche Frau suchen, die uns beibringt, wie man in ihrem Land kocht; denn der Weg zur Seele eines Volkes geht immer durch seine Küche.“ Er ließ die Hand wieder sinken, nickte ein paarmal gedankenverloren, trank dann sein Glas leer und sah mich mit hochgezogenen Brauen an.

„Noch einen? Komm, trink aus.“

Ich folgte seinem Befehl – immerhin, er war mein Käpt’n – und reichte ihm mein leeres Glas. Während er sich an dem Barfach zu schaffen machte, betrachtete ich seinen Rücken, die kräftigen Schultern, das ordentlich gekämmte weiße Haar über dem Kragen seiner Uniformjacke, und fühlte etwas wie Sympathie für ihn. Er war nach wie vor mein Kapitän, eine Respektsperson; aber in diesen wenigen Momenten war er auch ein Mensch geworden, der sich geöffnet hatte.

„Könnte so etwas nicht auch gefährlich sein? Ich meine, einfach so, in einem fremden Land, einer fremden Kultur?“

Er wiegte seinen Kopf hin und her, ohne sich umzudrehen. „Ja, sicher, und mit einer Frau dabei, die ich zu schützen habe, ja –“ Er drehte sich um, ein gefülltes Whiskyglas in jeder Hand, die Zigarre im Mundwinkel, und kam langsam zu unserer Sitzgruppe zurück.

„Aber schau“, sagte er, indem er sich auf seinem Sessel niederließ, „vieles in Schweden, in meinem eigenen, gewohnten Land, in dem ich mich auskenne, ist mir genauso fremd geworden. Die Pöbeleien, die Randale, die Besoffenen an jeder Straßenecke, die Messerstechereien – ist das denn wirklich die Kultur, in der ich meinen Lebensabend verbringen möchte?“

Er prostete mir mit seinem Glas zu, nahm einen Schluck und betrachtete dann das Glas in seiner Hand. Nach einer langen Pause atmete er tief durch und sah mich an:

„Ich glaube, ich halte mich am besten an das, was meine Mutter mir immer wieder sagte. Geh zu den armen Leuten, Ove, sagte sie immer. Die Reichen haben viel zu viel Angst, du könntest ihnen von ihrem Reichtum etwas wegnehmen. Die Armen haben diese Angst nicht, und sie wissen, wie wichtig es ist, zusammenzuhalten. Halt dich an die Armen, und begegne ihnen mit Respekt, dann werden sie dir auch ihre Türen öffnen.“

Er nahm einen Zug aus seiner Zigarre, und wieder trat eine lange Pause ein, während der ich seine Worte einsinken ließ. Dies war nicht der alte Mann, den ich vom Captain’s Dinner her kannte, der Mann, der alle Antworten hatte, laut und selbstbewusst irgendwelche Weisheiten von sich gab; dies war ein bescheidener, nachdenklicher Mensch am Beginn eines neuen Lebensabschnitts.

„Ich denke, Ihre Mutter war eine sehr weise Frau, Sir“, sagte ich schließlich.

Er fuhr auf, als hätte er geträumt; er lachte: „Oh, sie ist es noch. Ist jetzt zweiundneunzig und lebt immer noch in ihrem eigenen Haus. Und immer noch frech wie der Dreck im Weg.“

„Gute Gene, offenbar“, merkte ich an und fragte mich im selben Moment, ob das nicht vielleicht zu schmeichelhaft klang; aber er schien es nicht so zu empfinden.

„Oh ja, sie hatte es nicht leicht. Mein Vater war im Krieg gefallen, und sie hat ihre vier Kinder allein großziehen müssen. Hat als Masseurin gearbeitet und uns allen eine gute Ausbildung ermöglicht. Dann kaufte sie ein kleines Haus in der Nähe von Nyköping, vermietete es an Feriengäste und schlief selbst in einem Zelt im Garten.“ Er nickte nachdenklich, hob dann sein Glas –

„Auf Svenja!“

„Auf Svenja! Und auf viele glückliche Jahre!“ Er trank sein fast noch volles Glas in einem Zug leer, knallte es auf das Rauchtischchen zwischen uns, quetschte seine erst halb gerauchte Zigarre im Aschenbecher aus und wuchtete sich aus seinem Sessel hoch.

„Wird Zeit für die Koje. Wann hast du die Interviews morgen?“

„Um acht fangen wir an.“ Ich war ebenfalls aufgestanden.

„Na, dann viel Glück, Jensen dabeizuhaben“, gluckste er spöttisch, „aber du machst das schon. Bist ein feiner junger Seemann, Rick.“

Ich war überrascht, dass er meinen Namen kannte. Wir hatten noch nie zuvor direkt miteinander gesprochen.

„Sir?“

Er hatte sich schon halb zum Gehen gewandt, drehte sich noch einmal herum und legte mir seine Hand auf die Schulter.

„Ja, Junge, ich weiß, wer du bist. Ich bin der Kapitän dieses Schiffes, und ich wäre ein schlechter Käpt’n, wenn ich nicht wüsste, was auf meinem Schiff vor sich geht. Ich kenn auch eure Zockerbude da beim Niedergang zum Bunker. Deine Idee?“

„Na ja, ich – ja, zum Teil –“, stammelte ich.

„Gutes Design. Hätt’s nicht besser machen können“, lachte er, klopfte mir noch einmal freundschaftlich auf die Schulter und stapfte durch die leere Captain’s Lounge zu seinem Quartier. Kurz bevor er die Tür erreichte, drehte er sich noch einmal zu mir herum.

„Du wirst ein feiner Seemann sein, mein Junge.“ Er nickte ein paarmal, ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Ich konnte seine Schritte auf den Metallstufen hören, die zu seinem Quartier hinunterführten, eine Tür, die sich öffnete und schloss; dann war alles still. Nichts regte sich auf dem Schiff, nur ein kaum wahrnehmbares Summen verriet, dass die Klimaanlage lief.

Ich trug die beiden Gläser und den Aschenbecher zu der Spüle, die in den Wandschrank eingebaut war, und machte sie sauber. Dann wischte ich das Rauchtischchen mit einem feuchten Lappen ab, schaute noch einmal, ob alles wieder so war, wie wir es vorgefunden hatten, und verließ schließlich die Captain’s Lounge durch den Haupteingang.

Die Luft draußen war sanft und schwer, mit einem Hauch von Dieselöl; der weite Lagerplatz auf der Backbordseite der „Pere Lindström“ lag verwaist vier Stockwerke unter dem kleinen Balkon vor den Flügeltüren der Lounge. Ich schaute hinüber zu den niedrigen Lagerhäusern vor der Hochstraße, aber mein Blick richtete sich mehr nach innen. Die Worte des alten Mannes klangen in mir nach, ich spürte seine Sympathie für mich, empfand auch eine Freude darüber, dass er mir das Gefühl vermittelt hatte, mir auf Augenhöhe zu begegnen und nicht wie ein Vorgesetzter einem Untergebenen, wie es ihm sicherlich zugestanden hätte.

Langsam stieg ich die Eisentreppe zum Oberdeck hinunter und stellte mir dabei vor, ich sei nun der, den die Mannschaft „alter Mann“ nennt, und dies hier sei mein Schiff. Eines Tages würde es so sein, vielleicht.

Ich ging die paar Schritte bis zur Reling und lehnte mich darauf, die Ellbogen auf das Geländer gestützt. Der Ausblick von hier war derselbe wie von oben, aber hier spürte ich das Schiff unter mir.

Die „Pere Lindström“ war das größte Schiff, auf dem ich bisher gefahren war. Im Laufe der sechs Wochen, die ich jetzt auf ihr gelebt hatte, schien sie kleiner geworden zu sein, überschaubarer, denn ich hatte sie immer besser kennen gelernt, alle Nuancen ihrer Bewegungen erfahren. Sie war mein Zuhause geworden.

Ich spürte, wie sie zitterte. Natürlich war mir klar, dass sie ein Koloss aus Stahl und Holz war, kein fühlendes Wesen; aber in der Verbindung mit dem Wasser und dem Wind, mit den Elementen, denen sie anvertraut war, wurde sie dazu, und ich konnte es spüren.

Jedes Schiff, das an einer steinernen Kaimauer fest vertäut ist, zittert vor unterdrückter Bewegungslust und zurückgehaltener Kraft. Ein Schiff, das vor Anker liegt, ist ungeduldig, rupft an den Ankerketten, die es an seiner natürlichen Bewegung hindern. Nur ein Schiff, das sich auf offener See befindet, kann frei atmen und die ganze Eleganz und Sinnlichkeit entfalten, die in seiner Konstruktion angelegt sind.

„Morgen“, sagte ich leise und strich mit meiner Hand über die vibrierende Reling, „morgen sind wir wieder da draußen.“ Ich war froh, dass niemand in der Nähe war, der meinen Geisteszustand hätte in Zweifel ziehen können.

Ich ließ meinen Blick über den jetzt verwaisten Lagerplatz, die Schuppen am anderen Ende und die Hochstraße schweifen, atmete die milde, seidige Luft, die einen Hauch von Diesel, von Teer und von verfaultem Tang in sich hatte, und lauschte auf die Geräusche der Stadt, die von sehr weit her kamen und kaum zu unterscheiden waren – nein, hier gab es für mich nichts zu entdecken. Außerdem war ich müde.

„Morgen“, sagte ich noch einmal leise und klopfte zweimal auf die Reling, bevor ich zu den Aufbauten des Schiffes zurückging und durch die leere Mannschaftsmesse zu meinem Quartier hinunterstieg.

Temps

Natürlich erschien Jensen nicht pünktlich zur Musterung der Temps, und als er dann schließlich auftauchte, sah er ziemlich verhauen aus. Wenn ich das Aroma seiner Fahne richtig deutete, hatte er sich am Abend zuvor wohl überwiegend von Wodka und Tsing-Tao-Bier ernährt.

Ich hatte die Zeit bis zu seinem Eintreffen für die Erledigung des notwendigen Papierkrams genutzt, die Kopien der Arbeitsnachweise, Gesundheitszeugnisse und Pässe der Bewerber geprüft und ein paar vorläufige Notizen über meine Eindrücke gemacht. Mit den eigentlichen Interviews wollte ich erst anfangen, wenn ein Offizier als Autoritätsperson dabei war, denn die Bewerber waren alle älter als ich.

Die Agentur hatte sechs Bewerber geschickt, zwei weitere Jungs hatten sich direkt beworben. Fünf waren Malaien, einer Thai, einer Vietnamese und einer Filipino, und alle sprachen passabel Englisch, was wichtig war, damit sie Befehle und Anweisungen schnell umsetzen konnten. Ich unterhielt mich ein paar Minuten mit jedem von ihnen und wandte mich dann an Jensen.

„Was meinst du?“

Er zuckte die Schultern. „Du musst mit ihnen arbeiten. Such dir die besten aus. Der Große da, das wäre meine Wahl.“ Er deutete auf einen hünenhaften Malaien, den ich in Gedanken schon gestrichen hatte.

„Ich will keine Muskelmänner“, entgegnete ich, „ich brauch smarte, flinke Jungs, die –“

„Mach du“, winkte er ab, „du musst mit ihnen klarkommen.“ Es war ihm anzumerken, dass er kein besonderes Interesse an der Sache hatte. Vermutlich wollte er schnell wieder in seine Kabine, um vor dem Auslaufen noch eine Mütze voll Schlaf zu bekommen.

Ich machte Haken hinter die Namen der Jungs, die mir geeignet erschienen, und reichte ihm die Liste. Er verlas die Namen, die ich ausgewählt hatte, und die Aufgerufenen stellten sich auf sein Handzeichen seitlich von uns auf. Die anderen, darunter auch der malaiische Hüne, nahmen ihre Seesäcke auf und schlenderten zurück zu den Lagerhäusern.

Zwei der Malaien, den Vietnamesen und den Filipino hatte ich angeheuert. Alle waren schlanke, sehnige Typen, die schnell und flexibel reagieren konnten; die Muskelarbeit würde das Ladegeschirr machen. Die Männer, die ich brauchte, mussten wach und agil sein. Ich war mit meiner Auswahl ziemlich zufrieden.

Jensen musterte die vier jungen Männer, hob dann den Kopf und sprach in Befehlston: „Okay, ihr seid geheuert. Rick hier“, er deutete auf mich, „ist euer Boss. Zwei Tage auf See mit jeweils zwei Dienstwachen, Unterweisung am Ladegeschirr. In Singaradja Ladearbeit, dann Landgang, einen Tag. Die Heuer für den ersten Abschnitt wird in Singaradja ausgezahlt. Danach vier Tage auf See bis Perth, Ladearbeit und Auszahlung der Heuer für den zweiten Abschnitt. Irgendwelche Fragen?“

Einer der Männer hob seine Hand. „Rückflug nach Singapur?“

Jensen sah mich kurz an, schüttelte dann den Kopf und sagte: „Ihr könnt euch in Perth eine neue Heuer suchen“, die Männer lachten leise, „oder zu Fuß gehen; ist mir egal. Die Heuer wird für zehn Tage gezahlt. Das war das Angebot.“

Die Männer murmelten leise; sie schienen nicht so recht zufrieden zu sein. Jensen wurde ungeduldig.

„Das war die Ausschreibung. Irgendwelche Probleme?“

Das Gemurmel legte sich, die Männer zuckten die Schultern und nahmen ihre Seesäcke auf. Jensen entspannte sich.

„Rick wird euch eure Quartiere zuweisen und den Dienstplan erstellen. Willkommen an Bord.“ Er nickte den Männern zu und ging zur Gangway.

Ich ließ eine Sekunde oder zwei verstreichen, holte dann tief Luft und sah die jungen Männer an.

„Okay – ihr habt die Ausschreibung gelesen, keine Drogen, kein Krawall an Bord, Anweisungen der Offiziere sind zu befolgen, und wer sich nicht daran hält, wird geteert, gefedert und über Bord geworfen. Kommt, ich zeig euch eure Quartiere.“

Sie lachten. Die angespannte Stimmung löste sich, und sie folgten mir zur Gangway, die zwei Stockwerke hinauf bis zur Mannschaftsmesse.

Während ich den Fremdenführer gab und die Jungs mit der Örtlichkeit vertraut machte, beobachtete ich die Männer und ging in Gedanken die Belegung der Quartiere durch. In den drei Mannschaftskabinen stand nur jeweils eine unbelegte Koje zur Verfügung, also würde ich einem der Temps die freie Koje in meiner Kabine für ein paar Tage überlassen müssen.

Ich entschied mich für den Filipino; er machte einen fröhlichen, aufgeweckten Eindruck und schien der Intelligenteste der Truppe zu sein.

„Irgendwelche Fragen?“ Die Männer zuckten die Schultern und sahen sich an. Einer fragte: „Wann gibt’s was zu essen?“, und die andern lachten. Ich auch.

„Haltet euch gut mit Enrique. Das ist unser Smut. Er hat die Schlüssel zum Paradies. Also kommt, ich zeig euch, wo ihr schlafen werdet.“

Ich führte die kleine Gruppe hinunter zu den Mannschaftskabinen und wandte mich noch einmal um, bevor ich dem Ersten seinen Schlafplatz anwies: „Dienstbeginn ist morgen früh sechs Uhr. Zum Appell nachher um zwölf braucht ihr nicht zu erscheinen. Um vierzehnhundert legen wir ab. Du hier, du hier und du hier“, ich wies die beiden Malaien und den Vietnamesen auf ihre Kojen ein, zeigte ihnen ihre Spinde und drehte mich dann zu dem Filipino um: „Du kommst mit mir.“

Er folgte mir zu meiner Kabine, die sich in einem Parallelgang zu den Mannschaftsunterkünften befand. Ich schloss auf und sagte über meine Schulter, „ich hab keinen Zweitschlüssel. Will sehen, ob ich morgen einen kriegen kann. Aber wenn nicht, macht das auch nichts. Hier gibt’s sowieso nichts zu klauen.“ Er lachte leicht.

„Komm rein. Das da ist deine Koje, und hier drüben ist dein Spind.“ Er sah sich kurz um, stellte seine Reisetasche auf das Bett, öffnete die Reißverschlüsse und begann sie auszupacken.

Mir gefiel, dass er seine Sachen ordentlich in die Spindfächer räumte, seine Hose und ein Hemd säuberlich auf einen Bügel hängte und die leere Reisetasche schließlich hinter seine guten Schuhe in das unterste Spindfach schob. Er verschloss den Spind und drehte sich zu mir um. „Fertig.“

Ich nickte und stand auf. „Ich muss rauf aufs Hauptdeck, falls wir noch Ladung aufnehmen müssen. Du kannst hierbleiben oder mit mir kommen, wie du willst.“

„Nee, ich komm mit.“ Nach einem kurzen Zögern streckte er seine Hand aus. „Ich heiße Angelo.“

„Ja, ich weiß – und ich bin Rick.“ Ich ergriff seine Hand. Sie fühlte sich fest und trocken an, und sein Händedruck war kräftig.

„Ja, ich weiß“, grinste er.

Auf dem Weg zum Hauptdeck fragte ich in der Funkbude nach, ob noch irgendwelche Frachtaufträge gekommen seien; es gab keine. Um die verbleibende Zeit zu überbrücken, zeigte ich Angelo die Bedienungselemente des achteren Ladegeschirrs, und er schien interessiert zu sein, stellte ein paar Fragen und fasste die verschiedenen Hebel an, ohne sie zu bewegen.

„Ist das dein Beruf, das hier?“, fragte er.

„Ich will ein Kapitän werden“, erwiderte ich, „aber dazu muss man erst eine Menge Erfahrungen sammeln. Deswegen bin ich hier. Und du? Bist du ein Seemann oder willst du einer werden?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich mach das hier nur, um mir ein bisschen zusätzliches Geld zu verdienen. Will mit einem Kumpel eine Autowerkstatt aufmachen. In Davao.“

„Ist das, wo du herkommst?“

„Ja – Davao. Ist auf Mindanao.“ Er lehnte sich mit seinen Unterarmen auf die Reling und schaute auf den leeren Lagerplatz hinunter. „Ich hab immer Autos geliebt. Als kleiner Junge hab ich Matchbox-Autos geklaut, Dinky-Toys, Corgy-Toys, was immer ich in die Finger kriegte“, er lachte leise, „Hauptsache, Autos –“

„– und Hauptsache, du tust, was du gerne tust“, ergänzte ich, „dann wird auch was draus.“

Er nickte langsam und nachdenklich. „Danke“, sagte er dann leise, „sowas kann ich gut gebrauchen.“

Er richtete sich auf und sah mich an. „Und du? Ist das dein Ding, zur See fahren?“ Noch bevor ich antworten konnte, schüttelte er den Kopf; „Nee, ich glaub, das wär nichts für mich.“

„Wieso das?“

„Na ja, ich mein’ – immer unterwegs, immer weg von zuhause, von den Freunden – hast du eine Familie?“

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Altersbeschränkung:
18+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
25 Mai 2021
Umfang:
260 S. 1 Illustration
ISBN:
9783948397227
Verleger:
Rechteinhaber:
Автор
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