Lolitas späte Rache

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4.

Montreux, Dachsuite des Palace-Hotels.

Mitte Januar 1991.

Sie schwieg. Und schweigend ging sie die paar Schritte zum Fenster. Nahm sich in ihrer unnachahmlichen, in ihrer unerreichten Impertinenz den Teewagen, der aus gutem Grund, Himmel noch mal, aus sehr gutem Grund direkt neben Véras Sessel postiert war. Zog das Tischchen mit seinen quietschenden, eiernden Rädern irgendwo nach hinten. Richtung Kommode. Véra konnte es nicht sehen – abgeschirmt durch die Rückenlehne ihres Sessels –, nicht sehen, aber hören.

Offenbar am Ziel angekommen, räumte Belinda all die sieben Sachen, die sich in den letzten Tagen dort angesammelt hatten, vom Teewagen und überantwortete sie irgendeiner Ablagefläche, ja, das musste die Kommode sein. Stillschweigend. Auch die Frage, die selbstredend keine Frage war: »Was fällt Ihnen ein?!«, beantwortete sie nicht. Es war nicht zu fassen!

Dann kam diese unmögliche Person mit dem Teewägelchen, das wie ein ausgehungertes Katzenmädchen jaulte, wieder nach vorn geholpert, schob es vorm Fenster ein paarmal vor und zurück, bis sie offenbar die geeignete Position gefunden hatte. Augenscheinlich darauf bedacht, dass Véra nur mit Mühe würde daran vorbeisehen können.

»Sie können doch nicht einfach meine ganzen Utensilien – die brauche ich! – die können Sie doch nicht einfach mir nichts, dir nichts sonstwohin verfrachten! Außerhalb meiner Reichweite.« Véra Jewsejewna schleuderte giftige Blicke in Richtung Belinda. Blicke, die sie ebenso gut hätte nicht schleudern können. Die hinausschossen in den Kosmos, ohne noch das Mindeste auszurichten.

Belinda jedenfalls war mit ihrer Eigenmächtigkeit scheints noch nicht zu Ende. Sie machte sich an diesem Rokokostuhl zu schaffen, der eigentlich Gästen, gebetenen Gästen vorbehalten war. Schob ihn rüber, baute ihn neben dem Teewagen auf, um sich endlich mit einigem Gepolter darauf niederzulassen. Dann kramte sie in der ungestalten Reisetasche, die sie eben neben den Teewagen geknallt hatte. Zerrte mit virtuoser Umständlichkeit, als ginge es ihr in erster Linie darum, Véra auf die Folter zu spannen, ein Seil aus der sofort in sich zusammenfallenden Tasche. Zog, wickelte, zog. Bis der Strick, wie ein überdimensionales, komplett aus den Fugen geratenes Wollgewirr halb auf ihrem Schoß liegend, halb um die Arme geschlungen, aber in ganzer Länge ans Tageslicht gefördert war.

Véra Jewsejewna Nabokov hatte noch nicht ganz aufgegeben, diese Belinda als ein sprach- und sprechbegabtes Wesen zu betrachten. »Was machen Sie da, um Gottes willen? Soll das – soll das ein Häkelstündchen werden?«

Keine Antwort. Natürlich keine Antwort. Oder doch.

»Ruhe ma! Ick muss mir konzentriern.«

Und sofort hüllte sie sich wieder in jenes unerbittliche Schweigen, das sie für den Rest des Nachmittags nicht mehr brechen sollte. Diese Belinda hatte erstaunlich geschickte Finger, dass musste man ihr lassen, befand Véra. Jedenfalls hatte sie binnen kürzester Frist das Hanfseilgewirr so weit aufgelöst, dass sie es nach Seemannsart auf dem Tischchen aufwickeln konnte, um sich nunmehr das Ende des Seils vorzuknöpfen.

Véra fuhr der Schreck in die Glieder, unwillkürlich schob sie den Kopf weiter vor, stellte die entsetzt aufgerissenen Pupillen scharf: eine Schlinge! Grässliche Schlinge. Mit einem dieser sattsam bekannten Knoten. Der sich unter dem Windung für Windung herumgeschlungenen Seilende verbarg, jetzt aber unter Belindas Gefinger Zug um Zug freigelegt wurde. Ein – Véra versuchte, sich das Wort zu verbieten, aber es half ja nichts –, ein Galgenstrick! Ihr stürzte ein kalter Wasserschwall den Rücken hinab.

In ihrem Alter, an ihrem Alterssitz ein Galgenstrick!

Dem Staub nach zu urteilen, der aufstieg und flügge wurde – winzige Lichtgriesel, die in der Wintersonne glitzernd vorm Fenster auf und nieder tanzten –, dem Staub nach zu urteilen, musste das Seil Jahre, Jahrzehnte alt sein.

Eilends nahm Belinda ihre Handarbeit auf. Indem sie sich daranmachte, die Windungen, den Knoten, die Schlinge aufzulösen. Ihre zusammengekniffenen Augenschlitze verrieten, dass sie dergleichen filigrane Arbeiten eigentlich nicht mehr ohne Brille erledigen konnte. Blinzelnd und mit unendlicher Geduld aber friemelte sie das Seilende auf. Faden für Faden, Franse für Franse zerlegte sie den ganzen Strick in seine Einzelteile. Vollzog die Verflechtung der Hanfstränge gewissermaßen in umgekehrter Richtung. Versuchte, die verdrehten, verdrillten Härchen des Seilzopfes auseinanderzuzwirbeln. Versuchte, so weit es irgend ging, bis in die Tiefe der feinsten Zaseln vorzudringen. Eine Prozedur, die sich über Stunden hinzog, den kompletten Kreisbogen überdauerte, den die Wintersonne übers Firmament schlug. Und Belinda schwieg.

Dieses grauenhafte Schweigen als Begleitmusik einer so stumpfsinnigen wie schauerlichen Tätigkeit machte Véras Puls rasen, die ganze Ewigkeit dieses Nachmittags lang. Abschreckend, rätselhaft, angsteinflößend. Irgendwie bedrohlich. Das Einzige, was Véra wenigstens phasenweise beruhigte, war die Tatsache, dass dieses merkwürdige Teufelsweib die Schnur auffädelte, nicht zu einem Strick zusammenflocht. Kaum aber hatte sich Véras Blutdruck wieder ein bisschen gemäßigt, schoss ihr auf ein Neues durch den Kopf, was für eine Art Seil Belinda da zwischen den Fingern hatte. Und der offensichtlich steinharten Verschränkung der Fasern nach zu urteilen, mit der sich die entrückte Fadenzieherin unter Aufbringung einer Engelsgeduld redlich abmühte, der Härte des Seils nach zu urteilen, war es keineswegs jungfräulich. Hatte mit Sicherheit einen Hals geknickt, ein Genick gebrochen, einen Kehlkopf zum Schweigen gebracht. War ein Todesstrick.

Véra warf einen verstohlenen Blick auf die Armbanduhr.

Und prompt, wenige Augenblicke, bevor der Page klopfen und sie zum Abendbrot geleiten würde, raffte diese Hexenwalküre den ganzen Gefledderberg aus zerzupften und zerzausten Hanffäden vom Teewagen, vom Boden, aus ihrem Schoß und stopfte alles mit theatralischem Schwung in die Reisetasche. Und verschwand.

5.

St. Petersburg.

1908.

Auch ein Neunjähriger – zumal der Sohn eines stadtbekannten Juristen, sollte man meinen – wusste, was Recht und was Unrecht war. Wusste zu unterscheiden zwischen Für und Wider. Zumindest in etwa. Dass hier was nicht mit rechten Dingen zuging, das jedenfalls war ihm klar.

Herr und Frau Nabokov widmeten sich ›Repräsentationsgeschäften‹, wie der Senator sich auszudrücken pflegte. Will meinen: Sie trafen sich mit seinen Kollegen, um zu besprechen, wie sich das Protokoll fürs gemeinsame Erscheinen der renommierten Juristischen Gesellschaft beim Petersburger Opernball gestalten solle, und – lächelten sie vielsagend – sie mussten sich endlich mal wieder blicken lassen. Was wohl bedeutete, dass Nabokov ungezügelt mit den Kollegen fachsimpeln konnte, während seine Frau mit Ihresgleichen allerhand Neuigkeiten auszutauschen hatte. Worüber das Repräsentationsgeschäft Opernball womöglich in Vergessenheit geraten würde. Aber egal.

Die kleine Olga war mit der Gouvernante unterwegs, um ihre allerersten Gehversuche beim Ballettunterricht zu absolvieren. Und Vladimir Vladimirowitsch war ganz früh als Allererstes zur Schule gebracht worden. Salewski kam soeben zurück und spannte die dampfenden Rösser aus, befreite sie von Geschirr und Halfter und brachte sie in den Stall. Die nächsten paar Stunden würden sie ihre Ruhe haben. Die Pferde. Und Salewski.

Was er nicht wusste, nicht wissen konnte, war, dass Vladimir einen plötzlichen Anfall von Übelkeit erlitten hatte. Irgendwas war ihm auf den empfindlichen Magen geschlagen. Irgendwas hatte ihm binnen Sekundenfrist die Farbe aus dem Gesicht gezogen. Irgendwas hatte ihn in die Knie und seinen Kopf über den Eimer des Pedells gezwungen, über den Eimer mit graumilchigem Tafelputzwasser. Irgendwas hatte er aus sich herausschütten müssen. Und dann – unter Missachtung der Anweisungen von Mathematiklehrer Chlestakov und des Verbleibs seines Schultornisters – hatte der Junge die Beine unter die Arme und den nicht grade kurzen Heimweg in Angriff genommen.

Speiübel wie ihm war, einen beißenden, irgendwie stachligen Geschmack im Mund, vom schlechten Gewissen wegen des zurückgelassenen Ranzens und der zeternd stehngelassenen Mathe-Vogelscheuche geplagt, stapfte er mit seinen kurzen, aber flinken Beinen durch die regennassen Straßen der Stadt. Die endlos lange Ausfallstraße längs, durch die würdevoll stillen Seitenstraßen mit ihren schnörkelschmucken Villen der Industriellen- und Handelsunternehmerfamilien, bis er schließlich die Fassade des Nabokovschen Hauses aufleuchten sah. Und oben unterm Dach, zwischen den über der Traufe thronenden Türmchen das strahlende Fries: grünrote Blumenranken auf goldenem Grund. Das Haus mochte vielleicht etwas ungelenker und kleiner sein als die Prachtbauten im vorderen Teil des Viertels, dafür aber war es frisch angestrichen. Rotbraun das Erdgeschoss, strahlend grau die beiden oberen Stockwerke. Sogar Salewski – obwohl es definitiv unter der Würde eines Dieners in gutem Hause war, dafür aber entsprach es seinem Faible für alles Handwerkliche –, sogar Salewski war auf den Leitern und Gerüstbohlen herumgeturnt, hatte den Pinsel geschwungen und den Malern an Ort und Stelle Anweisungen erteilt, ebenso überflüssige Vorsichtsmaßregeln aufgestellt und deren Einhaltung gewissenhaft überprüft.

Aber dafür hatte Vladimir jetzt keinen Kopf. Nach einer halben Ewigkeit endlich schwankte er die Eingangstreppe hinauf, schepperte den Schlüssel ins Schloss, stieß die wuchtige, aber mit filigranen Barock-Arabesken verzierte Eichentür auf und schmiss seine tropfnasse Wolljacke über den unteren Garderobenhaken, der ihm zugedacht war. Und – blieb stehn. Vom Schlag gerührt. Natürlich war ihm klar, was es bedeutete, wenn sowohl der Überwurf des Vaters als auch der hermelinbesetzte Sonntagsmantel der Mutter nicht an der Garderobe hingen. Die Welt hatte sich gegen Vladimir verschworen. Die Welt seines Innendrin: seiner Magenwände, Speiseröhren, Speichelflüsse, was wusste er denn. Und die Welt des Außendraußen: derer, die seinen Kosmos ausmachten, die ihre Planetenbahnen um ihn zogen, die ihn einnordeten. Beschirmten und beschützen. Drechselten und formten. Zurechtwiesen und zurechtrückten. Die ihm Recht und Unrecht lehrten. Die ihm ›gedeihliche Genickschläge‹, wie sich der Vater ausdrückte, verpassten.

 

Regungslos bohrte der Knirps die kurzen Beine ins vornehme Parkett des viel zu großen, kalten Vestibüls. Die Arme hingen kraftlos an ihm herunter. Gänsehaut am ganzen Körper. Weil der Septemberregen natürlich nicht nur die Jacke, sondern auch die Weste und das Hemd, das Unterhemd durchtränkt hatte. Alles, eigentlich war alles klatschnass. Und jetzt fingen auch noch seine Augen an, nass zu werden.

Bevor sich Sturzbäche lösen und ebenfalls über seine kaltnasse Kledage ergießen würden, machte Vladimir einen Schritt. Machte zwei Schritte. Es ging noch. Er war nicht festgefroren. Er ging vorwärts. Keine Ahnung, wohin es gehn sollte, aber er ging. Leise. So leise sich seine quotschenden Schuhe auf dem quietschenden, nach frischem Bohnerwachs riechenden Holzboden fortbewegen konnten.

Schleichen, um des hohen Himmels willen schleichen! Nicht, dass er die finstren Geister weckte, die zwischen den Flügeln der Engelsputten oben unter der hohen Decke auf der Lauer lagen und unter Garantie hämisch grienten! Bloß, um sich im nächsten Moment auf ihn, den pitschnassen Vladimir mit dem aufgebrachten Magen, zu stürzen. Die sich mit der hölzernen Schlange da vorn verbünden und unsichtbar mit ihr um den Treppengeländerknauf kringeln mochten. Die garantiert hinterm Rücken des Pans lauerten, der den Eckpfeiler des Handlaufs beim ersten Treppenabsatz abgab, unbeweglich vor sich hinflötete und versonnen-versponnen lächelte. Die als grau wuselnde Plage in den Fuß- und Zierleisten komplizierte Gangsysteme anlegten, im Verborgenen bohrten und wühlten, das Mauerwerk durchlöcherten und ausmergelten.

Vorwärts schleichend – und schleichen konnte er, der gewiefte Schmetterlingsforscher – durchmaß er den großen Salon, umkurvte immer noch planlos den schwarzglänzenden Konzertflügel, blieb nicht wie üblich vorm Nymphen-Glaskasten des Vaters stehn, nahm keine Notiz von der Porzellanvogelvitrine der Mutter, bestaunte nicht zum abertausendsten Mal die Gemälde-, noch weniger die Fotogalerie der Altvorderen im Durchgang zum kleinen Salon, wo selbst der Samowar zum kalten Stillstand gekommen war. Er blieb nicht still stehn vorm Altar mit den drei Marien-Ikonen, den Großmutter aufgestellt hatte und Tag für Tag umsorgte. Huldigte nicht mit kontemplativer Andacht der Mutter Gottes; bemerkte bloß, dass die Kerze erloschen war. Womöglich grade erst. Der Docht bog sich kohlrabenschwarz auf dem leeren Teller des bronzenen Kerzenständers und schien noch leise zu schmauchen. Allüberall der Tod. El Dorado der quälenden, schwarzen Boten. So tot, bis in den letzten Winkel von niederträchtigen Gestalten der Unterwelt bevölkert, war Vladimir das ansonsten so pulsierende, das – bei aller elterlichen Strenge – immer irgendwie warmherzige Haus noch nie erschienen.

Er fror. Zitterte am ganzen Leib. Fror unter der eigenen Haut.

Als er plötzlich etwas hörte.

Ein Geräusch, das nicht passte. Nicht hierhin gehörte, nicht in diese moribunde Kälte einer Aussegnungshalle, in die sich das ganze Haus verwandelt hatte. Und wieder. Wieder das Geräusch. Knisterte, knackte, raschelte von oben aus dem Bibliothekszimmer, jener Terra incognita, jenem bei derber Prügelstrafe verbotenen Reich, jener versiegelten Geheimniswelt des Vaters. Dieses fremde, ungebührliche Knurpseln: Verlockung und Schrecken! Maßlos anziehend und brutal abstoßend. Zug und Schlag zugleich.

Nie, niemals hätte Vladimir nachgegeben und wäre dem Klang der Versuchung gefolgt, wenn nicht plötzlich dieses metallene Lispeln dazugekomen wäre. Ein eisernes Girren, das sich offensichtlich selbst zu verheimlichen trachtete: das winzige Klirren eines Schlüssels. Vladimir konnte nicht, konnte einfach nicht widerstehen. Die Gänsehaut zog sich augenblicklich glatt. Vergessen waren die überall herumlungernden Herolde des eisigen Jenseits, das hundsgemeine Frösteln unter den klatschnassen Kleidern, das dummdämliche Grinsen der speckigen Putten in ihren Stuckecken da oben, das in Wahrheit doch nichts als sündige Gelüste vertrat. Vergessen all das. Das Blut schoss zurück in Vladimirs Gesicht. Der Magen hielt sich geschlossen. Alle Sinne fixiert.

Und plötzlich bewegten sich seine Füße, die Beine. An unsichtbaren Fäden gezogen. Die Kunst des Schleichens, ohne drüber nachzudenken. Wohlwissend, wo auf der kurzen Treppe zum Erkerzimmer, zum Bibliothekszimmer die knarzenden Schwachstellen waren, wo er um alles in der Welt auf keinen Fall hintreten durfte. Die sechste Stufe ganz vermeiden! In Teufels Namen. Auf dem Treppenabsatz die scharfe Wende nach links. Von der Treppe abbiegen, wo er nicht abbiegen durfte. Noch nie abgebogen war. In drei Teufels Namen. Noch nie. Oder? Mit den Augen hatte er sich vielleicht, vielleicht mal vorgewagt, allenfalls mit den Augen, als man vergessen hatte, auch den letzten Türspalt noch zuzuziehen. Diese respekteinflößenden, lückenlosen Bücherwände, das bunte Glitzern der sonnendurchfluteten Erkerfenster: leuchtendes Rot, Heiligenscheingoldgelb, preußenfürstliches Blau, das auf den Buchrücken, auf dem Schreibtisch, dem plüschigen Lesesessel spielte. Die geheimnisvolle Glut des geweihten Refugiums, ›meines blauen Bernsteinzimmers‹, wie der Vater es zu nennen pflegte.

Vladimir fand die Tür nur angelehnt, öffnete sie einen winzigen Schlitz. Unternahm noch einen Versuch, sie einen Millimeter oder zwei weiter zu öffnen. Würde sie knarren, würde sie kreischen, wenn er sie so weit öffnete, dass er sehn konnte, woher dieses befremdliche Geräusch kam? Nein. Die Tür schwieg. Ließ es willenlos geschehn, gab stillschweigend nach, ging höchst geschmeidig sogar viel weiter auf, als Vladimir es mit seinem leichten Stubser beabsichtigt hatte. Als wollte sie bereitwilligst ihr streng gehütetes Geheimreich preisgeben, glitt die Tür auf und bot Vladimirs fiebernden Blicken den Hort der kirchenfensterbunten Traumwelt dar. Und gewährte ihm doch gleichzeitig ein Schutzschild, hinter dem er sich beim verbotenen um die Ecke Lugen verbergen konnte.

Doch alles – das Spiel der Erkerfenster, die geschlossenen Reihen der ledernen Bücher, der goldbrokatbezogene Schreibtischstuhl, das Hochheiligste des Vaters –, all das war es nicht, was Vladimirs Blicke magisch anzog, magnetisch auf einen Punkt bündelte, fixierte. – Salewski!

Salewski, der eben etwas in der Tasche seiner Livree-Weste verschwinden ließ, kurz, scheints irgendwie von irgendwem aus dem Konzept gebracht, schnelle Blicke nach rechts, nach links warf, dann die Tür des kleinen, tabernakelgleichen Wandtresors wieder schloss und den Schlüssel dreimal im Schloss kreisen ließ. Bevor er ihn schließlich wieder dem Versteck unterm doppelten Boden der untersten Schreibtischschublade anvertraute. Doch das sah Vladimir schon nicht mehr. Hatte sich – Kunst des Schleichens, ohne drüber nachzudenken – davongestohlen. Vollkommen aufgewühlt, nicht nur der Magen. Aber hartnäckig schweigend. Allenfalls mit Annabelle und Daschjenka ließ sich über dieses Ereignis reden.

6.

Wyra, 50 Werst südlich von St. Petersburg.

Landsitz der Nabokovs.

Sommer 1911.

Die alte Kiefer unten am Seeufer. Musste vor Jahrzehnten ihre Wurzeln in die Felsritze gebohrt haben. Anfangs nur ein vorsichtiges Abtasten, ein zufälliges Fingern, ein winziges Ausschlagen der Wünschelruten auf der Suche nach frischen Bodensäften. Dann das Verankern der haarfeinen Wurzeln, die in die Tiefe des Felsens wuchsen. Weiter wuchsen. Und mit jedem Millimeter, den sie ins Gestein vordrangen, wurden weiter oben aus den winzigen Kapillarwurzeln Finger, wurden Daumen, wurden Oberarme. Mit ungeheuren Bizepskräften. Drängend, pressend. Und ächzend antwortete der Fels. Wohlwissend, wer hier als Sieger vom Platz gehen würde. Trotzdem kämpfte er, hielt dagegen. Bis er dann irgendwann doch ermüdete. Der Riss vertiefte sich, weitere hauchdünne Wurzeln fassten sofort nach, saugten die Säfte aus dem Fels. Wodurch oben die Oberarme noch mehr anschwollen. Der Fels hielt stand. Noch. Bot Halt. Noch. Selbst wenn sich die Kiefer unter der Knute Boreas’, des eiskalten, brettharten Nordsturms, bog und beugte.

Jetzt im Juli hatten sich am Fuß des Baums Preiselbeersträucher emporgezweigt, blühten und verblühten, wechselten sich ab mit Blaubeer- und Trunkelbeersträuchern, spotteten über die beerenlosen Wollgrasbüschel, die aus der Felsritze ans Licht kümmerten. Unten im wurzelaufgepressten Granitklotz waren Regen und Laub zu einer braunen Brühe verschmolzen, die auch dieser Handvoll zerzauster Wollgrashalme als Lebensborn diente. Und Scharen bunter Schmetterlinge anlockte, die mit ausgebreiteten Flügeln die Farbenpracht der Sommerblüten in den Schatten stellten.

Senator Nabokov und sein zwölfjähriger Sohn hasteten zwischen Kiefern und Seeufer hin und her, sprangen, den Käscher in der angewinkelten Rechten, von Moospelz zu Moospelz, von Grasbüschel zu Felsbuckel zu Wurzelknorz. Bis sich Vater Nabokov völlig außer Atem seinem Sohn in den Weg stellte und ihn mit strahlenden Augen ansah. Nabokov junior machte ein grimmiges Gesicht und versuchte, an seinem Vater vorbeizukommen und die Jagd fortzusetzen. Der Senator jedoch stand zwischen zwei Bäumen, wodurch die Spannweite seiner ausgestreckten Arme noch erheblich vergrößert wurde. Stand dort und schlug nach Pfauenart das vitruvianische Rad. Zur Vollendung der feierlichen Popen-Pose fehlte nur noch das unter den ausgestreckten Armen wallende Messgewand. Er atmete tief ein und holte zu einer seiner, dem kleinen Vladimir wohlbekannten Predigten aus. Ohne allerdings abzuwarten, bis sich sein von der wilden Jagd abgehetzter Atem wieder einigermaßen beruhigt hatte. Untermalt von pfeifendem Hecheln und von Lachanfällen geschüttelt, posaunte er in die Welt hinaus: »Hiermit halten wir in aller Feierlichkeit für die Nachwelt fest, dass Vladimir Vladimirowitsch Nabokov und sein Vater Senator Vladimir Dmitrijewitsch Nabokov, heimgesucht von entzückenden Verzückungen über jede verrirrte Schönheit, die sie bei sonntäglichen entomologischen Erkundungszügen auf Wyras taunassen Schmetterlingsweiden anlocken konnten, und über jedes taumelnde Juwel, das sie von hinnen segeln sahen, dass die Herren Nabokov junior und senior hier an diesem geweihten Ort ihren Odem vor lauter Glück aushauchten. Unter Hügeln von Fliederblüten. Flankiert von einem flatternden …«

»Papa, der Käscher ist kein Weihrauchfass! Und der Wurzelstock keine Predigtkanzel.«

Geschüttelt von einer wüsten Lachsalve hobelte der Senator über den Einwand seines Sohnes hinweg und setzte noch mal an: »Flankiert von einem flatternden Spalier aus Kohlweißlingen und Golddickköpfchen. Und nächtens überschattet von Schwalbenschwanzschwärmen, von Perlmutter- und Satyrnymphchen, von Moorbunt- und Höckereulen, und was der im Mondlicht schillernden Nachtfalter mehr sein mögen. – Gott selbst möge sich der beiden Herren …«

Jetzt aber erhob der kleine Nabokov noch mal seine Stimme und schrillte dazwischen: »Wenn du so laut redest – du vertreibst sie ja! Sieh dir das an! Weidenbohrer und Grüner Birkenspanner, Kopf an Kopf! Traumschön.«

Der Senator grinste seinen vom Jagdfieber vollkommen elektrisierten Sohn an, klatschte plötzlich donnernd in die Hände und fuchtelte – die edle Haltung des vitruvianischen Menschen völlig missachtend – mit allen zur Verfügung stehenden Extremitäten durch die Luft. Sofort erhoben sich ganze Geschwader von Schmetterlingen und taumelten eilends davon ins Dunkel des Kiefernwaldes. Vladimir traten die Tränen vor Wut und Enttäuschung in die Augen, und, um nicht losheulen zu müssen, stieß er »Warum machst du das?« hervor.

»Es gibt Falter, mein Sohn, die muss man fliegen lassen. Um ihre Schönheit zu retten«, grinste der Vater.

»Aber ich wollte sie doch gar nicht fangen. – Nun sag schon! Du hast sie vertrieben, damit ich sie nicht angucken kann … du bist gemein … Warum gönnst du mir diesen wunderbaren Anblick nicht!?«

Vater Nabokov schüttelte sich vor Lachen. Schüttelte sich vor Lachen.