Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5

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Die Alimente der Alma Mater

In dem Maß, in dem die Argumente der Diffamierung zusammenbrechen, auch der Angriff auf den Unterbau des intellektuellen Widerstands nicht verfängt, wird ihr eigener Bau von selbst sichtbar: was sie bewegt, was sie ist, ergibt sich, wie wir erfahren konnten, aus einer Analyse dessen, was sie sagt. In seiner immer gleichen Zugehörigkeit zum Apparathaften am Apparat springt der von Gehlen verklärte Typus in beiden Nachfolgestaaten Bismarckdeutschlands in jedem öffentlichen Aufgabenbereich in die Augen, ob diese nun auf der Politik, der Gesetzgebung und Rechtspflege oder den Schulen und Hochschulen ruhen; aber die Macht des Apparats über die letzteren, da sie auch die Juristen und Politiker formen, wird in ihrer noch unbegriffenen Hartnäckigkeit schlüsselhaft für das Gesamtphänomen. Es ist begreiflich und keineswegs auf Deutschland beschränkt, daß der prototypische Funktionär, da er seine Herrschaft immer konservieren will, es mit dem Konservatismus hält; weniger begreiflich und allerdings auf Deutschland beschränkt ist es, daß der Konservatismus so bedingungslos, ohne den Ansatz eines Gedankens, es mit ihm hält: in einem Maße, daß es das eben, was der Konservatismus seiner Idee nach doch sein will, nun endgültig in der Bundesrepublik, sieht man von einflußlosen Einzelgängern ab, nicht mehr gibt. Das Ausmaß der Herrschaft des Apparats und seiner Kopfgewohnheiten über das bundesdeutsche Schul-, Hochschul- und Forschungswesen wurde von Georg Picht in seinem Buch ›Die deutsche Bildungskatastrophe‹1 im Sommer 1964 gewiß noch nicht im vollem, aber in einem hinreichenden Umfang aufgedeckt, um den typologischen Kern der Misere dem öffentlichen Verständnis zu nähern; eine Abrundung des Gesamtbildes kam zur gleichen Zeit aus der Feder des Psychiaters und Kreativitätsforschers Paul Matussek (›Wie entfaltet sich das Genie?‹) in Nr. 30 der ›Zeit‹2. Wo der Apparatmensch, gleichgültig, ob er als Beamter in einem Kultusministerium seinen Führer überlebt hat oder als Ordinarius sich selbst, mit seinem eigenen Gegenteil, dem schöpferischen Geist, zusammenprallt, muß ebenso sein Ressentiment gegen diesen wie seine Macht, ihm Schaden zu tun, nihilistisches Ausmaß gewinnen; die finanzielle Unterernährung der bundesdeutschen Kulturinstitutionen leistet diesem Nihilismus Vorschub, dient ihm als Exekutionsmittel, erklärt das Verhängnis aber schließlich nicht zur Genüge. Da beides, die Aushungerung der Kreativität und der Hunger des Betriebs nach Selbstbehauptung, den gleichen Wurzeln in der Seele und der Gesellschaft entsprießt, können auf die Dauer beide Sprosse nur durch Angriff auf ihr Wurzelreich überkommen werden, auf jene institutionsbewußte Seßhaftigkeit, die dem Denker den Gedanken verdenkt. Nachdem Picht die gesellschaftlich sichtbaren Fakten des bundesdeutschen Zurückbleibens in der Welt, Matussek dessen Gesetze in der Seele selbst dekuvriert haben, bleibt keine Retourkutsche groß genug zur Fortschaffung der Evidenz aus der Welt, daß im nachhitlerischen Deutschland das Denken selber verdächtig ist; das Schlagwort vom Konformismus der Nonkonformisten3, mit dem neuerdings der Typus sich wehrt, bestätigt, wenn irgendetwas, die abhängige Beschaffenheit eines Geistes, der in seinen Reflexen immer so munter ist wie in seinen Reflexionen nie frisch.

Das der instituierten Autorität weder bedürftige noch an sie glaubende Element des Ereignisses, das das Kreative ist, ist dem Menschen der Veranstaltung von jeher unheimlich gewesen; während er dort aber, wo die Macht, der er diente, ihrerseits zum Geist ein Verhältnis, ihn in glücklichen Fällen auch selbst hatte, seinem Gegenteil mit jener Scheu begegnete, die bedeutete, daß ihm seine Selbstverabsolutierung mißlang, fiel diese Schranke im Deutschland des Hitlerstaates erstmalig fort. Der explizite Haß auf den Geist, der wie nie zuvor in der Geschichte sich in einer politischen Herrschaftsform etablierte, fand nicht wie andere Herrschaftsformen Mitläufer, er war die Ermutigung alles Mitlaufens überhaupt, daher ist die Gesellschaftsschicht, aus der dem bundesdeutschen Staatsapparat sich von Fränkel4 über Krüger5 bis zu Maunz6 zu rekrutieren so leicht fiel, bis in ihre innersten Zellen nun von mitläuferischem Wesen durchsetzt. Da bedingend für die Herrschaft dieses Typus die Unantastbarkeit der Autorität bleibt, welche die Untermittelmäßigkeit seit 1933 in beiden Teilen Deutschlands genießt, gibt es längst wieder Buntmützen in Marburg, unter der Gesamtzahl der Studenten aber nur sechs Prozent Arbeitersöhne: aus den seelisch noch unverbrauchteren Unterschichten könnten Begabungen nachwachsen. In diesem Zusammenhang von der SPD zu sprechen, wäre nach Pichts Dokumentation und Analyse ihrer Rolle in der einschlägigen Bundestagsdebatte, die zuletzt stattfand, höchstens beschämend; die Sozialdemokratie hat in ihrer Oppositionsrolle, sieht man ab von den Einzelstimmen der Abgeordneten Erler7 und Lohmar8, bis heute kaum weniger versagt als die Regierungskoalition.

Daß der Alma Mater Alimente gezahlt werden, ist keine Feststellung, die sich allein auf das Zahlenmaterial, das haarsträubend ist, gründet, sondern eine, die das von vornherein illegitime Verhältnis zwischen der Bildung und dem Bund reflektiert: je länger der Zustand währt, umso deutlicher wird, was seine konstitutionelle Bedingung bleibt: die Kulturhoheit der Länder erniedrigt die Landeskultur. Letzteres gilt cum grano salis, wobei das granum jedes Bundesland ist, in dem fortschrittlicherer Geist schon regiert; es gilt für die finanzielle Seite des Gesamtkomplexes und für das unheilvolle Ausbleiben zentraler Planungen für das bundesdeutsche Bildungswesen im ganzen, noch nicht aber, wie sich leicht einsehen läßt, für eine vergleichende Betrachtung des Stils: jenes nämlich, in welchem Kulturaufgaben etwa in Hessen gelöst werden, verglichen mit dem Bonner Stil, der die Mittel nicht aufbringen kann, die es freilich verlangt, den Parisern den ›Othello‹ zu zeigen, den Kortner inszenierte9; wohl aber die aufbringen kann, die unbedingt nötig sind, eine Hackbrett- und Jodelkapelle, die die Eingeborenen dann so komisch finden, freiwillig, glauben sie, wie sie tatsächlich ist, an einen westafrikanischen Strand mit frisch gebackener Souveränität zu entsenden, wo die deutsche Kultur nun in unverlöschlicher Erinnerung bleibt. In solchen Dingen war selbst Goebbels sowohl gebildeter als auch nachdenklicher. In vier Fingern ebenfalls völlig ohne Spitzengefühl, hatte er welches, bis etwa 1938, in dem in Deutschland immer ausschlaggebenden zweiten. Aber was kann man da tun? Wenn man Stücke inszeniert, kaum was, wenn man Student ist, vielleicht doch schließlich einiges, auf die so abgründige Frage kommt dieses Buch noch zurück.

Ehe sie eine Antwort finden kann, bleibt es wichtig, Picht zu lesen wie auch Matussek. Letzterer macht auf den Kampfplatz aufmerksam, den zwischen dem kreativen und dem institutionellen Menschen in verhängnisvoller Häufigkeit die Seele eines alternden Professors bildet, wobei der Kampf in der Regel so verläuft, daß die Kreativität zur Ideologie wird und das Institutionelle, hinter killer phrases verschanzt, zur Maxime eines Verhaltens, das die Kreativität sabotiert. Die Erkenntnis, Bloßstellung und Verpönung von killer phrases ist also ein vorbereitender Akt, den die Kreativen in Deutschland, wo sie abhängig von Institution bleiben, überall in Angriff zu nehmen keinen Tag länger zuwarten dürfen. Dieser Angriff könnte sogar entscheidend für den Gesamterfolg eines Kampfes sein, dessen Ziel schließlich sein muß, sich mit dem beobachtbaren Abbruch der Kontinuität des schöpferischen Geistes in Deutschland, der von Leibniz bis zu den Großen der Göttinger Physik10 kein Versiegen gekannt hatte und um den zuerst Ernst Robert Curtius sich vor dem Zweiten Weltkrieg so sorgte11, nicht abfinden zu müssen. Bei Picht bleibt alles, was seine analytische Sorgfalt beobachtete und durchdachte, zu lernen, seine Erkenntnis der Zusammenhänge nicht zuletzt zwischen Schulstatistik und Sozialpolitik, Einspruch zu erheben aber – den Nagold zu beschwichtigen nicht geeignet ist –, wo er dem Geltungsanspruch jener Dringlichkeitsleiter sich mindestens nicht klar widersetzt, kraft deren man Kolossalsummen in den Etat einer Verteidigung leitet, die bei ungebildetem Nachwuchs nie halten kann, was man sich von ihr verspricht. Dieser Einspruch kann nicht ausbleiben: so wenig wie einer gegen Pichts Feststellung, entscheiden könne nur der Politiker; eben er, das hat er gezeigt, kann es in der Bundesrepublik heute nicht.

Entscheiden kann nur der Politiker, der jedes Glied der Polis sein sollte, aber nicht ist. Solange er es nicht ist, hat er die Politiker, die er verdient, und gar nicht ihm, sondern seinen Kindern geschieht ein Unrecht, wenn in der ersten Klasse der Albert-Schweitzer-Schule in Ludwigshafen 71 Schüler sitzen12; wenn dafür gesorgt ist, daß es »Länder mit katholischer Mehrheit« sind, »die in den oben genannten Statistiken an der untersten Stelle rangieren«13; die Bundesrepublik in der vergleichenden Schulstatistik am untersten Ende der europäischen Länder, neben Jugoslawien, Irland und Portugal steht14; junge Wissenschafter zu Tausenden auswandern – die besagten Kindern dann auch noch als Hochschullehrer fehlen werden15; und wenn »der gemeinsame Wille aller Kultusminister« nun endlich das als Programm verkündet, was die Einsichtigen vor Jahren forderten, als es mit weit mehr Gewißheit vielleicht doch noch nicht zu spät war als jetzt16. Der oft gehörte Hinweis auf die Notlage, in welcher die Bundesrepublik anfing, verfängt nicht, weil er seit über einem halben Jahrzehnt nun ein allzu historischer ist, und der auf die Unfruchtbarkeit eines Wühlens im Vergangenen17 ist dort irreführend, wo eine Unbereitschaft, aus diesem zu lernen, immer noch zu unbestritten gegen die Zukunft und ihre Fruchtbarkeit wühlt. Auch wo er guten Willens ist, bleibt Kennzeichen des institutionellen Menschen sein anscheinend nicht heilbares Nachhinken, daher ist er selber das Hüftleiden, von dem der Staat befreit werden muß.

 

»Tun sie es nicht«, schreibt Picht über die Möglichkeit, daß die Regierungen und Parlamente in Deutschland weiter nicht handeln, »so steht schon heute fest, wer für den dritten großen Zusammenbruch der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert verantwortlich ist.«18 Gewiß, aber wer wird, in Deutschland, Regierungen und Parlamente je zu einer solchen Verantwortung ziehen? Mößbauer erhielt schließlich genau die Arbeitsbedingungen, die er verlangte; aber er mußte dafür erst nach Amerika gegangen und im Besitz des Nobelpreises sein, denn dies gab ihm jene geheimnisvolle, institutionshafte Aura von Macht, die deren Gläubige soviel besser als die unfaßbare Freiheit begreifen, welche dann Macht (in der Wissenschaft) dem Menschen, der sie hat, erst gewährt.19 Weiß der Institutionelle, wenn er sein Fernrohr auf den Mößbauer richtet, wieviel Sterne unter den Erstklässlern in Ludwigshafen oder sonstwo in Deutschland seinetwegen nie aufgehen werden? Er weiß es jetzt, aber eben noch hatte er es so nicht gesehen, und das seinetwegen bleibt auf jeden Fall zersetzend: also weiß er es immer noch nicht. Das ist das eine, was manch junger Akademiker, der ebenfalls den Mößbauer betrachtet, aus dessen Fall lernen kann, es ist aber vielleicht nicht das einzige: gibt es Möglichkeiten eines zweiten Mößbauer-Effektes völlig außerhalb der Physik, wenn gewiß auch in deren Interesse, die nur noch nie recht untersucht und in der Seele bedacht wurden?

Jedenfalls versteht der junge Mann jetzt schon, daß es mit dem Staat eine Bewandtnis hat, die mit dem, was er über den Staat gelernt hat, nicht völlig übereinstimmen kann. Dieser soll auch seine Sache sein; allein es ist mit ihm eine eigene. Was für eine, fragt er seine Kolleghefte, kann das sein?

Wenden wir uns dem Staat zu.

Der Staat als Obdach und Smog-Himmel

Nach dem einzigen Merkmal, in dessen Hervorhebung alle ungelehrten Definitionen des Staates, wie man sie durch eine Privatumfrage leicht ermitteln kann, übereinstimmen, ist er einfach das, was oben ist; oben aber ist so manches. Das Dach über dem Kopf ist es, und der Himmel, gegen den es ihn je nach Sachlage absperrt oder abschirmt, ist es auch. Oben und unten sind Perspektiven der Existenz, nicht der Erkenntnis. Ist man ganz hoch oben wie ein Raumfahrer, hört es mit oben und unten überhaupt auf, denn man unterliegt dann nicht länger der Schwerkraft, und ist man ganz tief unten wie die Mannschaft eines verunglückten U-Bootes, die verzweifelt, aber ganz vergebens wieder aufzusteigen versucht, so hören, während alles sonst es schon tut, nur oben und unten eine ganze Weile noch nicht auf.

Wo es um Menschliches geht wie den Staat, müssen die Perspektiven der Existenz in denen der Erkenntnis aufgehoben, bewahrt sein; sonst bleibt an dem noch so gut verstandenen Gegenstand der Bestimmung ein unverstandener Rest. Die gelehrteste Definition des Staates ist paradoxerweise gerade dann also, wenn sie zu seiner ungelehrten überhaupt keine Beziehung mehr hat, an der man die letztere wiedererkennen kann, noch nicht gelehrt genug, da sie den Menschen außer acht läßt, und unter diesem Gesichtspunkt sind die gelehrtesten, Hegels Bestimmungen des Staates: einmal als Wirklichkeit der sittlichen Idee1, sodann als die der konkreten Freiheit2, gerade philosophisch nicht zulänglich; es kommt ja, ob auch auf noch so aufhebende, durchschauende Weise, von oben und unten kein Sterbenswort in ihnen vor. Überhaupt sind die beiden Definitionen, denen eine Reduktion auf letzte Bedeutungsgehalte zugrunde liegt, keine solchen von anschaulich-räumlicher Art, in denen von Grenzen, von einer Struktur, die Rede wäre; das, im Normalfall, Häusliche am Staat, in weniger wohnlichen Fällen das Zucht- oder Schlachthäusliche seines Wesens, kurz, sein Ordnung-Sein oder -Sein-Sollen, ist nicht in ihnen enthalten, und das ist wieder in ganz anderem Sinn merkwürdig, denn auf Hegel beruft sich ja bekanntlich alles, was vom Staat in erster und in letzter Linie verlangt, daß er, wie ein Bienenstock oder auch ein leistungskräftiger Menschenvertilgungsbetrieb, eine Ordnung sei – ganz gleich, was für eine.

Wie kommt das? Die genannten Bestimmungen, beide aus Hegels Rechtsphilosophie zitiert, sind aufeinander angewiesen und in Wahrheit also eine: die Idee der Sittlichkeit setzt Freiheit, die Freiheit, um sich zu konkretisieren, das Walten jener, also einer allgemeinverbindlichen Vorstellung von dem voraus, was der Mensch und die Gesellschaft tun und lassen sollen, tun und lassen dürfen. Erst als Wirklichkeit der Freiheit ist der Staat in Ordnung, ist er überhaupt er selbst; das Kriterium der Ordnung, die er ist, ja das Kriterium darüber, ob er überhaupt so etwas wie eine Ordnung ist, deren Vorstellung man, paradoxerweise durch Hegels Mitschuld, hierzulande mit seinem Begriff schon immer zu automatisch verbindet, ist das jeweilige Maß, in welchem er die Freiheit verwirklicht.

Die Freiheit als alleiniger Daseinsgrund, ausschließliche Existenzrechtfertigung des Staates: warum konnten in Hegels Lehre aus dieser Einsicht, diesem Ansatz Konsequenzen erwachsen, die gerade auf das Gegenteil, nämlich auf eine Staatsvergottung hinausliefen, unter deren Folgen in und unter den Menschen in Deutschland wir heute noch laborieren? Soweit die Frage in diesem Rahmen geklärt werden kann, und sie kann das nur im Umriß, komme ich auf sie zurück, wichtig ist zunächst, daß dieses grundsätzliche Verhältnis zwischen der Freiheit und dem Staat Hegel zu seiner Zeit deshalb schon sehen konnte, weil die religiöse Wurzel des Staates bereits damals völlig abgestorben, die überirdische Begründung seines Autoritätsanspruches also unglaubwürdig geworden war und Vernunft und Gewissen allein diesen Anspruch noch begründen konnten. Vernunft und Gewissen nun, einem sehr typischen einheimischen Sprachgebrauch, ja einem jener Spruchbänder zum Trotz, mit denen in der Bundesrepublik nicht zwar die Fabriken und Straßen, umso dichter und reicher aber die Gemüter verhängt sind, sind keine Mächte, die die Freiheit etwa zügeln sollen; denn es ist diese ja kein Pferd. Vielmehr sind sie selbst mit der Freiheit identisch, sind am Bilde der Freiheit die entscheidenden, die konstitutiven Momente, nur wo sie walten, gibt es Freiheit, und wo immer gegen sie verstoßen wird, gibt es sie nicht. Dies bedeutet, daß nicht dort, wo Vernunft und Gewissen mit den Funktionären der Macht, die die Freiheit für solch ein Pferd halten, sondern dort, wo diese selber mit dem Sinn des Staates, dem sie dienen sollen, in Konflikt geraten, daß die sogenannte Zügellosigkeit, von der sie wie auf einen Knopfdruck dann immer zu reden beginnen, vor unsern Blicken erscheint: wie zur Zeit der ›Spiegel‹-Affäre der damalige Bundeskanzler erwies, als er in Vorwegnahme eines Urteilsspruches, der nun vielleicht nie mehr ergeht, einen unverurteilten Staatsbürger vor der Volksvertretung verunglimpfte3.

Da die Autorität des Staates auf Vernunft und Gewissen begründet ist, reicht sie genauso weit wie diese Begründung ihr zugesteht, keinen Zentimeter weniger weit; und keinen weiter. Theoretisch, dort wo Verstand und Redlichkeit sich paarten, ist das auch in Deutschland längst gesehen worden; wie kommt es dann, daß all das praktisch möglich geblieben ist, was täglich in unseren Zeitungen, sei es berichtet, sei es verschwiegen wird und wobei es gar nicht darauf ankommt, ob es die Regel ist, sondern darauf, daß es überhaupt vorkommen kann? Wie ist es möglich, um gleich schon ein verhältnismäßig sehr harmloses Beispiel zu nennen, das nur seiner besonderen, in Deutschland zu wenig empfundenen Lächerlichkeit wegen die Beachtung des Auslandes fand, daß zur Wiedereröffnung eines Staatstheaters in München der einzige weltberühmte Bürger der Stadt, welcher das Grundgesetz der Unsicherheitsrelation fand, nicht eingeladen wurde, der einzige weltberüchtigte Politiker, welcher zum Grundgesetz eine unsichere Relation fand, hingegen sehr wohl4? Wie ist es möglich, daß Maria Rohrbach nach vier Jahren unschuldig erlittener Haft keinen Anspruch auf Entschädigung hatte unter den bundesdeutschen Gesetzen5? Offenbar ist es, dort, wo man sie aus eigenem nie errungen, sondern von der westlichen Welt nur geschenkt erhalten hat, mit den freiheitlichen Einrichtungen nicht getan, sondern man muß sie sich dann nachträglich mit dem Erweis jener Freiheit erst verdienen, aus der sie, auf bekanntlich höchst revolutionären Wegen, in den drei Hauptnationen des Westens selber einst hervorgegangen sind. Solange man diese spontane menschliche Freiheit, diese Freiheit als Eigenschaft, nicht als Einrichtung, nicht dokumentiert hat, ist es auch mit den freien Institutionen noch nichts und ebensowenig mit einer durchsetzungsfähigen Politik gegenüber dem Osten; eine solche setzt nach aller Geschichtserfahrung voraus, daß man sich in der Welt einen gewissen Respekt verschafft: als Menschen, nicht als Landsknechte, Produktionsmaschinerien, noch so tüchtige und erfolgreiche. Solange die parlamentarischen Einrichtungen nicht selber mit menschlicher Freiheit, also jener Lebendigkeit des Gefühls für Recht und Wahrheit erfüllt sind, die, wie in England, einen Vorfall wie den vorhin genannten im Bundestag als von vornherein undenkbar ausschlösse, bleibt man mit allen entrüsteten Beteuerungen hinsichtlich des Menschenrechts in der DDR menschlich selbst leider unglaubwürdig, und die Bonner Politik, was immer über ihren Geist wie ihre Wirksamkeit etwa zu sagen wäre, doch die einzige den Westdeutschen in ihrem Zustand jetzt menschlich erreichbare. Die starren und sterilen Formeln, die Ulbricht so gelegen kommen wie dessen Sturheit schließlich der genannten Ideenlosigkeit selbst: diese Formeln, die man unter dem diskreten Lächeln der Menschheit hierzulande mit einer Außenpolitik verwechselt, müssen in der veränderten Weltsituation freilich immer deutlicher ins Hintertreffen geraten, da sie eigentlich nur noch bezeugen, daß man, was immer man sich selbst darüber einbilde, eine Änderung gar nicht anstrebt, ja sich gar keine mehr vorstellen kann; solange die menschlichen Vorbedingungen einer bessern aber in der Bundesrepublik nicht erfüllt sind, gibt es da allenfalls im Stil, nicht in der Substanz, auch schon Korrekturmöglichkeiten.

Ein Umbau der deutschen Verhältnisse kann nur Schritt um Schritt von innen nach außen erfolgen, durch Gedächtnis- und Gewissensstärkung, seelische Mobilisierung der Menschen – nie in umgekehrter Richtung: da hinter einer vorzeitig geänderten Politik weder Spontaneität der Ideen noch auch nur menschliche Glaubwürdigkeit stünden und sie in kürzester Frist also scheitern müßte, wäre sie überhaupt eben denkbar. Ein solcher Umbau wiederum beginnt aber gar nicht, solange mit den jetzigen Verhältnissen so viel Zufriedenheit herrscht, daß er gar nicht gewünscht wird. Im Unterschied zur materiellen Not, an der man gewiß ja nicht leidet, schafft eine Not der politisch-sozialen Kultur, diese ins Auge springende menschliche Häßlichkeit der allgemeinen Verhältnisse, insofern das viel schwerere Problem, als sie von vornherein auch genau jenen jetzt vorherrschenden Bewußtseinstyp heraufbringt, der zu ihr paßt, ihre Erkenntnis nicht zu leisten gewillt ist, sie vielmehr unkritisch und abgestumpft, ihrem Beharrungsstreben nur förderlich, sanktioniert. Das Gesamtbild wäre hoffnungslos, wäre der Mensch wirklich nichts als ein Produktions- und Konsum-Automat; würde mit der Zufriedenheit, die keine Änderungen wünscht, also nicht ein ansprechbares Unbehagen einhergehen, das, indem es sich zu klären, zu artikulieren verlangt, jener Anstrengung des Begriffes bedarf, die seit ungefähr hundertunddreißig Jahren in Deutschland nicht mehr geübt wurde6.

 

Schon damals wußte man ja, daß der Staat keine von oben eingesetzte Ordnung und gerade in Ordnung also nur dort ist, wo er die Prüfungen der Vernunft besteht; wie konnte aus ihm dann, innerhalb eines einzigen Jahrhunderts, jener Staat von Auschwitz werden, der in polarer Geschichtsantithese zu Hegels Bestimmung des Staates auf die absolute Verneinung des sittlichen Prinzips und der Freiheit selber hinauslief, die Idee des Staates also überhaupt und insgesamt so erschütterte, daß die geschichtlichen Folgen vielleicht noch nicht absehbar sind? Offenbar war an einem Vernunftbegriff, der alles Bestehende für vernünftig erklärte, ohne zu berücksichtigen, daß zum Bestehenden selbst, keineswegs nur in der Vergangenheit, sondern ganz gewiß auch jeweils in der Gegenwart, auch schon immer die Erregung seines Widerspruches und gerade das also gehört, was es verändern und umwälzen will, selbst etwas nicht in Ordnung, zwar wurde Geschichte nun nicht mehr als Verhängnis gesehen, sondern als dialektische Selbstverwirklichung der Freiheitsidee, diese aber war verabsolutiert, aus dem Menschen gleichsam herausgenommen, war für sich selbst und über den Menschen gesetzt, und auch die – inhaltliche – Umstülpung des dialektischen Gesetzes durch Marx7 änderte gerade daran durchaus nichts: auch in dieser Umkehrung fuhr das Gesetz fort, über dem menschlichen Geschehen, also der Geschichte zu schweben. Was ist ein Gesetz, hier sinngemäß nicht als Norm erlaubten Verhaltens, sondern als Prinzip von Geschehen verstanden, also wie in der Naturwissenschaft? Es ist eine Verneinung der Freiheit, und für diesen Punkt ist es völlig gleichgültig, ob die Doktrin, in der es figuriert, auf explizite Weise materialistisch ist wie bei Marx oder wie bei Hegel auf explizite Weise idealistisch; was geschichtlich geschieht, gilt in beiden Fällen als durch das Gesetz determiniert. Der Spontaneität der Vernunft ist in beiden Versionen kein Spielraum gelassen, und so können wir beiläufig hier verstehen, warum aus der Lehre von Marx, im Unterschied zum Bewußtsein der Träger der Amerikanischen und der Französischen Revolution, die aus der Spontaneität der Vernunft handelten, ja diese uns vorlebten, eine wahre Revolution nicht zu erwachsen vermochte; denn es ist ein sehr großer Unterschied, ob der Mensch sich nach einer als verbindlich erfahrenen Idee vom Guten und Gerechten verhält oder nach einer geschichtsphilosophischen oder auch wissenschaftlichen Theorie über seine eigene Rolle und Position im Prozeß des Geschehens.

Um die Spontaneität der Vernunft theoretisch abzusichern, bedarf es daher einer Reflexion über das Wesen des Gesetzes: des Gesetzes nicht als Norm, sondern als Determinant; also des Geschehensgesetzes. Charakteristischerweise für unser Jahrhundert ist diese höchst philosophische Reflexion von einem Naturwissenschafter, nämlich Max Planck, vollzogen worden; in dem Aufsatz über ›Scheinprobleme‹, der seiner wissenschaftlichen Autobiographie beigegeben ist, begegnet ihm auch die alte Antinomie zwischen der Notwendigkeit und der Freiheit8. Seine höchst geniale Lösung, die philosophisch nur einiger Klärungen und Vervollständigungen bedarf, essentiell mit dem Problem aber fertig wird, kann hier nur skizziert werden. Wo immer wir von Notwendigkeit, also einem Gesetz sprechen, blicken wir, und zwar von außen, auf einen überschaubaren Geschehenszusammenhang zurück, aus dem wir das Gesetz ableiten; wo immer wir an einem Geschehenszusammenhang selbst als Handelnde teilhaben, also nicht gleichzeitig schon auf ihn zurückblicken können, sind wir frei. Das Gesetz gilt der Konstitution seines Begriffes nach also nur für Prozesse, die entweder vergangen sind oder, das ist das Entscheidende hier, als schon vergangen vorgestellt werden können; was bei Prozessen innerhalb der Natur in Grenzen gerechtfertigt ist, bei Prozessen zukünftiger Geschichte, deren Vorstellung ihre Rechnung immer ohne den Wirt, nämlich die menschliche Wahlfreiheit macht, aber nicht im geringsten.

Verwickelt wird das Problem dadurch, daß diese nicht gerechtfertigte Vorstellung von der Aufhebung oder Einschränkung der menschlichen Wahlfreiheit durch das Geschichtsgesetz sie tatsächlich dann einengt und es also dieser Reflexion bedarf, um sie am Ende wiederherzustellen. Nachdem sie wiederhergestellt ist, ist es mit dem Anspruch des Staates, als Manifestation des Geschichtsgesetzes gleichsam unbesehen für vernünftig zu gelten, endgültig vorbei, endgültig aber beginnt nun der Anspruch an ihn, es zu sein – und was heißt das? Da er nicht länger als instituiertes Dauerverhängnis von Gottes Gnaden über den Menschen schwebt, sondern eben jene Ordnung und nur sie ist, die sie nach ihrem Vernunftgebrauch oder dessen Versäumnis unter sich einrichten, ist es an ihnen und ihnen allein, ihn vernünftig zu machen. Die Freiheit, welche die Vernunft ebenso postuliert wie voraussetzt, ist in Deutschland, wie wir schon sahen, aber kein Besitz, sondern immer noch eine Aufgabe; und so geht es denn um höchst Praktisches hier, nämlich um die Möglichkeit jedes Einzelnen, mit der Änderung, von der gesprochen wurde, endlich einen Anfang zu machen.

Begründet wurde bereits, warum sie nur von innen nach außen, nie in umgekehrter Richtung Aussicht hat: welches innen man gar nicht wörtlich genug nehmen kann, denn es beginnt nicht erst bei der Tätigkeit der politischen Parteien und Gruppen. Das innerste Innen ist hier vielmehr ein Durchschnittsbewußtsein, dem eben typischerweise in Deutschland der Staat immer noch kein selbsterbautes Obdach ist, das man nach Maßgabe des eigenen Interesses und seiner Übereinstimmung mit den Interessen der Nachbarn so vernünftig wie möglich erbaut, sondern nach wie vor eine Art Himmel, welcher über einen verhängt ist, wie gründlich auch diese Vorstellung, was ich eingangs ja ausgeführt habe, als mythologisch durchschaut wurde und auch vor dem Verstand, aber eben nur vor ihm, nicht mehr gilt. Die Seele beherrscht sie trotzdem noch – wie sehr, geht aus der Fortdauer der Rechtsgültigkeit einer einzigen so charakteristischen Bestimmung wie der unserer Strafgerichtsordnung hervor, die im Fall der Wahrscheinlichkeit eines Justizirrtums das Wiederaufnahmeverfahren nicht etwa vorschreibt, sondern es für zulässig erklärt9; von allen Residuen des Obrigkeits- und Unrechtsstaates in unserer Mitte ist diese vom Apparat, nicht vom Menschen her gedachte Formulierung eines der wichtigsten Gesetze wahrscheinlich das zynischste.

Wo der Staat theoretisch kein unendlich hohes Geheimnis, kein vom Himmel verfügtes Arcanum mehr, anderseits aber auch so offenbar noch kein Obdach ist, von Menschen menschlich erbaut und beherrscht – was ist er dort? Die Antwort lautet, ein verhängter Himmel, eine Art Essener oder Duisburger Smog-Himmel, der weder also wie der wirkliche einen unendlichen Blick aufwärts gewährt noch wie das Obdach gegen die Unbilden des letztern wirklich Schutz böte, vielmehr ist er, in einigen seiner entscheidenden Wesenszüge, dann selbst noch ein Verhängnis, eine zusätzliche künstliche Unbilde, welche die Schar der natürlichen nur vermehrt; wie denn auch die Duldung des Himmels-Smogs zu seinen eigenen Charakteristiken zählt. Es genügt, dies Thema vom Himmels-Smog, welchen Begriff wir in zweifachem Sinne hören können und in jedem von den beiden völlig richtig hören, hier bloß anzutönen, das heißt, es genügt für die Zwecke dieses Referats; im übrigen, wie der Bericht einer Gruppe deutscher Wissenschafter vor anderthalb Jahren bewies, wo es um die Zusammenhänge zwischen dem Smog und dem Krebs ging10, genügt ja kaum etwas, was in dieser Sache zu unternehmen wir etwa einen Impuls spüren sollten: eine Regung des Selbstschutzes gegen jene Art von Schicksal, in deren Erleidung uns die Fischbevölkerung unserer vaterländischen Flüsse voranschritt. Was solchen Selbstschutz noch erschwert, ist, daß die Trübheit dieser Gewässer jene der Seelen im Land um nichts übersteigt, wie sie sich in der Leisetretung eben solcher Zustände etwa in der Presse ja jeden Tag zeigt; noch in dieser beschwichtigenden, begütigenden, ob auch witzlosen sogenannten Humorigkeit, mit der zwar mancher Bart dort gewaschen, aber wenn möglich doch nicht naß gemacht wird. Diese Feigheit, die noch das offenbar Empörende vergolden muß, wie das Wort lautet, steht in einem noch zu wenig durchschauten Verhältnis zu ihrer eigenen krasseren Form, zu jener Form der Feigheit, wie sie zum Entsetzen auch der großen Zeitungen dann, welches Entsetzen dann aber gerade dort kaum am Platz scheint, gelegentlich in ihren Nachrichtenteil platzt. Solange zwar nicht das bessere, das es natürlich auch gibt, aber doch das Normalverhalten in Deutschland; auch immer noch, wie wir erkennen mußten, das eines Teiles der Jugend, nur die Alternative zu kennen scheint, entweder zu kriechen oder umzufallen: zu kriechen, unter Gewehrkolbenstößen durch Dreck, wie in Nagold, oder umzufallen, als Gerichtszeuge über die eigene Schande, wie dann im Prozeß über Nagold11, hat die Änderung, Umwälzung im Deutschen noch gar nicht begonnen; und wenn einem Ritter ohne Furcht und Tadel, dem hessischen Generalstaatsanwalt Bauer, als Kommentar über die deutsche Ärzteschaft und seine eigenen Kollegen um 1941, die die Heyde-Sawadesche Mordwelle unterstützten oder kaschierten, das Wort entfährt – ich zitiere nach einem Bericht aus dem ›Spiegel‹: »Das Ausmaß jener Feigheit kann man sich ja heute kaum noch vorstellen«12, so muß man ihn fragen, in welchem Heute er eigentlich lebt; das sich vorzustellen, was einen täglich umgibt, sollte ohne besonderen Phantasieaufwand schließlich gelingen.