Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf

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Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf
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Uli Wittstock

Weißes Rauschen

oder Die sieben

Tage von Bardorf

Roman

mitteldeutscher verlag

Inhalt

Cover

Titel

Zitat

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Sonnabend

Sonntag

Impressum

„Weißes Rauschen ist aus sehr vielen, sehr dicht nebeneinander

liegenden Sinusschwingungen zusammengesetzt.

Diese Teilschwingungen haben gleiche Amplituden;

ihre Phasen sind statistisch unabhängig voneinander verteilt.

Michael Dickreiter, Handbuch der Studiotechnik,

Bd. 1, München 1997, S. 1

Montag


Die Stadt hatte in den letzten Jahrhunderten nicht viel Glück gehabt, denn sie war immer wieder heimgesucht worden von Horden aus allen Himmelsrichtungen, nicht wegen ihrer Schätze, denn als besonders reich galt der Landstrich nie, sondern wegen ihrer zentralen Lage an mehreren Handelswegen, über die sich eben auch gut Soldaten und ihre Gerätschaften transportieren ließen. Erschwerend kam hinzu, dass die Stadt sich nicht an das Ufer eines Flusses schmiegte, der einen natürlichen Schutz geboten hätte und nicht einmal ein Flussarm als Lebensader aufzuweisen hatte, sondern allenfalls ein oder zwei Rinnsale, die nur in den seltenen Fällen eines Hochwassers zu einem kräftigeren Bach anschwollen. Dies hatte das Leben der Bewohner über Jahrhunderte beeinflusst und zur Ausprägung eines Menschenschlags geführt, dessen emotionale Kargheit ein Abbild jener Verhältnisse war, in denen nun einmal nichts fließen konnte. Das hatte auch Auswirkungen auf die Kriminalstatistik, in welcher Straftaten mit emotionalem Hintergrund deutlich unter dem landesweiten Durchschnitt registriert wurden. Dieser Wochenauftakt war also für Kommissar Schneider eine besonderer, denn die Installation, anders konnte das unmittelbare Umfeld der Leiche nicht bezeichnet werden, ließ eine gewaltige Portion Arglist und Hass vermuten. Jetzt allerdings blickte Schneider auf ein Blatt mit vier Buchstaben, AYCB, flammend Rot auf Schwarz, das heute Morgen hinter dem Scheibenwischer steckte, ohne Telefonnummer und Web-Adresse. Seine Frau, eine ausgewiesene Kennerin von Sonderangeboten im Netz, würde mit dem Zettel wohl mehr anfangen können. Schneider drehte das Papier zwischen den Fingern seiner rechten Hand, während er den Fleck an der Wand näher betrachtete. Das Zeug war wohl organischen Ursprungs, dem Anschein nach aber keine Körperflüssigkeit. Etwa handtellergroß war die Verfärbung, nach oben ausästelnd und von einer Corona feiner Spritzer umgeben. Die Tapete hatte die Flüssigkeit wohl rasch aufgesaugt, denn nichts war die Wand heruntergelaufen. Frohrieb hatte einen seiner berühmten gelben Klebezettel neben dem Fleck geparkt, mit einem Krakel darauf, der es später den Auswertern erleichtern sollte, die Vorgänge in diesem Raum zu rekonstruieren, vorausgesetzt jemand konnte das Gekritzel dann noch entziffern. Er hätte sich stundenlang dem Fleck und seinen filigranen Strukturen widmen können, um sich nicht mit jenem anderen Arrangement beschäftigen zu müssen, welches den übrigen Raum einnahm. Wie ein Schwarm Fliegen klebten dort Frohriebs Zettel auf einer höchst merkwürdigen und zugleich beunruhigenden Installation.

Eigentlich hätte das Gebäude zu dieser Tageszeit vor Aktivität vibrieren müssen, im Klappern der Tastaturen, dem nervösen Quengeln der Handys, dem Gezwitscher der Sondermeldungen und im Sprechgesang der Korrespondenten. Studiotüren hätten schmatzend zufallen müssen, hinter dem eiligen Schritt der Nachrichtensprecher, und Leitungen hätten geschaltet werden müssen, Regler geöffnet, Fragen gestellt und Antworten aufgezeichnet werden müssen, um sie in Halbsätze zu schneiden und anzurichten für den täglichen Gebrauch, damit sie ihren Schrecken verlören. Das alles passierte vielleicht sogar, doch davon bemerkte Schneider nichts.

Arzt, Fotograf und Techniker waren bereits abgezogen und die Männer mit dem Sarg warteten irgendwo in ihrem Wagen, der sicherlich dezent und unauffällig geparkt war.

„So wenig Aufsehen wie möglich“ – diese Bitte, oder besser gesagt diese Anweisung, war ihm vom Chef auf den Weg gegeben worden. Doch wie sollten die Bestatter unter den gegebenen Umständen ihren Job unauffällig durchführen? Den Sarg von der Tiefgarage per Aufzug zum Tatort zu transportieren, war sicherlich nicht das Problem. Wie allerdings die Leiche in den Sarg passen sollte, das war die wohl spannendere Frage. Der Tod erwischt die Menschen ja in den unmöglichsten Momenten. Schlussendlich, dank Erdanziehung, gelangt aber ziemlich jeder Leichnam in eine Post-mortem-Position, die den Abtransport in den dafür üblichen Behältnissen ermöglicht. Hier freilich stellte sich die Situation deutlich anders dar. Der Körper des Opfers war auf eine Art und Weise modelliert worden, dass der Transport in regulären Särgen wohl unmöglich war, zumal die Leichenstarre bereits eingesetzt hatte.

Seine Frau war nicht nur talentiert auf der Suche nach Sonderangeboten im Netz, sondern war auch eine engagierte Hobbyköchin. Sie behauptete gelegentlich, es am Herd zu einer gewissen Meisterschaft gebracht zu haben. Die Zurichtung des Opfers hätte sie wohl als tournieren bezeichnet. Gelenke brechend, Gurgeln kappend und allerlei Hautlappen miteinander vernähend, pflegte sie aus einem handelsüblichen Geflügel einen irgendwie zusammengepressten Haufen Fleisch herzustellen. Nach welchem Kochbuch der Täter hier vorgegangen war, musste sich allerdings erst noch erweisen. Rein instinktiv bezweifelte Kommissar Schneider jedoch, dass es für dieses Arrangement überhaupt ein kulinarisches Vorbild gab, allenfalls die asiatische Küche schien ihm artverwandt zu sein, aber vielleicht war dies nur ein Vorurteil. Das Opfer lag auf dem Bauch, der sich trotz der Überdehnung noch prall unter dem zu engen Hemd abzeichnete. Der Oberkörper war zurückgebogen und die Arme auf dem Rücken gefesselt, sodass die Hemdknöpfe gefährlich spannten. Die Beine waren ebenfalls angewinkelt. Füße und Hals des Opfers waren umwickelt mit dünnen Plastikbändern, die sich nun wie eine Sehne über den gebogenen Körper spannten. Der Tod war wohl nicht plötzlich und schnell gekommen. Auf dem feinen Hemdstoff unter den Achseln zeichneten sich großflächige Inseln der Angst ab. Der Schweiß war getrocknet und die Umrisse erinnerten Schneider an Irland. Das dünne blonde Haar lag verklebt auf der Stirn, wurde dann rechts ein wenig länger und alle Versuche des Opfers, der Verknotung zu entkommen, hatten einen beginnenden Haarausfall freigelegt. Um die Mundwinkel herum und auf der Hemdbrust waren Tränen, Schweiß, Speichel und was sonst Menschen in so einer Situation von sich zu geben pflegen zu einer Art Borke geronnen, die in einem seltsamen Widerspruch zu der ansonsten sehr gepflegten Erscheinung des Opfers stand. Wahrscheinlich stranguliert, hatte der Arzt mitgeteilt, bevor er gegangen war. Die Tatwaffen, wenn man überhaupt von solchen reden konnte, waren offensichtlich Tonbänder. Seit Jahrzehnten hatte Schneider solches Material nicht mehr gesehen. Er hatte die Existenz solcher Bänder sogar vollständig vergessen, regelrecht verdrängt, wie er sich gerade eingestand, dabei hatten solche Tonbänder in seiner Jugend einen großen Teil seiner Freizeit in Anspruch genommen. Seltene Stücke, denen der Ruf vorauseilte, verboten zu sein, wurden bis zur Unhörbarkeit kopiert. Ein Song namens Moscow fiel Schneider ein, in dem es der Legende nach um Panzer ging. Die Aufnahme klang dumpf, als hätte der Sänger einen Knebel im Mund, und die Gitarre plärrte mulmig, selbst wenn man den Tonkopf nachjustierte. Tonbänder waren der gewickelte Soundtrack seiner Jugend. Hier allerdings waren sie zu einem letzten Blues verknüpft worden – in einem Funkhaus.

„Wie lange werden Sie hier noch zu tun haben?“

Die Stimme kam ganz offensichtlich nicht vom Tonband, sondern aus dem Mund eines Menschen hinter ihm. Schneider drehte sich um.

„Udo Malchwitz, Geschäftsführer.“

In der Hand spielte er mit einer Visitenkarte, die er Schneider beinahe ein wenig zu beiläufig überreichte: Udo Malchwitz, magister artium, chief executive producer. Der Mann schien noch keine vierzig zu sein. In seiner Erscheinung erinnerte er Schneider an einen Fernsehmoderator, sorgfältig frisiert, gewinnendes Lächeln und mit einer bestimmenden, aber nicht zu aufdringlichen Körperhaltung, die sich nur durch das Tragen von Maßanzügen erreichen lässt. Zu allem Überfluss kaute der Geschäftsführer auf einem bleistiftstarken roten Gegenstand herum, den Schneider als Teil einer Mohrrübe identifizierte. In der Hand hielt Malchwitz ein ganzes Bündel sorgfältig geschnittener Möhren.

 

„Ich gewöhne mir gerade das Rauchen ab“, sagte er und fuhr dann unvermittelt fort: „Wir müssen die Mittagssendung schon aus unserem Unterhaltungsstudio fahren. Die Kollegen brauchen den Redaktionsraum, damit wir wenigstens den Abendreport aus dem aktuellen Studio fahren können.“

Schneider war ein lernfähiger Mensch. Im Hörfunk wurde also gefahren, und das Tempo bestimmte ein sogenannter chief executive producer. Er war allerdings Polizist und hatte nun, um im Bild zu bleiben, den Finger auf der Ampelschaltung.

„Das Büro wird versiegelt bleiben, bis die kriminaltechnischen Untersuchungen abgeschlossen sind. Ein paar Stunden kann das noch dauern.“

Die Möhrenstückchen kurvten einen Sekundenbruchteil schneller im Mund des Geschäftsführers.

„Wir haben rund dreihunderttausend Hörer pro Stunde und gute Werbekunden, die auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zu uns stehen. Die Konkurrenz hat seit heute Morgen allerdings einen Vorteil. Bei denen liegen nämlich keine Leichen in den Redaktionsräumen rum, oder täusche ich mich?“

„Uns ist noch nichts zu Ohren gekommen“, sagte Schneider.

So perfekt wie der Maßanzug, so geschliffen erwies sich auch die Sprache des Geschäftsführers. Die Vokale glitten ihm ohne eine geringste Färbung von der Zunge.

„Wir sollten die Redaktion gegen die Schwachköpfe vom Fernsehen komplett abschließen.“

„Vermuten Sie den oder die Täter bei Ihren Fernsehkollegen?“

Malchwitz biss ein weiteres Möhrenstück ab.

„Gehen wir doch in mein Büro“, sagte Malchwitz.

Wäre die Stadt an den Ufern eines nennenswerten Flusses errichtet worden, so hätte sich die Vorderfront des Gebäudes wohl zum Wasser hin geöffnet – ein großflächiges Ensemble aus Glas und schlanken Metallstreben, das nach den Wettbewerbsunterlagen des Architekten florale Bezüge herstellen sollte. Da es der Stadt an einem Fluss mangelte, nahm die Fassade die Sichtachse der bestimmenden Gebäude auf: Vom Getürm des Müllheizkraftwerks im äußersten Westen über die Kirchdächer und Bürgerhäuser der Altstadt bis hin zu den sich duckenden Flachbauten im Gewerbegebiet am Ostrand. Tagsüber brach sich das Licht auf der unregelmäßigen Fassade des Gebäudes und verwirrte vor allem Vögel, die regelmäßig gegen das Glas prallten, aber auch das Mondlicht sammelte sich in den Scheiben, sodass nach Sonnenuntergang vor allem Betrunkene gegen die bruchsicheren Scheiben knallten.

Auch das Büro des Geschäftsführers öffnete sich zur Stadt und ermöglichte eine mannshohe Aussicht auf das andere Machtzentrum: Landtag und Staatskanzlei, schräg gegenüber und davon nur wenig entfernt die abweisende Fassade der Landesbank. Ein Schreibtisch oder, wie Schneider eher fand, eine Schreiblandschaft, beherrschte den Raum. Die Konstruktion erinnerte an eine komplizierte Autobahnabfahrt. Mehrere Ausfahrten und Abzweigungen in Form von zusätzlichen Tischen machten es dem Benutzer möglich, auf der täglichen Irrfahrt von Sitzungen und Meetings neue Themen und Inhalte anzusteuern. Zu diesem Zweck waren Aktenordner, Hefter, Ausdrucke, Artikel, Zeitschriften, Broschüren, Bücher, Faxausdrucke, Notizzettel, Memos, Mitteilungen, Kopien und Visitenkarten auf verschiedene Stapel verteilt. Ein großflächiger Computerbildschirm sowie ein Laptop standen wie Burgwächter inmitten dieser scheinbar herrschaftsfreien Papierwelt.

„Wilkhahn war sicherlich nicht der Beliebteste hier im Hause, obwohl er als Journalist durchaus einige Qualitäten hatte. Allerdings gab er sich große Mühe, diese Eigenschaften in möglichst viel Rotwein aufzulösen.“

Malchwitz hatte ihn an einem runden Tisch platziert, den Schneider als typisches Konsensmöbel einer modernen Führungskultur identifizierte. An eben einem solchen Tisch hatte der Polizeipräsident mit Schneider ein halboffizielles Gespräch geführt, heute Morgen, nachdem das Handy ihn vorzeitig zum Dienst beordert hatte.

„Der Fall ist heikel, immerhin ist das Opfer ein anerkannter Journalist.“

Die Stirn des Präsidenten faltete sich noch tiefer.

„Sie wissen, dass wir uns um einen guten Kontakt zur Presse bemühen.“

Der Vorgänger des Präsidenten hatte erst vor einigen Monaten auch aufgrund einer Pressekampagne vorzeitig das Chefzimmer räumen müssen, und so mancher im Präsidium glaubte, der Nachfolger habe seinerzeit die Fäden gezogen. Nun jedenfalls saß Schneider noch vor der Mittagspause erneut an einem Katzentisch der Macht, nur in einem anderen Gebäude.

„Also, wie lange werden Sie brauchen, bis wir unsere Redaktionsräume wieder nutzen können?“

Der ihm zugewiesen Stuhl wirkte mit seiner Stahlrohrlehne sehr klassisch, verhinderte allerdings ein bequemes Sitzen. Schneider fühlte sich ein wenig unbehaglich.

„Die Spurensicherung wollte mir Bescheid sagen. Es kann nicht mehr lange dauern.“

Malchwitz hielt erneut eine Möhre in seiner Hand. Diesmal benutzte er sie jedoch als Taktstock, um seine Worte zu orchestrieren. „Wir können hier ganz ehrlich sein. Natürlich haben wir einen Auftrag. Seit Einführung der Neuen Geschäftsgrundlagen ist die Pressefreiheit ein hohes Gut, und die Medien haben eine große Macht. Aber wir haben auch eine Verpflichtung. Über was reden die Menschen morgens beim Bäcker, welches Thema bestimmt die Kaffeepause im Büro und welche Nachricht wird zu Hause am Abendbrottisch diskutiert? Wir geben unseren Hörern und Zuschauern eine Orientierung, dafür werden wir bezahlt. Und deshalb brauchen wir Arbeitsbedingungen, die uns nicht einschränken, falls Sie verstehen, was ich meine.“

„Ich verstehe Sie voll und ganz“, sagte Schneider.

Eine Stunde später gab Frohrieb den Toten zum Abtransport frei. Die Kollegen vom Bestattungsunternehmen hatten sich auf eine deckellose Variante geeinigt. In einer Art Zinkwanne, abgedeckt mit einem Tuch verließ Manfred Wilkhahn das Funkhaus mit dem Fahrstuhl, zum letzten Mal und unter den Augen der im Flur versammelten Kollegen. Die Stille wirkte fremd an diesem Ort. Ins Leere ragten die Kapseln der Studiomikrofone, die Kopfhörer lagen darunter, achtlos zwischen die Manuskripte geschoben, die Regler auf den Pulten waren in Wartestellung halb aufgezogen und einen Moment schien es so, als sei das Funkhaus von einer Stille befallen worden, bis plötzlich mit einem scharrenden Geräusch die Jalousien an der Glasfront des Gebäudes sich senkten, denn die Sonne war gerade zum ersten Mal an diesem Tag aus dem Wolkenschleier aufgetaucht.


Ein schmales Grau. Möglicherweise ein Streifen Himmel, vielleicht aber auch ein Stück Rinne oder Blech. Um mehr zu sehen, hätte er den Kopf drehen müssen. Aber er konnte sich nicht bewegen. Noch nicht. Das hoffte er zumindest. Das Grau war starr. Kein Flattern, kein Flimmern. Wenn er die Augen schloss, war es nicht mehr da. In ihm war das Grau also nicht. Dies beruhigte ihn etwas. Unter den Lidern tanzten aber auch keine Punkte und Kreise. Manchmal war das anders. Auch kein Pfeifen in den Ohren. Nicht der leiseste Nachhall. Die Zunge im Mund konnte er bewegen. Sie glitt nicht über stumpfe Zähne. Dann machte er eine Pause. Er musste nachdenken. Allerdings hatte er kein Thema. Auch keine Idee. Das war das Problem. Solche Gedanken waren verboten. Dann lieber starr liegen. Im Nichts. Im grauen Nichts. Irgendetwas stimmte aber nicht. Grau. Er wollte darüber jetzt nicht nachdenken. Grau. Es war irgendwie anders.

War er noch einmal weggedämmert? Er wusste es nicht. Das Grau war noch immer starr. Vielleicht sollte er jetzt den Kopf drehen. Er fühlte sich bereit dazu. Das Grau endete an einem Fensterrahmen. Er war enttäuscht. Dann sollte er es jetzt mit seiner Hand versuchen. Möglicherweise gab es da Überraschungen. Er wartete noch. Spürte er eine Spannung? Auf was konnte er hoffen? Ihm fiel nichts ein. Also blickte er wieder zum Grau. Er hatte es heller in Erinnerung. Vielleicht ging schon die Sonne unter? Blieb ihm keine Zeit mehr? Er musste handeln. Eine Hand, vielleicht die Rechte, kratzte auf Stoff. Die anderen Finger griffen nach etwas, das sich anfühlte wie Leder. Das fand er verheißungsvoll. Ein Fuß drehte ins Leere, der andere lag wohl unter einer Decke. Wenn er mehr wissen wollte, musste er seinen Kopf wohl noch weiter drehen. Der Fensterrahmen endete an einer weißen Wand, die zu einem Regal hinüber leitete. Tropenholz, das als Raumteiler sich weiter in die Tiefe zog. Er drehte den Kopf in die andere Richtung. Ein dünnes Laken, benutzt, aber nicht zerwühlt, das Kopfkissen glatt gestrichen. Er war allein. Er setzte sich aufrecht. Kein Schwindelgefühl. Er schlug die Decke zurück. Keine Stäube, Tabletten, Flecken, Krümel oder Kristalle, kein Blut, keine Tränen. Es war zehn vor zehn und er war zu früh wach geworden. Das beunruhigte ihn. Er stöpselte sich von seinen Schlafsensoren aus. Der Kabelstrang endete über seiner Schulter. Von dort führten dünnere Drähte zu den Messpunkten unter einer Gummimanschette, die wie ein Schweißband seinen Kopf umspannte. Mit einem Piepton bestätigte der Rechner den Eingang der Daten. Er setzte sich auf die Bettkante, dann wechselte er hinüber zum Arbeitstisch und rief die Schlafdateien der letzten sechs Wochen auf. Das beunruhigende Gefühl blieb. Die letzte Nacht war seit Beginn der Messungen die mit der kürzesten Tiefschlafphase. Das Grau war übrigens tatsächlich das Grau des Himmels. Die Stirnseite des Appartements war verglast, sodass er auf die Stadt herabschauen konnte. Von Zeit zu Zeit hätte er die Gebäude gerne im Dunst gesehen, doch es fehlte ein Meer oder wenigstens ein Fluss, aus dessen Niederungen der Wind Nebelschwaden in die Straßen hätten treiben können. Zudem wurde in der Stadt nicht so hoch gebaut, sodass es selbst im Dachgeschoss schwer war, einen hinreichenden Abstand zum Bordstein zu halten. Dennoch war er geblieben. Seine Laune hellte sich etwas auf, als der Bildschirm sein aktuelles Gewicht anzeigte, einhundertdreißig Gramm weniger als am Abend zuvor. Damit hätte er fast seinen Idealwert wieder erreicht.

Diesem jagte er bereits seit mehreren Tagen hinterher. Die Ursache vermutete er in einem Abendessen der letzten Woche, eigentlich einem Arbeitsessen mit seinen beiden Programmierern, flinke aber übergewichtige junge Burschen, und obwohl er den Teller fast unberührt zurückgegeben hatte, waren doch ausreichend Fettmoleküle an ihm hängen geblieben, sodass er beschlossen hatte, Übergewichtigen nun nicht mehr die Hand zu geben.

Während er noch auf der Waage stand, ließ er die übrigen Werte durchlaufen. Körpertemperatur und Ruhepuls lagen im optimalen Bereich, der Blutdruck zeigte nur eine geringe Abweichung. Dann stach er sich in den Finger, setzte einen Tropfen Blut auf den Teststreifen und schob ihn in das Messgerät. Der Blutzucker war deutlich zu niedrig. Dies erklärte wohl auch die schwierige Aufwachphase und die Probleme mit dem Tiefschlaf. Er würde den Medidoc fragen müssen. Zum Schluss pustete er seine Atemluft in den Analysestutzen. Lungenvolumen sehr gut, keine Spuren von Alkohol und kein Hinweis auf eine Infektion im Halsbereich. Kein Grund also, seine Morgenroutine zu unterbrechen.

Die hatte er vor Wochen umgestellt, nachdem sich die Probleme mit dem Blutfett zugespitzt hatten. Sein Medidoc, ein Experte, der von allen seinen Experten der geheimste war, hatte für ihn eine Folgemilchtherapie entwickelt, in Anlehnung an russische Volksmärchen. Der Medidoc war vor Jahren aus irgendeiner sibirischen Landschaft zugewandert und behauptete noch immer, dass der Morgen klüger als der Abend sei und Recken bis zur Geschlechtsreife von einer Amme gesäugt werden müssten. Ammen seien out, hatte dann allerdings das Team einstimmig beschlossen. Folgemilch tue es auch, beschied daraufhin der Medidoc.

Seit mehreren Wochen ließ er also jeden Morgen Trockenmilch in ein Glas rieseln und goss dann entwurzeltes Wasser nach, das ihm ebenfalls der Medidoc lieferte, ein Wasser, dem in einem aufwendigen Verfahren die räumliche Erinnerung genommen worden war. Bei der Herstellung spielten wohl Mondphasen, Erdmagnetismus und Kristallsiebe eine Rolle sowie ein Parcours aus Steinen, Torf, Kaffeefiltern und einer Klangschale, durch welchen das Wasser wie ein Katarakt stürzte, bis es seine Herkunft vollständig vergessen hatte. So könnten im Körper keine störenden Spannungen aufgebaut werden, hatte der Medidoc erklärt.

Er schüttelte das Gemisch auf und sah zu, wie die kleinen Blasen sich am Rand des Glases sammelten und dann allmählich platzten. Der Rechner meldete sich wieder, diesmal mit den ersten nervösen Takten aus John Zorns Recordatio, ein sicheres Zeichen, dass es einen aktuellen Statusbericht aus dem Netz gab. Er weckte den Bildschirm auf und nahm den Folgemilchshake mit hinüber zum Arbeitsplatz, der sich ein wenig versteckt hinter dem Raumteiler über zwei Tische erstreckte, vor allem wegen der beiden großen Bildschirme, auf denen jetzt Zahlen, Diagramme und kurze Einschätzungen seines Moneydocs aufliefen. Die größte Grafik zeigte die Entwicklung der Downloads seit der Veröffentlichung seiner aktuellen Single-Auskopplung, eine tagesaktuelle Auswertung, die es dem Team ermöglichte, das Marketing zielgenau einzusetzen. Die Kurve war in den ersten Tagen steil angestiegen und war nun allerdings merklich abgeflacht. Er trank ein paar Schlucke Folgemilch und wie immer nach diesem täglichen Erstkontakt sendete sein Magen merkwürdige Signale an das Hirn, das daraufhin mit einem leichten Schwindel reagierte. Er schloss die Augen. In diesen Momenten würde er gerne an einen Gott glauben, an einen personifizierten Sinn oder wenigstens an eine Frohe Botschaft, mit der er den Tag begrüßen könnte, die Stunden segnen, die vor ihm lagen, weiße Zeitabschnitte, deren Rhythmus er noch zu entdecken hatte.

 

„Der Zuckerspiegel ist zu niedrig.“

Der Medidoc liebte es, ohne Vorwarnung im internen Netz wie ein Geist zu erscheinen. Er hatte sich vertraglich alle Freiheiten einräumen lassen, um körperlichen Schaden von seinem Auftraggeber abzuwenden.

„Nimm zwei Stück aus der grünen Schachtel. Eine Art Traubenzucker.“

Der Medidoc wirkte ein wenig bekümmert in dem kleinen Videofenster über der Download-Kurve.

„Und lass heute Abend nicht wieder das Essen aus, Kilian.“

Den Namen nutzte der Medidoc nur, wenn er seinen Worten einen gewissen Nachdruck verleihen wollte.

Kilian nickte und trank den Rest der Folgemilch aus dem Glas.

„Wir sehen uns nachher“, sagte er und schaltete den Bildschirm ab. Dann ging er auf die andere Seite des Raumteilers, dorthin, wo sein Bett stand, und hinter einem großen Vorhang das Farb-, Sound- und Drogenlager verborgen war.

Die Dachwohnung hatte für ihn den Vorteil, den ganzen Tag nackt umhergehen zu können. Er wählte heute ein dünnes Papier, das mit seiner schimmernden Oberfläche fast an Seidenpapier erinnerte. Er breitete den Bogen auf dem Parkett aus, stellte sich davor und versuchte sich zu konzentrieren. Der Tag hatte noch keinen Farbton. Das Grau aus seiner Aufwachphase führte nicht hinüber zum Tagesrand, für Kilian einen Art Datumsgrenze, denn erst nach Sonnenuntergang wurde er wirklich produktiv. Ein helles Grün als Kontrast zum Grau schien ihm durchaus angemessen.

Er mischte sich ein leichtes Grün auf der Palette und zog dann mit einem mittelstarken Pinsel eine Linie zwischen seinen beiden Hoden. Die Berührung ließ seinen Hodensack zusammenschrumpfen. Mit einem breiteren Pinsel spritze er ein dunkles Gelb, fast schon Ocker darüber. Die Vorhaut sprenkelte er dunkelrot und entschloss sich dann, für den Schaft seines Penis ebenfalls Grün zu verwenden.

Er merkte, dass seine Erektion an Kontur gewann und ließ sich dann vornüber mit gespreizten Beinen auf das Blatt fallen, bewegte sein Becken, sodass die Farbe in das Papier hineinmassiert wurde. Er blieb mit gespreizten Armen und Beinen über der Stadt liegen. Sechzehn Stockwerke unter ihm bohrte sich ein armdicker Meißel durch den Beton einer Auffahrt und schickte ein Vibrieren über die Straße, das dann den Weg über den Bordstein nahm, sich über den Gehsteig bis an die Hauswand schlängelte, unter der Wärmedämmung hindurch ins Innere kroch, schließlich den Fahrstuhl erreichte und sich bis ins Dachgeschoss fortpflanzte, wo Kilian nackt auf den Boden gepresst den Puls der Stadt eher erahnte als spürte. In diesem Moment flammte sein Bildschirm auf: AYCB – vier rote Buchstaben auf Schwarz.


Echte rahmengenähte Schuhe konnte er sich nicht leisten. Malchwitz saß an seinem ausufernden Schreibtisch, die Beine lang gestreckt und gekreuzt, sodass die Schuhe wie die ungleichen Spitzen zweier Kirchtürme aufragten. Würde ihm jemand gegenübersitzen, so hätte dieser gesehen, dass die Nähte an der Schuhsohle nicht durchgesteppt waren, Chemie also das Schuhwerk zusammenhielt und nicht Physik. Aber sein Unbehagen verdankte Malchwitz nicht dieser Erkenntnis. Um sich rahmengenähte Schuhe leisten zu können, müsste er sich beruflich dorthin verändern, wo er vor wenigen Minuten das Telefon hatte klingeln lassen, damit er seinen unplanmäßigen Statusbericht durchgeben konnte.

„Kirchberg“ hatte der andere in das Telefon geschnarrt, mit einem angeschliffenen CH, was den beiden Silben eine sehr amerikanische Note verlieh. In der Holding war Kirchberg für den Bereich der Medienbeteiligungen zuständig, die allerdings in den letzten Jahren an Bedeutung verloren hatten, da die Umsätze gegenüber den anderen Geschäftsfeldern zurückgefallen waren. Nach seinem Namen sagte Kirchberg nichts mehr.

„Ich habe eine Mail geschickt“, sagte Malchwitz.

„Wir sind informiert.“

„Ich dachte, wir stimmen unsere weiteren Schritte ab.“ Malchwitz hörte ein leichtes Quietschen in der Leitung, so als würde sich Kirchberg in seinem Sessel hin- und herdrehen. Es ging das Gerücht, dass er ein passionierter Skifahrer sei. Kirchberg sagte noch immer nichts.

„Wir werden hier eine Kommunikationsstrategie entwickeln.“

Es rumpelte jetzt in der Leitung, als hätte Kirchberg den Hörer zur Seite gelegt. Noch nie war Malchwitz in die Zentrale der Holding bestellt worden. Kirchberg kannte er nur aus der Firmenbroschüre und von gelegentlichen Telefonaten. In der Broschüre wirkte Kirchberg durchaus jugendlich, das Gesicht mit einer ungewöhnlich großen Brille verstellt, was ihm den Charme eines frühreichen Internetaktivisten verlieh. Ausgewiesen war er als director broadcast division. Und er schwieg noch immer.

„Wir werden am Nachmittag eine Presseerklärung veröffentlichen, Bestürzung, Trauer und so weiter. Und dann müssen wir die Schlagzeilen morgen abwarten.“

„Na, dann warten Sie mal schön“, schnarrte Kirchberg jetzt in die Leitung. „Aber warten Sie nicht, bis unser Controlling in Ihren Saftladen einrückt. Die Kennzahlen stimmen nämlich noch immer nicht.“

Malchwitz glaubte Papier rascheln zu hören, war sich aber nicht sicher. Die Klage über das Verfehlen von Kennzahlen gehörte zu den Standards in der Kommunikation mit Kirchberg, und Malchwitz hatte den Verdacht, damit wolle der director broadcast division eine gewisse Unkenntnis der Verhältnisse überspielen. Jetzt schwieg Malchwitz und versuchte wie sein Gegenüber, möglichst geräuschlos zu atmen. Durch die Glasfront seines Büros sah er auf das Gebäude der Staatskanzlei, hinter deren historischer Fassade die Schreibtische ebenfalls mit Glasfasern verbunden waren, ein datensattes Geäder der Macht, welches die Stadt wie eine Flechte befallen hatte.

„Auf keinen Fall darf unser Name in diesem Zusammenhang auftauchen“, sagte Kirchberg jetzt.

Die Holding legte einen großen Wert auf Verschwiegenheit, was vielerlei Gerüchten als veritable Nahrungsquelle diente: Das Unternehmen würde Pensionsfonds der US-Armee verwalten, Gelder aus zweifelhaften Quellen in Osteuropa beziehen, Flucht- und Blutzölle in Schwellenländern eintreiben oder mit Grundnahrungsmitteln spekulieren.

„Wir haben uns verstanden.“

Dann piepste es in der Leitung und Malchwitz schob den Hörer zurück in die Ladestation. Danach starrte er auf seine Schuhspitzen. Das Oberleder am linken Schuh hatte einen leichten Kratzer. Er bewegte die Zehen, konnte sich aber nicht erinnern, gegen irgendetwas getreten zu sein. Dann blickte er zu dem Fernseher neben der Fensterfront, wo seit mindestens zwanzig Minuten das Gesicht von Manfred Wilkhahn unruhig flackerte, ein Bildfehler, welchen die Freeze-Funktion des Rekorders verursachte. Malchwitz nahm die Fernbedienung, lehnte sich zurück und ließ weitere Einzelbilder durchlaufen. Wilkhahns Mundwinkel glitten erst nach unten, dann sprangen die Lippen auseinander und die Augenbrauen zogen sich zusammen. Der Mund öffnete sich noch weiter, sodass die unregelmäßige Zahnreihe des Unterkiefers sichtbar wurde, dahinter der Wulst seiner Zunge, deren Oberfläche vor Speichel glänzte. Ein paar Bilder weiter hatte der Mund seine volle Öffnung erreicht und ein Speichelfaden zog sich vom Gaumen bis zur Zunge. Wenn Wilkhahn erregt war, konnte es schon mal vorkommen, dass er beim Reden seinen Speichel wie Sprühnebel verteilte. Malchwitz ließ jetzt die Bilder schneller durchlaufen. Der Mund schloss sich fast vollständig, dann wurden die Lippen breiter, die Zunge schob sich gegen die Zähne, sprang dann zurück, während der Mund erneut breiter wurde. Es sah so aus, als würde Wilkhahn „Scheiße“ sagen. Malchwitz spulte das Band ein paar Sekunden zurück und ließ es dann normal durchlaufen.