Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5

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Solange diese Feigheit vorherrscht, hat man, wie miserabel immer die Zustände in der DDR seien, auf empfindsames Naserümpfen gegenüber Ulbricht, auf diese so beispiellos ideenlose Haltung des Als-ob-es-ihn-nicht-gäbe nicht das leiseste moralische Recht: nicht einmal die freiheitlichen Institutionen, auf die man ihm gegenüber pocht, hat man sich selbst je erkämpft, und wenn sich die Zustände drüben nun sogar innerhalb des Ostblockes durch ihren besonderen Grad an Unfreiheit und an menschlicher Dürftigkeit auszeichnen, so sollte man doch wenigstens nicht so tun, als würde man, wäre die Zonengrenze seinerzeit weiter westlich geraten, sich jetzt weniger ducken als zur Zeit die geknechteten Landsleute; man duckt sich, außer man heißt etwa Herterich13, in jedem Fall, schon aus angestammter Gewohnheit, auch ohne es im Sinne unmittelbarer Existenzbedrohung geradezu nötig zu haben, und im Gegenteil also, gerade mit der unverbrüchlichen Einheit der Nation muß der Sachverhalt um die DDR ja irgendetwas zu tun haben. Man hat aus der Divergenz bestimmter Teile des hüben wie drüben vorwaltenden Vokabulars, einer rein technischen Divergenz, die vor allem substantivische Begriffe für verschiedene Einrichtungen der beiden Staaten und ihrer ideologischen Jargons betrifft, zu Unrecht ein Auseinanderwachsen der Sprache selber gemacht. Festzuhalten bleibt aber gerade die Austauschbar- und Verwechselbarkeit, mit der aufs lächerlichste heute noch, nach neunzehn Jahren der Trennung, das Gerede des Apparats in den beiden Republiken sich gleicht.

Ein Wort wie Einmütigkeit schwellt heute noch, bald ein Menschenalter nach Hitler, dem Durchschnittsdeutschen das anderweitig so langsame Herz, weit entfernt ist er, sich zu schütteln, wie er doch sollte, wenn er es hört oder anwendet: Beschlüsse, das ist seine feste Überzeugung, sind umso besser, je einmütiger sie gefaßt werden, auf nichts so sehr wie darauf, so scheint es, kommt es ihm an – und nicht offen voreinander zwar stehen also hierzulande die Menschen, aber doch geschlossen immer hinter etwas, in ordentlicher, militärischer Formation, so daß, da die Größeren vorn sind, die Kleineren nicht einmal sehen können, was es denn dort, wo die Spitze ihres Aufmarschs verharrt, jeweils nun ist, wohinter sie eigentlich stehen, abgesehen von der Nackenmuskulatur der Vordermänner, deren Energie eine imposante sein kann. Es ist eine Versimpelung, zu sagen, daß der Durchschnittsdeutsche kein Interesse an Politik habe, wahr ist im Gegenteil, daß er immer auf Weisungen von ihr harrt, auf das Aufbauende, Positive, wie die Wörter lauten, womit er immer eine Marschrichtung meint oder einen Spruch, der ihn erbauen kann, und daß er die Politik also braucht; wenn auch nur als das braucht, was sie nicht ist, eine magische, leicht schluckbare Droge, die ihn wundersam seinen Verhältnissen, womöglich gar sich selber entrückt; da er gerade vom Einfachsten an ihr, von ihrer unabdingbaren, stillen Voraussetzung: daß er selbst er selbst sei, immer noch nichts weiß und nichts ahnt. Nachdem sich das militärische Wesen mit dem seinen aufs gründlichste amalgamiert hatte, hat er das Amalgam noch zuletzt in seine Vorstellung von Politik eingebracht, also aber in diese selbst, deren Wesen es so vergiftend konträr ist, daß es nun so ruhelos darin umgeht und so beunruhigend, wegen der Katastrophengefahr, wie ein tatendurstiges Burggespenst, das in den Kontrollturm eines Flughafens sich verirrt hat und dort in seiner beispielhaften Einsatzbereitschaft den Start- und Landeverkehr zu regeln nicht säumt. Was, wenn für ein politisches Tun oder Lassen überhaupt gar kein Argument mehr namhaft gemacht werden kann? Ei, das bringt uns nicht in Verlegenheit, denn es gibt da immer noch ein Wort, unser Alleinbesitz unter der Menschheit, es lautet staatspolitische Notwendigkeit. Was, um von der Notwendigkeit ganz zu schweigen, dieses staatspolitisch eigentlich heißen soll, dieses pleonastische polis-politisch, wenn wir bei Licht es betrachten, ist freilich völlig unbegreiflich, und ein Versuch der Übersetzung ins Französische oder Englische scheitert denn auch auf der Stelle; wenn trotzdem fortgesetzt, führt er zu höchst schwerfälligen Konstruktionen, deren Abgeschmacktheit in Paris oder London auf der Stelle ins Auge springt, während das Wort hierzulande eben dazu dient, ich verweise auf die Vorgänge während der Koalitionskrise nach der ›Spiegel‹-Affäre14, als alle, aber auch alle, der an bestimmten Verhandlungen Beteiligten es gebrauchten, eben das ins Auge Springende zu verbergen, nämlich das nachgerade erschütternde Maß der Ideenlosigkeit, ja Ratlosigkeit, in welcher die Politik in der Bundesrepublik Deutschland versteinerte. Aber zweifelt eigentlich einer von uns daran, daß auch in der DDR viel von staatspolitischen Notwendigkeiten die Rede ist? Die Voraussetzung für eine Wiedervereinigung, soviel wenigstens kann jetzt schon über dies Ereignis gesagt werden, ist die Zerstörung der Einheit im Schlechten, in der Welt und Sprache des Unmenschen, die sich hüben wie drüben erhält, da sie viel zu tief gründet, als daß selbst Mauern und Allianzen sie im leisesten beeinträchtigen könnten.

Noch ganz unbegriffen ist das ungeheure Maß der Verheerung, die das Nazitum in der deutschen Seele und Gesellschaft unserer Gegenwart hinterließ; und doch ist es eben solche Nivellierung, wie sie jene anstrebten, anrichteten, die sich jetzt überall zeigt, in dieser gedankenlosen Lust am Klischee, am terminologischen Ramsch, wofern der Ramsch nur ein geregelter ist, in dieser Berauschung an Wörtern, die keinen Sinn haben, aber emotionale Assoziationen erwecken, und zwar Assoziationen immer mit einer Abwehr- und Frontstellung, sei es des Westens gegen den Osten oder dieses gegen den Westen, denn auch die Funktionäre im Osten sind ja sehr typische Landsleute; es sind keine importierten Russen, wie erfolgreich auch die Sprachregelung das verschweigt.

Der Nihilismus Hitlers hat zwar nicht auf die Weise gesiegt, daß er die Deutschen ins Nichts führte, unbestreitbar aber auf die, daß er sie aufs nachhaltigste der Herrschaft der menschlichen Nichtigkeit unterwarf, und wenn wir alte Nazis15 in der Rolle von Staatssekretären16 oder Bezirkspräsidenten17 und dann und wann alte Massenmörder in der Rolle höherer Polizisten18 erblicken, so fügt das dem Bild eigentlich nichts hinzu, sondern bestätigt es nur in seiner Häßlichkeit und seinem menschlichen Elend. Nun wäre aber die Hoffnung nicht die Hoffnung, wenn sie nicht in dieser Hoffnungslosigkeit paradox ihren Stachel und ihren Anreiz gewönne – und Elemente der Hoffnung gibt es in dem Bilde durchaus, wenn auch keine Gründe für Optimismus, der ja etwas anderes ist. Schon daß die alten Nazis mit den bestehenden Verhältnissen und ihrem Interessengeflecht vermöge ihrer Pensionen19 viel zu innig verfilzt sind, um eine noch so durchschaubare Scheinfront von Opposition gegen die Verhältnisse jetzt mimen zu können, unterscheidet ihre Lage so stark und unsere im Hinblick auf sie so vorteilhaft von der um 1930, daß aus der genannten Ecke nichts Dramatisches zu befürchten ist, sondern eben nur weiterer Rückgang in geschichtliche Unerheblichkeit des Landes und seines Geistes und Daseins; welche Unerheblichkeit die Katastrophe freilich schon selbst ist, aber eben eine uns geläufige Katastrophe und mithin keine Bedrohung, die neu wäre. Elemente der Hoffnung aber liegen weiter in dem sich ausbreitenden Unbehagen an dem Zustand und an allen Einrichtungen des Staates und der öffentlichen Leblosigkeit, die ihn trägt oder mit ihm paktiert; in dem geschichtlich so begründeten Mißtrauen, das wenigstens ein Teil der Jugend, eine Minderheit, die nur noch zu wenig aktiv ist, gegen die Welt der Älteren hegt, schließlich aber gerade in der Kraßheit des Kontrastes zwischen diesem Zustand des Dahinvegetierens und den ins Zukünftige weisenden Bewegungen aus der Vergangenheit der deutschen Geistesgeschichte. Die Rolle in der Welt, die diese Deutschland anraten, ja ihm vorzeichnen, wäre eine der Vermittlung, des Brückenbauens, der Friedensstiftung und der beispielgebenden Realisierung der Freiheit; aber schon die Konzeption einer solchen Rolle setzt voraus, daß sie glaubwürdig, also spontan wäre, vom Willen der Menschen selber getragen, und solange diese in dem vegetativen Zustand verharren, bleibt selbst der mögliche Anfang solcher Verwandlungen ein Gespinst der Geschichtsspekulation.

Wo halten wir also? Seine Chance einer politischen Revolution hat Deutschland, wahrscheinlich für immer, verpaßt. Seine Chance, eine Revolution der Politik heraufzuführen, bleibt ihm erhalten, aber schon die Vorstellung eines solchen Umsturzes, wieviel mehr noch dieser selbst, muß mißglücken, außer eine Vermenschlichung des deutschen Normalverhaltens, eine erneute Menschwerdung des Durchschnittsdeutschen, bereite ihn vor.

Was zu zeigen versucht wurde, bedeutet zunächst, daß die Arbeit der wenigen, die in Deutschland neue Verhaltensmodelle setzen, also ein Beispiel geben können, weit entschiedener und furchtloser werden muß als bisher. Maxime ihres Handelns wäre die Entgötzung aller Ordnungen, die eine Unordnung verbergen, also ihren Grund vor der Autorität des Gewissens und des Geistes nicht zu benennen vermögen. Dazu gehört der Staat selbst, soweit er nichts als eben nur Staat ist, nur Inbegriff der bestehenden Verhältnisse und ihres Anspruchs, bestehenzubleiben, und ferner das ganze so verödete Zeichensystem des sozialen Prestiges. Dazu gehört vor allem auch die gesamte Welt der mechanischen Arbeit und ihres Zubehörs, des jetzt verabsolutierten Verdien- und Konsumzwanges.

 

Außer sie beginnen zu Hause, mit einer Umwälzung in den Menschen selbst und in ihrem Verhalten zueinander und zum Staat, müssen alle wünschbaren politischen Veränderungen ausbleiben. Ihr kleiner Anfang, der zu machen bleibt, liegt in einer neuen Differenzierung des eingeebneten Zustandes, den uns die Nazis vermacht haben. Die Einübung der Zivilcourage, die diesem Anfang den Weg weist, gelingt nicht ohne das denkbar tiefste Mißtrauen gegen jede Art von Beschwichtigung wie von Beschwörung, gegen jeden Versuch, einen Consensus zu oktroyieren, anstatt mit dialogischer Geduld darauf hinzuarbeiten, daß sich der Consensus ereigne.

Diese Arbeit, die an Sprachregelungen nicht ihr Genüge hat, sie vielmehr zerstören muß, wo sie auf eine trifft, ist seit Sokrates, seit Jesus, die Aufgabe des Geistes im Abendland überhaupt. Die Entscheidung, vor die die Gesellschaft in Deutschland gestellt ist, lautet dahin, ob sie dieses Sachverhalts, dieser Ursprünge wieder eingedenk zu werden bereit ist oder es weiterhin vorzieht, die Arbeit des Geistes als Zersetzung sprachreglerisch zu verfemen.

Der Zersetzer ist seinem Wesen nach weder ein Parteigänger und Propagandist noch auch je ein Verunglimpfer, der das eigene Nest, wie eine bekannte Rede will, böswillig besudelt. Vielmehr schlägt er gerade dessen Auslüftung und Reinigung vor, was freilich voraussetzt, daß er die Zustände, die darin walten, beleuchtet, aber nicht er kann schließlich dafür, wenn es keine erfreulichen sind. Allerdings treibt er keine Volkserbauung, so wie keine der erwähnten ihm zur Last gelegten Betätigungen: diese ganze Dürftigkeit überläßt er neidlos der Misere, die vorherrscht und die ja nicht faul ist, ihrerseits ihn zu verunglimpfen, nämlich einen wurzellosen Intellektuellen zu nennen, welches Wort richtig verstanden sein will: es bedeutet einerseits, wenn wir durch die Unfreundlichkeit, als die es gemeint sein muß, gelassen hindurchhorchen, daß der Betreffende seinen Verstand gebraucht und das auch von andern erwartet, anderseits, daß er, anders als der Funktionär, nicht bereit ist, sich in der je herrschenden Sprachregelung, der je herumliegenden Ideologie zu verwurzeln, in deren geographischen Machtbereich ihn das Schicksal oder auch ein Zufall verschlug. Der Geist soll zersetzen, bis er auf etwas trifft, was ihm standhält, was er achten und verehren kann, und also, das sollten wir festhalten, ist ein Mensch, der nicht zersetzt, obwohl er es den Sachverhalten nach sollte und seiner persönlichen Anlage nach könnte, einfach ein Verräter am Geist und am Menschlichen selbst, ein unwahrhaftiger Mensch und ein moralischer Feigling. Nur als Illustration hierzu darf ich kurz daran erinnern, daß auch die Furcht vor der Zersetzung, die entrüstete Anklage gegen sie, ja die gleiche in Ost-Berlin ist wie in bestimmten Kreisen in Bonn; wenn das anders wäre, so kämen die beiden einander ja nicht so gelegen, auf so augenfällige Art wie gerufen, wie sie doch, mit jedem Jahr klarer, es tun. Wer denkt und das Gedachte ausspricht, also mißliebig ist, wie seit den Nazis das Wort lautet, wird vom Apparat früher oder später abgehalftert, und der verblasene Jargon, in welchem die Indignation des kommentierenden Apparates sich ausdrückt, ist dort wie hier gleich, immer hat er es mit der Höhe unserer geschichtlichen Aufgabe und der Ebene echter Bewußtseinsbildung und dem innersten Wissen um die Dinge und der Volksnähe und der Aufzeigung dieser Volksnähe und mit dem Materialismus oder auch dem Antimaterialismus und diesem und jenem sonstigen Ismus, garantiert sinnentleert dem jeweiligen Gebrauch dieser Wörter nach, aber doch gehobene Sprache und also zweifellos von argumentativem Gewicht. Insoweit Deutschland 1964 eine durchaus einheitliche Banausokratie ist, kann von seiner Spaltung keine Rede sein; ergo wird von seiner Wiedervereinigung erst die Rede sein können, wenn die genannte Herrschaft im Osten wie im Westen gestürzt ist.

Ehe man das eigene Haus nicht in Ordnung gebracht hat, der Staat also nicht ein solcher ist, in welchem ein verfassungstreuer Beamter, der die Öffentlichkeit über fortgesetzten Bruch der Grundrechte unterrichtet hat, öffentlich geehrt anstatt staatsanwaltlich verfolgt wird, kann die Ordnung, die man nicht schuf, in die Welt hinaus zu wirken nicht anfangen, denn aus dem Sächsischen ins Rheinische oder Schwäbische übersetzt und aus dem Jargon der proletarischen Eintracht in den der karolingischen, ist sogar eine Ulbricht-Rede ja nichts, was durch seine Dürftigkeit im Bundeshaus etwa auffiele. Erst wenn die Ohren viel empfindlicher geworden sind, zum Beispiel gegen die eigene Neigung, die Freiheit zwar redend zu feiern, aber keinen Gebrauch zu machen von ihr, vielmehr eben vor ihrem Gebrauch, den man dann einfach ihren Mißbrauch nennt, die Leute zu warnen, hat man selbst Ulbricht gegenüber, wie immer kläglich er auch sei, eine Chance. Zuletzt ist es Öffentlichkeit selbst, die in Deutschland also endlich hergestellt werden müßte; denn die Ansätze dazu, die sich in der ›Spiegel‹-Affäre zeigten, drohen schon wieder im Gewohnten, den Beschwichtigungen und Beschwörungen, zu versanden20. Den deutschen Journalisten vor allem müßten die anderthalb Jahre seit damals eine Lehre sein, wachsamer und kritischer zu werden, härter, anspruchsvoller an den Staat und seine Diener, kurz, polemischer. Auch der Wert des Polemischen ist ja, trotz Lessing21, in unserem Lande in einen Unwert verfälscht worden. Man ist, wenn man nicht wie die meisten einfach um die heißen Breie herumschleicht, immer noch häufiger hämisch als boshaft, zumal das erstere das leichtere ist; wenn man gelegentlich wieder Lessing läse, würde der Unterschied, ja das kontrasthafte Ausschließungsverhältnis zwischen diesen beiden Haltungen einem klarwerden. Staatsaufgabe der Presse ist, das Regieren so unbequem zu machen wie es ihr nur irgend gelingt, nicht für die Regierten wie hier geschichtsüblich, sondern endlich nun für die Regierenden, und in der Erfüllung dieser öffentlichen Aufgabe steht der deutsche Journalismus noch ganz am Beginn.

Da es leichter ist, sich zur Zivilcourage zu bekennen, als sie zu haben, können wir einen absurden Verein aus diesem Mangel und jenem Bekenntnis manchmal auf der gleichen Zeitungsseite, ja in einem und demselben Leitartikel entdecken, und immer brennender stellt sich also die Frage, was es denn menschlich eigentlich auf sich hat mit einer Eigentümlichkeit von so tiefer Unausrottbarkeit und so landesweiter Verbreitung. Nicht bedeutet, wie wir alle wissen und wie seinerzeit der zwanzigste Juli 1944, dann wieder der siebzehnte Juni 1953 gezeigt haben, dieser Mangel an Zivilcourage im geringsten einen solchen an physischem Mut, auch nicht an impulsiver Gefühlsreaktion gegen allzu unerträgliche Unterdrückung, wohl aber an jenem moralischen Mut zur Entscheidung, ja zumeist schon zur Unterscheidung, ohne dessen spontane Präsenz im Menschen es ihm gerade an nicht locker lassender politischer Durchsetzungskraft fehlt; diese hat ja nichts mit der Gewalt, auch nicht in erster Linie mit gewaltsamem Widerstand gegen diese zu tun, sondern gerade mit der Zivilcourage, als dem Widerstand gegen alle Gewalt. Dieser Mangel, erst an Unter-, schließlich an Entscheidung, geht aus nichts so klar hervor wie aus dem verschiedenartigen Schicksal, das in den vergangenen anderthalb Jahren in Deutschland und in England der Anschwindelung der Nation durch je ein Kabinettsmitglied bereitet wurde. Angesichts solcher Unwahrhaftigkeit im Parlament besteht die Antwort der englischen Öffentlichkeit darin, dem betroffenen Minister22 das zu bescheren, was Lord Denning in seinem offiziellen Profumo-Bericht, dessen deutsche Ausgabe kürzlich erschien, in die schlichten Worte zusammenfaßt: His disgrace was complete23; die der deutschen, einschließlich ihrer Presse, sich wieder abzuregen, so ziemlich alles beim Alten zu lassen, für die Anzeichen ihrer Erregbarkeit aber, die sich bei dem Anlaß gezeigt haben, sich herrlich und groß zu dünken, auf ihrem Rosse von Holz24.

Unbegriffen ist in Deutschland die Solidarität der Frondeure, ohne die es, in einer Demokratie, ein öffentliches Leben nicht gibt: unbegriffen etwa von den Dienern öffentlich-rechtlicher Anstalten, deren Kollegen, da sie Standvermögen, also das Vermögen gezeigt haben, unparitätisch, aber wahr, auf irgend jemandes Hühnerauge zu stehen, sich plötzlich auf der Straße befinden, wenn auch noch so bald darauf in der Redaktion einer zahlungskräftigen Illustrierten25; die Zurückbleibenden könnten doch en bloc ihren Rücktritt anbieten, die Mächte hinter der Szene, schließlich sind sie feige, würden schon nachgeben, die Anstalt die Peinlichkeit fürchten, sicher nicht von heute auf morgen zumachen wollen, der Standfeste also, wie auch die solidarischen Kollegen, bliebe im Amt; ein Angriff auf die Öffentlichkeit selbst, nämlich auf die Artikulation der Ideen, welche deren ewige Voraussetzung ist, wäre öffentlich abgeschlagen, und vielleicht würde sich das Beispiel herumsprechen, würde Nachfolger finden. Warum, um dieser Linie noch ein wenig zu folgen, gibt es den Universitätsstreik nur in Frankreich, sogar noch im Frankreich de Gaulles26, nicht aber, angesichts so trauriger wie nachgerade lächerlicher Zustände an den Hochschulen eines Landes, dessen wissenschaftlicher Ruhm in der Welt noch vor einem halben Jahrhundert nun schon längst wie eine ferne Sage erscheint, auf seiten deutscher Professoren und Studenten? Sie kommen, wie sie mir selbst gesagt haben, gar nicht auf eine solche Idee, denn sie wollen ja ihre Karriere nicht gefährden, und insofern, als alle Politik mit der Wahrnehmung des eigenen Interesses beginnt, nicht etwa mit politischen Diskussionsabenden, scheinen sie sogar politisch zu handeln, vielmehr nicht zu handeln – aber sie scheinen das nur: was für ein verdummter Begriff vom Interesse selbst nämlich ist das, der seinen Inhaber, ohne daß er auch nur reflektiert, hinter die Öfen der Duckmäuser treibt, wo die Verfügungen eines Kollektivgeschicks, dem er nicht in den Arm fiel, ihn dann doch noch zuletzt, in seiner unsplendiden Isolierung, ereilen?

Ohne eine Entdeckung der Solidarität, also der Gemeinsamkeiten des Interesses durch die der Stimmung nach Oppositionellen in Deutschland, gibt es keine Möglichkeit der Frondenbildung und also keine der Demokratie; gewiß nicht in einem Land, dessen Parteiengefüge so versteinert ist, daß nur die unablässige Attacke auf eben diese Struktur, von außerhalb wie von innerhalb der Parteien, nicht aber neue Parteigründungen, überhaupt noch eine Chance haben kann. Nicht die weltanschauliche Vereinzelung, dieser ohnmächtige sogenannte Individualismus, der in der Weimarer Republik zu einer Parteienlandkarte geführt hat, deren Zersplitterung an die politische des achtzehnten Jahrhunderts erinnerte, kann etwas ausrichten, sondern nur die Entdeckung der genannten Gemeinsamkeiten und eine entschiedene Revision des heute viel zu eng verstandenen Interessebegriffs selber im Licht der Vernunft. Das bedeutet deren Abgrenzung einerseits gegen eine sich technisch verstehende Ratio, die vielleicht auch unter uns schon auf Organisationsrezepte lauert, als gäbe es gerade deren in Deutschland nicht eher schon immer zu viele – ja als müßten nicht dort, wo es präzise um die Ablegung von Krücken geht, wie der Homo politicus bis heute sie in Deutschland gebraucht hat, zuallererst gerade solche Krücken versagt bleiben; die Abgrenzung der Vernunft also einerseits gegen ihre technische Pervertierung, anderseits aber gegen jene Feigheit, die da glauben machen will, man könne in Deutschland letzten Endes eben doch nie was ändern: eine Theorie, die sich selbst gern für vernünftig ausgibt, sich bis heute aber immer nur unter der eisernen Bedingung bewahrheitet, daß sie, cum grano salis, eben immer schon von allen geglaubt wird, ein ihr gemäßes Verhalten aller also für ihre eigene Verifizierung schon sorgt. Was ist der erkenntnistheoretische Status von Theorien, die sich unter der Bedingung bewahrheiten, daß sie allgemein für wahr gehalten werden? Was immer er sein mag, offenbar ist es, in dem Augenblick, da eben dieser Sachverhalt durchschaut ist, mit ihrer Wahrheit zu Ende.

Gegen diese beiden eben umrissenen Mißverständnisse der Vernunft wollen wir die unsere bitte panzern; und im übrigen nach den Direktiven handeln, welche sie je nach unserm Interesse, das nur durchgedacht zu werden beansprucht, und nach den Möglichkeiten unserer Position in der Gesellschaft uns eben empfiehlt. Indem wir diesen Direktiven der Vernunft gehorchen, handeln wir dem Prinzip der Einübung des Ungehorsams nicht entgegen, da wir uns dann und nur dann mit uns selbst in Übereinstimmung befinden, das Wort gehorchen soeben also nur zum Zweck einer gleichsam grammatischen Klärung, Orientierung unseres eigenen Willens gebraucht wurde. Im übrigen seien wir mißtrauisch gegen jenen so landesüblichen Ton einer patriarchalischen Erbaulichkeit auf seiten bundesdeutscher Politiker, der mit Sicherheit anzeigt, daß unser Bewußtsein manipuliert werden soll, am mißtrauischsten aber, wenn immer wir das Wort Bindungen hören, mit dem Konstrukteure von Ersatzreligionen unsere Vernunft gerne einschläfern möchten. Da die Politik mit der Wahrnehmung unserer eigenen Interessen beginnt, kann sie ferner auch nicht zugleich, einem hierzulande eingewurzelten Glauben zum Trotz, mit platonischen Totalentwürfen neuer Staats- und Gesellschaftsordnungen beginnen; gerade auf diesem Wege kommen solche Ordnungen nie zustande, und nicht um derartige Entwürfe handelt es sich also, sondern einfach um die radikale Ermöglichung einer offenen Gesellschaft in Deutschland; also die Rückgängigmachung Adolf Hitlers.

 

Der in den alten Demokratien traditionelle Geist der Fronde, deren Stil und Methode zu solchem Zweck geübt werden will, ist gegenüber den angestammten Formen der sogenannten politischen Willensbildung etwas anderes, zunächst Landfremdes. Um die Fronde gegen sie abzuheben, sie zu verstehen, müssen wir die zuletzt genannten noch etwas mehr beleuchten, uns also noch einen Augenblick bei den genannten Selbstmißverständnissen der Vernunft aufhalten. Der Mensch, der in der Überzeugung verharrt, daß in Deutschland nichts geändert werden könne, läßt praktisch entweder alles laufen, wie es im Bereich der öffentlichen Dinge eben läuft, oder er überantwortet sich der Organisation, die ihm seinen Interessen am nächsten zu kommen scheint, ohne zu bedenken, daß sie schließlich nur sein kann, was er selbst aus ihr macht oder andern aus ihr zu machen gestattet. Auf diese Weise spielen das technische und das erkenntnistheoretische Selbstmißverständnis der Vernunft einander dauernd in die Hände, denn die Organisation, als Organisation, macht sich nach Parkinsons Gesetz27 immer selbständig, folgt ihrem Eigengewicht, ihrer Trägheit, setzt organisatorisches Fett an – und die vermeintlichen Träger ihres Willens sind dann schon bald dessen Objekte, sind Material eines Funktionärapparates; völlig gleichgültig, ob die Organisation sich wie früher mehr weltanschaulich oder wie heute mehr interessenverbandsartig verankert, in jedem Fall verankert sie sich in ihrer eigenen organisatorischen Existenz, welche die Mitglieder der wahren oder angeblichen Interessengemeinschaft bald ihrerseits zu gängeln, zu manipulieren beginnt. Dieser Sachverhalt entspricht aber nur dem Prinzip der Menschenorganisation selber, nämlich dem Mißverständnis der Politik als eine Technik der Seelendressur. Dieses Prinzip kann mit dem der Freiheit um keinen Preis in Übereinstimmung gebracht werden, und wahrhaft schizophren wird der Zustand denn auch dort, wo die Freiheit gleichsam Aushängeschild ist: ein bequemer, entweder nie oder schon lange nicht mehr durchdachter ideologischer Wortfetisch.

Mit Organisationsrezepten ist es demnach nicht getan, sondern es muß in unserm Lande geradezu vor ihnen gewarnt werden. Die Alternative aber ist nicht Michael Kohlhaas28, der in seiner Vereinsamung ohnmächtig bleibt und dies Schicksal zuletzt ja verdient, da er nur das eigene Recht, nicht auch das seiner Mitmenschen sieht, das ganze, unteilbare Recht aber demnach – das ist an ihm das Furchtbare – überhaupt nicht. Auf national-internationale Verhältnisse übertragen: er sieht das Selbstbestimmungsrecht der Ostdeutschen, das der Bantu in Südafrika aber nicht und wird über die Ohnmacht seiner Formeln auch für Ostdeutschland daher nicht hinauskommen. Nein, die Alternative ist nicht Michael Kohlhaas, sondern eben die Fronde angelsächsisch-romanischer Derivanz, deren politischer Stil eine Art Bewegungskrieg ist, sie organisiert sich zu einem Zweck, löst sich nach dessen Erfüllung gleich wieder auf, gewährt sich selbst gar keine Gelegenheit, Fett anzusetzen und zu einem Selbstzweck zu werden.

Ihre menschliche Grundlage ist spontane Solidarität mit den Mitmenschen, und also kann man ihre Sache nicht betreiben wie nach Hölderlin der »allberechnende Barbar«, den in Mitteleuropa Hyperion vorfindet, eben seine Geschäfte betreibt29 – selbst die Entdeckung der Gemeinsamkeit des Interesses, von der vorhin die Rede war, kann im wesentlichen, in der von einer Unzahl von Unwägbarkeiten, Unvoraussehbarkeiten durchflochtenen Praxis, keine Sache der Ausrechnung sein, und sie soll das auch moralisch gar nicht sein; sondern sie entspringt, wo immer sie geschichtlich in Erscheinungen von irgendwelcher Tragweite tritt, nur einem wagemutigen Gefühl für Recht und Wahrheit, einer risikobereiten Identifizierung mit der Lage und den Interessen der Mitmenschen. Wem das unvernünftig vorkommt, der ist dem technischen Selbstmißverständnis der Vernunft bereits erlegen, denn er sieht die Welt, einschließlich der Menschen in ihr, als ein von berechenbaren, manipulablen Objekten bevölkertes Beobachtungsfeld, nicht als eine intersubjektive Menschenwelt, und demgemäß wird er selbst bald ein so berechenbares, manipulables Objekt und noch im besten Falle eben die Ohnmacht des Michael Kohlhaas sein Los. Umschreibend und also beschönigend könnte man sagen, daß ihm über den objektivierenden, den theoretischen und technischen Funktionen der Vernunft deren ethische, praktische, von der Unmittelbarkeit des Gewissens bestimmte Seite vollständig entfallen ist und er also die gesamte Welteinrichtung übersieht, der geschichtlich glücklichere Gesellschaften als die deutsche, vor allem aber ja die Hauptvölker des Westens mit ihrem so revolutionären Geschichtserbe, die ganze Beständigkeit ihrer politischen Sitten, ja ihrer nationalen Traditionen, verdanken; direkter und nicht länger beschönigend, daß er auch noch die Freiheit, die ihm geliehen ist und als Aufgabe von ihm bestanden sein will, als Sicherheit, als Besitz, mißversteht – und es weder also mit seinem Menschentum noch vermutlich denn mit seiner Zukunft weit her ist: außer es widerfährt ihm, und zwar bald, was die Psychologie einen Aha-Moment nennt, eine Einsicht von verwandelnder Macht; wie begründet aber ist diese Hoffnung? Wie stark kann sie bleiben, wenn selbst den gebildeten Bundesbürger jetzt der Zustand vor allem der Rechtspflege in seinem Land nicht mit der Scham, die er verdient, und dem Zorn, der es den andern weitersagt, erfüllt – die Scham sich also gar nicht ausbreiten kann und der Zorn keine Chance erhält, Änderungen, die die Bundesrepublik zum Rechtsstaat machten, Bonner Trägheit zum Trotz wenigstens in absehbarer Zeit zu erzwingen?