Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5

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Damit entfiele schon die Basis für Gehlens empirisch unscharfe Anwendung, in den weiteren Abschnitten seines Vortrags, der Unterscheidung – deren Gültigkeit noch untersucht werden muß – zwischen dem Gesinnungs- und dem Verantwortungsethiker, die Max Weber unserer Zeit hinterlassen hat20: außer wenigstens die zweite jener Abgrenzungen, die Kenntnisse betreffend, hält Stich. Gerade sie tut es am wenigsten: die Grenzen des Begriffes verschwimmen, dieser Intellektuelle, soviel wird deutlich, ist einfach der gebildete Mensch. Daß er jetzt sehr viel seltener ist (unter den Leuten mit Schulbildung nämlich) als vor einem halben Jahrhundert, macht Gehlen für seine Beweisführung nichts aus, denn sein Bildungsbegriff selbst ist auf das Ziel der Deduktionen schon zugeschnitten, er argumentiert mit der Ausbreitung der Schulbildung, über ihren Qualitätsverlust verliert er kein Wort. So gelingt ihm, bis man sie sich reibt, die stupende Täuschung der Augen, die Intellektuellen seien eine Minderheit von Frustrierten, die in einer sonst verständigen Gesellschaft von Normalmenschen über Dinge, von denen sie nichts wissen, unbefugt Urteile abgeben – sind sie das? In Deutschland war der Intellektuelle, der Gebildete ohne Anführungszeichen also, nie kriegerischer als während der ›Spiegel‹-Affäre, nie, mit Gehlens Wort, unzufriedener, gereizter, seine Kenntnis der Sache aber – wie stand es um sie? Er hatte sie aus erster Hand, hörte an seinem Rundfunkgerät, wie jeder andere Staatsbürger, nur vielleicht mit trainierterem Urteil, also unterscheidenderer Kraft der Vernunft, seinen Regierungschef einen unverurteilten Souveränitätsteilhaber verunglimpfen, keinen Bundestagspräsidenten den Kanzler rügen, einen Minister (im »gouvernementalen Raum«!) sich bedrängt – und ziemlich folgenlos – um seine Verlegenheiten, Verantwortungen, herumschwindeln21 – unbereinigt blieb das alles, blieb es von Hamburg bis nach Spanien und bis hinunter zur Beschlagnahme von Material, das mit der Geschichte des Onkel Aloys, nicht einmal der Amtsführung seines Neffen zu tun hatte22: will Gehlen behaupten, keine tatsächliche Erfahrung vom Staat habe in jenen Tagen der Intellektuelle gemacht? Habe zu wenig Überblick gehabt – wo noch die Vorenthaltung des Überblickes, welche genau diejenige ist, die Gehlens Plädoyer gern vor nichtgouvernementalem Einspruch behütete, den Fall vollends überblickbar machte, politisch nämlich, für den Verstand? Was den Intellektuellen damals frustrierte, war keine »Schwachstrominformation«, sondern seine Ohnmacht, die Öffentlichkeit seines politisch unmündigen Landes bis zu dem Punkt zu erregen, an dem, wie in England (das zeigte wieder die Profumo-Affäre23) sich in solchen Fällen von selbst versteht, die Regierung, und zwar auf Initiative ihres eigenen politischen Lagers, über eine Sache gestürzt wäre, die ich lediglich ihrer Berühmtheit wegen aus einer Reihe verwandter, ob ihrem Eclat nach auch weniger krasser, herausgreife, mit dieser Probe aufs Exempel aber fällt die zweite der genannten Prämissen dahin. Wenn die Welt komplizierter, ihr Verständnis technisch schwieriger wird, so folgt für den Gebildeten daraus die praktische Notwendigkeit immer gründlicherer, schnellerer, umfassenderer Informationen, also gesteigerten Engagements im Weltgeschehen, nicht seiner Minderung, auf deren unverhohlenes Postulat die Erörterung dieses Soziologen hinausläuft: und zwar trotz seiner freundlichen Anregung am Schluß zu vermehrten Kontakten zwischen den sagenhaften Figuren, mit denen er den gouvernementalen Raum in so ehrfürchtiger Gebanntheit bevölkert wie die Urahnen der Sputniktechniker einst den extraterrestrischen, und den Intellektuellen in ihrem gewöhnlichen, vom Souverän jener Glänzenden, der freilich schläft, mit ihnen geteilten. Die Befürchtung besteht mit Grund, daß sie ihn aufwecken könnten, so daß erwähnte Kontakte, wie Gehlen sie sich denkt, denn in der Tat auch plausibel sind, nämlich am besten geeignet, Informationen über die Erhabenen durch solche von ihnen zu ersetzen: wie ein genau bedachtes Staatsinteresse, für dessen Definition die Regierung zuständig ist, es verlangt.

Wie aber, wenn die Neugier der Überreizten, die da weltfremd nach Macht gieren (nur an anderer Stelle »von bekanntlich sehr großer potentieller Macht« sind – Gehlen kann da nicht aufgepaßt haben), auch bei solchen Kontakten Wege geht, die das Programm gar nicht vorsieht? Es ist offenbar, daß Gehlens Marxismus, wenn er auch von ihm nichts wissen will (so daß man einerseits sich nicht wundern darf, daß es nicht allzu weit damit her ist, anderseits, daß er an ihm festklebt – da er eben nichts von ihm wissen will und eine Reflexion, die ihn davon befreien könnte, also gar nicht in Gang kommen kann), da dem Soziologen ein Schnippchen schlägt, denn ein wenig zu mechanisch verläßt er sich auf die bestechenden Effekte, die das Sein jener Parias auf ihr Bewußtsein doch sicher schon üben wird, in dem feierlichen Augenblick, da sie zum gouvernementalen Raum Zutritt erhalten und glanzgeblendet sich des Verdiktes erinnern, »daß heute Geist nicht mehr nobilitiert«. Es ist zweckmäßig, sich mit dem letzten Satz Gehlens nun zunächst zu beschäftigen, denn ein Urteil von der Form, daß Licht heute nicht mehr strahlt, Wasser heute nicht mehr naß macht: einen Paralogismus also, der ein analytisches Urteil verneinend den impliziten Anspruch erhebt, ein synthetisches zu sein, den Anspruch mit keinem Satzteil aber, der in dem analytischen nicht schon vorkommt, erhärtet, im Text eines Professors zu lesen, ist immer erhebend, wo nicht für das Herz, so nach populärer Berliner Auffassung umso sicherer doch für den Hut. Oder gibt es eine mögliche Umdeutung des »nobilitiert«, die dem Satz eine Chance läßt, indem sie genannten Begriff als verfälscht dann zwar voraussetzen muß, in ihrer unstillbaren Sorge aber, was Gehlen denn gemeint haben möchte, eine gewisse Ungenauigkeit des Ausdrucks als wissenschaftsbedingt ruhig in Kauf nimmt? Es ist so. Und nur leider ist es außerdem so, daß der Satz, wie zuvor als absurd vor der Logik, sich vor den Fakten dann als falsch erweist, denn für gesellschaftliches Ansehen, das einzig an diesem Punkt noch im Spiel ist, sind Einfluß und Stellung des Geistes in der Welt relevant, einschließlich der deutschen Welt, welcher Einfluß und welche Stellung nicht nur nicht schlecht sind, sondern in Deutschland jetzt zunehmen; nicht die Wertschätzungen eines begreiflicherweise ungern durchleuchteten Apparats, den genannte Zunahme so mit Sorge erfüllt, daß er sie leugnet.

Soweit er in Bonn stationiert ist, gehört gerade solche Vogel-Strauß-Politik zu seinen notorischen Eigenarten; soweit der Apparat sich in Gehlen selbst aber regt, und das tut er, ich komme noch darauf, seine eigenen Vorstellungen vom Staat stellen bei genauerem Hinsehen sich sämtlich als betriebliche heraus, sind die Äußerungsformen der Sorge noch neu. Seine Behauptung einer Unterprivilegiertheit der Intellektuellen klingt nach Frau Pannhoffs Kommentar zu ihrer Heye-Diagnose, es ist die Konzession, die seine distante Abgeklärtheit der Politik eines humanitärem ad hominem, der Beschädigung des Unterbaus durch Absonderung von Mitgefühl, macht; das Bild, das sich einstellt, wenn man sie liest, ist das eines in Deutschland Privilegierten, also eines Mannes mit erhobener Nase, der einem in Deutschland Unterprivilegierten, einem also, der die seine sich zuhält, mit der einen Hand auf die Schulter klopft, indes die andere, da sie den Erfolg dieser Trostspendung abwarten muß, in einer geräumigen Tasche steckt, über deren Inhalt zu mutmaßen keinen Reiz bietet. Auch innerhalb der Grenzen seiner Möglichkeit scheitert der Vulgärmarxismus dieses Theoretikers an einem peinlich das Selbst fliehenden Ressentiment gegen Nichtpraktiker, von dem er so verführt und befangen ist, daß er die Zurückgebliebenheit eben deutscher Praxis (nimmt man die Wirtschaft aus) gar nicht bemerkt, während er den Unterbau des Intellektuellentums aus dieser gleichen Tendenz doch recht falsch sieht, denn ökonomisch ist auch dieses eher im Steigen jetzt – Mangel an welchem Privileg ist gemeint? Offenbar an einem solchen, das eben der Apparat zu vergeben hätte, die institutionellen Mächte, solche Beweisführung aber dreht sich auf das unproduktivste im Kreis, denn da diese ihre Ruhe haben möchten, privilegieren sie nicht, sondern möchten sich loskaufen, zu achten bleibt darauf, daß ihnen das auch künftig mißlingt.

Manches klingt, als habe Gehlen sich (nach Intellektuellenart) in einem »Eigenreich der Phantasie« abgekapselt, ja als sei es auf dem Mond geschrieben, und zwar gleichermaßen seiner Luftlosigkeit halber wie seiner Entrücktheit: der Hinweis auf eine »sehr wache Rechtsschutzgarantie«, die die Aggressivität der bundesdeutschen Intellektuellen zunehmend gegenstandslos mache, ist von Kenntnissen aus erster Hand nicht getrübt, von den Rechtsfällen Ahlers, Augstein, Brühne, Dohrn, Ferbach, Issels, Manderla, Mariotti, Rohrbach und manchen andern24 kann der Soziologe, wie zu seinen Gunsten supponiert werden muß, nie gehört haben. Anderes stimmt wieder logisch nicht, ein Geist etwa, der für den Verkehrsgebrauch ausformuliert überall herumliegt, an anderer Stelle »Meinungs- und Gesinnungsschablonen folgt«, ist abermals ein trockenes Wasser, was schablonisiert herumliegt, ist gerade die manipulative Begrifflichkeit, die »jeden zweiten Beruf […] heute mit Rationalität und Wissen durchtränkt« und die Gehlen mit dem Geist nur leider durchweg verwechselt, da er genuin Nicht-Betriebliches anscheinend nicht ausdenken kann. Das abgerichtete Wesen, das nach Hyperion in seinem Fach bleibt, alles wie ein Handwerk treibt und sich ums Wetter nicht viel kümmert25, feiert in jeder Generation Urständ, es braucht immer neue Rechtfertigungsmasken, zu seiner gegenwärtigen Ideologie dient ihm die wachsende Kompliziertheit der Welt: diese überfordert das Bewußtsein, nicht des Amtsträgers zwar, da diesem ja Gott den Verstand gab, umso schlimmer aber das des Störenfrieds, dieser hartnäckigen Anti-Institution. Denn ein Risiko ist der Intellektuelle bereits, weil er institutionell nicht zu orten ist. In einer Gesellschaft, die unter Kontrolle ist, macht seine abweichende Phantasie ihn suspekt. Das Freistehende beunruhigt, das Ungebundene ist immer verdächtig. Aber was wäre an dieser Beunruhigung, und an dem Verdacht, den sie dann zur Welt bringt, so neu?

 

Es gibt Verteidigungen des jeweils Bestehenden, die auch noch ihrem eigenen Obskurantismus die Treue halten, und andere, die den Gedanken gerade an diesen allzu wenig aushalten können, so daß sie das Moderne immer umflügeln wie die Nachtfalter das elektrische Licht. Gehlens Lehre gehört den letzteren zu, sie ist Manual anonymer Steuerung, eines in geschichtlicher Wirklichkeit nicht verankerbaren Traums von Kontrolle, in ihr vollendet sich das Abwelken der Rationalität von ihrem Stamm, der Vernunft. Dort selbst, wo der Betrieb Rechte hat, in der Wirtschaft, die aber gleichfalls ja vom Geist abhängig bleibt, da Qualitätsverlust der Exporte schon die nächste Generation sonst bedroht, ist er kein Modell für den Staat, für die Meisterung der öffentlichen Dinge, denn es gibt keine Stellenwerte in ihm für die Freiheit, den Widerspruch und das Recht. Wie wenig Gehlen loskommt vom deutschen Haupt- und Staatsideal, daß alles klappe, zeigt er in einem Exkurs über Nagold, die Infamie dort wurde nicht etwa aufgedeckt, sondern gesetzt, die Zahl der Unteroffiziere, die sich verpflichtet haben, ist nach einem Bericht sogar der ›London Times‹ (man denke doch) seither gesunken, er reflektiert das gar nicht, es ist eine Betriebspanne, der einzig wichtige reale Effekt26. Klappte nicht auch Auschwitz? Gehlens effektives Unvermögen, mit der Vorstellung eines manipulativen Kriterien entzogenen Bereiches der menschlichen Dinge Ernst zu machen, zeigt am klarsten sich in einer Bemerkung über »engagierte Schriftsteller«, die in ihre freie Schriftstellerei sozialkritische Tendenzen »hineinnehmen«, sich folglich damit »rein künstlerischen Wertungen« entziehen: zitierter Nebensatz wird durch das folglich nicht schlüssiger, sondern erreicht nur jene Art Verständnis des literarischen Engagements, die der Erläuterungen nicht bedarf, da schon die Begriffssprache, die hier waltet, sie aufdeckt: sowohl in dem hineinnehmen als auch in den rein künstlerischen Wertungen aus der Ideenwelt sich abends fortbildender Garagisten. Auf eine Rechtsschutzgarantie, die in der deutschen Gesellschaft bestehen soll, haben wir den Blick schon gelenkt, von ihr spricht Gehlen in einem Satz über Menschen, »deren Bindung an dieses System bloß noch darin zu bestehen scheint, daß sie diese Freiheiten in Anspruch nehmen«. Bindung, System – der Ursprung dieser Wörter, in der hier statthabenden Verwendung, ist klar, an ihn wollen wir um keinen Preis rühren, wie steht es aber um ihren Sinn, meint etwa »System« nun das Grundgesetz oder gerade das Establishment, das dieses von Zeit zu Zeit bricht – und wozu anders gibt es denn Freiheiten, institutionelle, wie sie in dem Satze gemeint sind, als dazu, in Anspruch genommen zu werden? Man denke den Satz sich in Ländern, wo das Volk selbst sich solche Freiheiten einst gewann. Die Vorstellung mißlingt: sie glückt einzig, wo der Staat, wie in Deutschland, nicht Funktion menschlicher Freiheit ist, sondern umgekehrt deren Spender: wo er selbst also sie dem Volk erst gewährt (im Auftrag der Westalliierten), woraus freilich dann folgt, daß er der Zensor ihres Gebrauchs bleibt, für den Staatsbürger aber sich eine Alternative ergibt, sie »in Anspruch« zu nehmen oder auch nicht.

Ich weiß nicht, ob der Fortschritt konsumiert ist, wie Gehlen glaubt, wenn die Staatsanwaltschaft Duisburg ›Das Schweigen‹ für nicht unzüchtig erklärt27, schließlich wird weiterer Fortschritt gleich denkbar. Die Staatsanwaltschaft, freilich müßte das Gesetz geändert werden, könnte sich für unzuständig erklären und mit erläuternder Entschiedenheit dazu feststellen, daß sie mit einem Unzüchtigkeitsbegriff, der der lange nicht gereinigten Nachttischschublade Tartuffes entstammt und als einziger hier in Betracht kommt, da er einer Unzüchtigkeitsklage gegen einen Film von unzweifelhaftem künstlerischem Anspruch von vornherein inhärent ist, gar nichts zu tun hat, ihn bei Anklageerhebungen daher keinesfalls anwenden kann, und das deutsche Filmpublikum, freilich müßte es zuständig werden, könnte entdecken, daß der Film diesem Anspruch nicht genügt, und das nächste Mal nicht die Kinos stürmen; beides wäre Fortschritt, weit über die Endstation, bis zu der Gehlens Teleskop reicht, hinaus. Sein Wunschdenken geht da abermals mit ihm durch, er hat, in seiner Terminologie, ein »gebrochenes Verhältnis« zur Aufklärung, das Vorstellungsreich aber, das mit einem solchen Fall sich verknüpft, muß ein deutsches Privileg sein, denn der Betriebsgläubige ist schließlich der umgestülpte, in die Hypnotik einer Weltansicht, die aufs Klappen achtet, gewendete Träumer. Schaut er über die Grenzen seines Landes in die unterprivilegierte Welt hinaus, wo der Mensch Herr und Prüfer seiner Institutionen ist, nicht umgekehrt sie der seine, so springt sein Unverständnis des dort Vorgehenden sofort in den Blick: in Nachfolge seines Kollegen Schoeck rügt Gehlen die »Nordost-Intellektuellen der USA« für eine jahrelange Tolerierung des kubanischen Castro-Regimes, als habe sie zu jener Katastrophe geführt, deren Gefahr präzise der Freund und Konsultant dieser Nordost-Intellektuellen, John F. Kennedy, dann mit soviel Kaltblütigkeit meisterte28; da Gehlen, entweder aus Gefühlen, »von denen schwer zu sagen ist, ob sie nicht auch Hülsen sind«, oder als Opfer einer »Bewußtseinsüberforderung als allgemeiner Folge des technischen Informations-Potentials«, vielleicht aber auch einfach, weil er zu unpolitisch-einheimisch ist, um sich in den Zusammenhang zwischen jener Toleranz und dieser Kaltblütigkeit hineindenken zu können, den Ausgang der Geschichte unerwähnt läßt, schwebt seine Kritik in der Leere jener machtlosen Präokkupation mit der »Macht«, über die man am Rhein nicht hinauskommt und von der zu berichten bleibt, daß sie aufs erhellendste gerade dort bei ihm auftritt, wo er die Wahrheit – im Griff hat? Beinahe. Er läßt sie wieder entschlüpfen. Mit Fug nimmt er wahr, daß man aus einer gedrückten, eingeschnürten Lage, die er den »Intellektuellen« zwar andichtet, die aber unabhängig von solchem Gebrauch immer vorkommt, sein Ethos nicht »voll ausleben kann«, den Kampf aber, mit dem ein Mensch sich einer solchen Lage entwindet, beschreibt er als einen, nicht um Freiheit, sondern um Macht. Hier haben wir, in einem Kondensat von der Größe eines Würfels und der Schwere des Saturn, die deutsche Krankheit. Sie ist nicht Machtlosigkeit und Machtpräokkupation, sondern diese beiden sind eins. Natürlich kann man besagten Kampf auch als Machtkampf, also von außen beschreiben, aus der Perspektive des Objektivisten, aus der existentiellen aber, nämlich en situation, ist er Kampf nicht um Macht, sondern um Freiheit – und auch als Machtkampf muß er daher immer wieder verloren gehen, wo der Mensch gar noch sich selbst objektiv sieht, ihm die Freiheit also nicht zugänglich ist.

Zugeordnet einem so marionettenhaften Begriff von Objektivität ist ein autonom kalkulierendes, a priori vereinsamtes Ich, dem die Welt der Ort aller zu bewältigenden Widerstände ist, einer toten, nicht antwortenden Masse des Heterogenen; und also eine Grundansicht der Welt als eines »rationalen« Beobachtungs- und »technischen« Manipulationsfeldes. Von einer intersubjektiven Menschenwelt, wie sie sich der Vernunft gerade in ihrer Ursprünglichkeit, ja nur in dieser, erhellt, bleibt der Betriebsgläubigkeit nichts, und so kann weder ihr die Politik, wie sehr sie sich auch um sie bemüht, transparent werden, noch schließlich, nämlich in ihrer rasch wachsenden Angewiesenheit auf einen Menschentyp, der sich nicht selbst bereits technisch erfährt und bestimmt, die Welt der Technik. Der »philanthropischen Ethik«. (Gehlen), die einer intersubjektiven Menschenwelt entspricht, wachsen wenigstens im Abendland jetzt wieder Chancen zu, die für unseren Soziologen ein Bedarfsdeckungsproblem schaffen, wo er Kronzeugen aus dem Feindlager braucht: er kann es nur noch durch Zitatbeschwörung Mao Tse Tungs lösen, im Abendland verfällt derweil, wie er richtig sieht, der Glaube an Gott.

Nicht der »an die Ideale«. Auch das stimmt. Aber was hat er dagegen? Die Verhältnisse, gegen die die Ideale aufgerichtet werden, machen »eine schlechte Figur«. Das tun sie weiß Gott (vielleicht weiß er’s), aber wieso folgt daraus, daß die Ideale das Gewissen, das dann auf entsprechender Änderung der Verhältnisse insistiert, überfordern? Warum wird das Interesse der Vernunft, die »dunklen Seiten der menschlichen Natur« eben nach Möglichkeit aufzuhellen, von Gehlen mit einem Glauben gleichgesetzt, der kaum existiert, besagte Seiten »loswerden« zu können, was Gott verhüten möge (vielleicht tut er’s), und warum spricht ein Passus, worin ein Sachlichkeitsverkünder pastoral wird, gerade denen, die aus einem »Wissen um den dauernden Hintergrund kreatürlicher Not« soviel von solcher Not zu lindern wünschen, wie sie können, implicite gerade dies Wissen ab – mit dem sie ein rein mythisches »Wissen«, daß die Not immer mit »Erblindung« verbunden, daß sie »von Mensch zu Mensch unaufhebbar« sei, daß der »Handelnde« sowohl schuldigwerden als auch »in diesen Erfahrungen« verstummen müsse, zur Bequemlichkeit der »Macht« zu vermengen freilich gar keinen Grund sehen? Das alles sind non sequiturs. Aber es reicht.

Ein sequitur, wenn auch eines aus der ganz andern Kohäsionsordnung des offenbaren Interesses, der politischen Praxis, ist Gehlens Lob für die Sozialdemokratie, die er von seiner Kritik an den Intellektuellen mit zuviel Grund, Zweck und Durchsichtigkeit ausspart, als daß nicht doch Hoffnung bestünde, daß sie schließlich die Auszeichnung, und zwar mit der Tat, refüsiert. Fast wäre hier vergessen worden, daß am Eingang zu diesen Ausführungen eine Erörterung des Problems Willy Brandt stand, und es ist jetzt zweckmäßig, es sich zurückzurufen, denn eine Klärung liegt mir noch ob, zu klären bleibt die Gültigkeit der Unterscheidung zwischen den genannten zwei Ethiken, der Gesinnungs- und der Verantwortungsethik, auf welche sich Gehlen beruft. Solange die Techniker der Macht, und mit ihnen, wenn er etwa von Nagold spricht, Gehlen, Max Webers Memento vergessen, daß auch der Verantwortungsethiker der Gesinnung bedarf, bleibt es die Verantwortung der Gesinnungsethiker vor dem Staat, in die Bresche zu springen, nämlich für einen Zustand zu kämpfen, in dem der Unterschied so weit wie möglich erlischt. Es ist gezeigt worden, wie der Objektivist der Macht, der praxistrunkene Theoretiker eines Mensch genannten handelnden Wesens, eine menschliche Kampfsituation, in der es um die Freiheit geht, nicht begreift, damit aber begreift er das nicht, was allem Ethos zugrunde liegt und worauf alles hinauswill, denn die Auflösung der Politik in managerial relations mißglückt. Das heißt nicht, daß ihr Versuch, ob dessen Träger es sich nun klar gemacht hat oder nicht, nicht selbst Politik wäre, und es heißt vor allem nicht, daß er in einem Land, in dem der Verwaltungsbeamte, ob er nun nach halbgöttlichem Gutdünken oder hinter Schaltern schaltet, das Ultimum aller Zuständigkeit ist, wonach die neuere deutsche Geschichte denn auch ausgefallen ist und weiterhin ausfällt, nicht immer viel Aussicht hätte, zumal bei genügender Arroganz. Diese genügt in der Regel, und zwar in einer solchen, die es zunächst in diesem Land, wenn es eine Zukunft haben soll, zu brechen gilt: einfach indem man der Anmaßung die angestammte Erlaubnis, Eindruck auf einen zu machen, durch sein persönliches Verhalten, ein jeglicher an seinem Platz, jetzt entzieht. Als Göttinger Kompetente den damaligen Regierungschef warnten29, vor den Folgen einer Atomverteidigung Deutschlands, überfuhr er sie mit seiner angeblichen Kompetenz30, eine voraussehbare Eventualität, für die sie sich durchaus hätten rüsten können, denn im Unterschied zu der ihren war seine Zuständigkeit da gar nicht erprobt, sie hatten von dem, was einträte, die beweisbarsten Vorstellungen, er im besten Fall spekulative über die Zukunft einer Militärpolitik, die gewiß der Verhütung solcher Folgen durch die berühmte Balance der Furcht dient, von einer Unzahl von Variablen dabei aber abhängig bleibt. Es ist ferner gezeigt worden (und eben darum wird hier Willy Brandt nochmals wichtig), daß die Gesinnungsethik des Oppositionellen, der der Spekulation auf öffentliche Unreife entsagt, die einzige Verantwortungsethik ist, wo es etwa um die Bundestagswahl nächstes Jahr geht, ergo gibt es im Verhältnis beider Ethiken Möglichkeiten ihrer Identität. Max Webers Unterscheidung gehört einem Frühstadium (das abortiv endete) der deutschen Demokratie, ihrer theoretischen Selbstverständigung, an; man kann sie für ein vorgeschritteneres nicht ungeprüft, wie Gehlen tut, übernehmen, noch wie sie ist aber desavouiert sie ihre Verballhornung zu einem Blankoscheck für die »Macht«.

 

Und noch aus dem Grabe desavouiert der Spontanintellektuelle und Spontanoppositionär, als der die Person in Max Weber sich immer wieder in seinem Leben gezeigt hat und der gegen das Schlechte, das Rechtsbrüchige und das Unwahre jene Gehlen unverständliche Haßbereitschaft hatte, die dieser dem Geiste verargt, eine nicht antwortende »Verantwortungsethik«, die auf ideologische Verklärung des manageriellen Apparates hinausläuft, am sprechendsten dort, wo sie es am verschwiegensten tut: nämlich mit fingerfertiger Beiläufigkeit zwischen den »Intellektuellen« und den »Praktikern der gelehrten Berufe«. (die dort, wo sie unter anderm auch die Praxis voranbringen, in erster Linie Wahrheitsdiener, also gerade Theoretiker sind) eine soziologisch so einleuchtende Schranke aufrichtet, was das Aufrichten, und eine soziologisch so wackelige, was die Schranke selber betrifft. Für die Theorie der Diffamierung des Dagegenseins, als die Gehlens Vortrag vor den Unionsparteien sich in dieser Analyse herausstellte, hat man weder ein Recht, Webers Lehre in Anspruch zu nehmen, noch bringt einem dem Produkt nach solches Handeln letzten Endes Gewinn. Die Theorie ist gescheitert; wie sind die Aussichten der Praxis? In der immer neuen Eingestuftheit des Mitläufers überlebt und erhält sich in der deutschen Gesellschaft der Knecht. Die Einstufung mag niedrig oder hoch sein, der Knecht nur seine Schuldigkeit getan haben oder demnächst schuldig werden zu müssen aus kreatürlicher Not kaum umhin können, er mag Lochkartenmaschinerie oder Begriffe bedienen, in jedem Fall dient er verantwortungsbewußt, ist Institution und schließt an das Ganze sich an.

Das Ganze, da es weder ist, was es sein soll, noch werden darf, was es vielleicht andernfalls einmal sein könnte, ist ein Ganzes insoweit, als das Auge keines Neugierigen es (unverantwortlich) seines Ganzseins beraubt. Hierin liegt die Gefährlichkeit der Kritik als Seinsgesetz eines unterscheidenden Auges für den Knecht als für einen Menschen, auf den sein Nichts lauert, wo es mit dem Ganzen nichts ist. Daher das Ankuscheln an die »Macht«. Daher die Spekulation der Versuche, das Dagegensein zur Selbstaufgabe zu überreden, wo seine Abwürgung keine Siege verheißt; welcher Sachverhalt, einmal verstanden, manchem Oppositionsfähigen klarmachen möchte, daß es ohne seine Zustimmung auch mit dem Ganzen der Diffamierung nichts ist.