Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster

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„Wag es nicht, mich zum Narren zu halten!“ Die Schwester Oberin war mit einem Satz aufgesprungen, wobei sie sich mit beiden Händen von ihrem Tisch abstieß und dabei ein Tintenfass umwarf. Es diente wohl als Gewicht für eine Pergamentrolle und war daher auch verschlossen, allerdings rollte es über die Tischkante und verlor sich im freien Fall, noch bevor sie reagieren konnte. Dantra konnte nicht sehen, ob es beim Aufprall zerbrach. Jedoch ließ das deutlich zu hörende Klirren darauf schließen. Und nachdem Schwester Burgos mit ihrem Blick der Flugbahn des Aushilfsgewichts gefolgt war, verfinsterte sich ihre ohnehin schon düstere Miene noch einmal merklich. Sie hielt ihren Kopf weiterhin gesenkt, ihre Augen fixierten jedoch schon wieder Dantra.

Nachdem sie ihn beim Aufspringen angeschrien hatte, sprach sie nun zwar wieder leiser, jedoch mit einem extrem gereizten Unterton. „Ich will nicht dein Wort anzweifeln, dass ein Rabe zugegen war, jedoch ist es inakzeptabel, dass du die Schuld für dieses Dilemma auf einen Vogel abschiebst. Ich frage dich also nun zum letzten Mal: Was hast du getan?“

Schwester Burgos war eine groß gewachsene Frau mit einem langen aschgrauen Gesicht, das mit sehr feinen Falten überzogen war. Und obwohl sie ein Kreuz um den Hals trug, das nun, da sie sich so weit über den Tisch lehnte, in der Luft hin und her schaukelte, kam es Dantra vor, als würde ein Dämon von oben herab auf ihn niederschauen, kurz bevor er ihm die Seele aus dem Leib riss.

„Ich ... ich hatte für einen Moment die Kontrolle über mich verloren“, stammelte er. „Ich ... ich weiß nicht genau, alles wurde schwarz, und als ich wieder zu mir kam, war alles verwüstet.“ Er fuchtelte beim Reden wild mit den Armen, um so seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. „Ich befürchte, ich war für einen kurzen Moment nicht Herr meiner Sinne und habe dabei unbewusst und natürlich auch unbeabsichtigt meine Stubenmöbel zerstört.“

Er glaubte selbst nicht an das, was er da sagte. War er doch nicht einmal annähernd stark genug, um einen, wenn auch schon recht alten Waschtisch so zu zerkleinern, dass man ihn als solchen nicht mehr erkennen konnte, geschweige denn die aus Massivholz gefertigte Tür in zwei Teile zu zerlegen. Gefasst auf einen erneuten Wutausbruch, nahm er den Blick von der Schwester Oberin und senkte demütig den Kopf. Ein leises Knarren ließ ihn jedoch erneut aufschauen. Zu seiner Erleichterung hatte sie sich wieder in ihrem Stuhl niedergelassen. In ihrem starren Blick, der an ihm vorbei in den leeren Raum fiel, meinte Dantra zu erkennen, dass sie sich seine Antwort noch einmal durch den Kopf gehen ließ. „Wahrscheinlich sucht sie nach der härtesten Bestrafung, die die strengen Regeln der Schülerleitfibel für solche Fälle vorsehen“, dachte er.

Ihre Augen wanderten zurück zu Dantra und nach einer weiteren kurzen Phase des Schweigens sagte sie schließlich mit besorgter Miene: „Es sind noch 58 Tage, bis du dieses Haus auf ewig verlassen darfst. Du wirst bis dahin weder zur Feldarbeit gehen, noch in deiner Freizeit das Gebäude verlassen.“

„Aber Tami, sie verlässt uns schon übermorgen und ich ...“ Mit einer energischen Handbewegung brachte sie ihn zum Schweigen.

„Ich weiß, was du sagen willst, aber glaube mir, es ist das Beste für dich. Im Übrigen hast du genug damit zu tun, dir beziehungsweise deinem Nachfolger neue Möbel anzufertigen und die Tür zu reparieren. Ich habe bereits den Zimmermann verständigen lassen. Er wird heute Nachmittag kommen und dir Material sowie Werkzeug bringen. Und nun geh.“ Dantra war sich im Klaren darüber, dass jeder weitere Versuch, gegen ihre Entscheidung zu protestieren, vergebens wäre. Im Nachhinein wunderte er sich sowieso, dass sie so verhalten reagiert hatte, als er ihr ins Wort gefallen war. „Und Dantra“, fügte Schwester Burgos noch hinzu, als er sich bereits in Richtung Tür bewegte, „rede so wenig wie möglich über diesen Vorfall.“ Geknickt und mit den Nerven am Ende verließ er die Leitungsstube und schleppte sich zum Klassenzimmer, wo der Unterricht bereits begonnen hatte.

Die nächsten beiden Tage zogen an ihm vorüber, als steckte er nicht in seinem Körper. Seine Gedanken drehten sich nur noch um die eine Frage: Wie sollte er sie beschützen, wenn er nicht einmal das Haus verlassen durfte?

Als er am Tag von Tamis 19. Geburtstag aufwachte, hatte er die Antwort darauf noch immer nicht gefunden. Am liebsten wäre er für immer auf seiner frisch reparierten Pritsche liegen geblieben. Sein Magen rebellierte vor Nervosität und seine Augen brannten vor Müdigkeit, da noch nicht viel Zeit vergangen war, seit der Schlaf seinem Grübeln ein Ende bereitet hatte. Er verspürte das erste Mal seit vielen Jahren das Bedürfnis zu weinen. Vom Gedanken des Abschieds niedergeschlagen, warf er widerwillig seine Nachtdecke zurück, die er sich bis über beide Ohren gezogen hatte, und blinzelte nun in das helle durchs Fenster scheinende Morgenlicht. Um sich an dieses zu gewöhnen, brauchte er meistens etwas länger. Jedoch nicht an diesem Tag. Denn schon nach dem zweiten Blinzeln bemerkte er, dass irgendetwas Großes, Schwarzes vor seinem Fenster saß. Blitzartig richtete er sich auf.

„Das gibt es doch nicht.“ Dantra traute seinen Augen kaum. Vor seinem verschlossenen Kammerfenster saß ein pechschwarzer Rabe, der nun, da Dantra ihn gesehen hatte, mit seinem Schnabel gegen die Scheibe klopfte. Natürlich war es für Dantra unmöglich zu sagen, ob es derselbe Rabe war, den er kurz vor dem für ihn immer noch unerklärlichen Gewaltakt auf seine Einrichtung gesehen hatte. Doch die Wut, die er seinerzeit empfunden hatte, kehrte umgehend zurück. Denn es war gleich, ob es derselbe oder ein anderer war - Rabe blieb Rabe. Damit saß innerhalb kürzester Zeit wieder ein Vorbote des Todes auf seinem Fensterbrett. Und dies gerade an dem Tag, an dem Tami das Klosterwaisenhaus, in dem sie beide lebten, seit Dantra denken konnte, verlassen musste. Gerade in dem Moment, als seine Stimmung den absoluten Tiefpunkt erreicht hatte, war dieses Vorzeichen zum wiederholten Male erschienen und sah ihm erneut direkt in die Augen.

Die abstruse Möglichkeit, dass ein gewöhnlicher Rabe etwas mit seiner zerstörten Stube zu tun hatte, und die Befürchtung, dass er zurückgekehrt war, um nun ihm Schaden zuzufügen, verwarf Dantra schnell. Bebend vor Zorn sprang er auf und eilte zum Fenster. Dabei schimpfte er lauthals los und fuchtelte zusätzlich mit seinen Armen, als kämpfte er bereits mit dem Tier. Der Rabe jedoch zeigte sich von seinem Wutausbruch unbeeindruckt. Er tickte mit seinem Schnabel unbekümmert weiter gegen die Scheibe, als säße Dantra noch immer schweigend auf seiner Pritsche. Irritiert von diesem für einen Vogel ungewöhnlichen Verhalten, hielt er vor ihm inne und sah ihn zweifelnd an. Obwohl sein Puls raste, blieb sein Verstand klar. Und so bemerkte er schnell, dass der Rabe mit beiden Krallen ein zusammengerolltes Stück Pergament hielt, das durch den festen Druck beinahe zerquetscht wurde.

Zögerlich hob Dantra seine Hand und entriegelte das Fenster. Als er es einen Spalt geöffnet hatte, hüpfte der Rabe von der Pergamentrolle herunter. Bevor das Tier sich wegdrehte, hatte es den Anschein, als neige es sein schwarz gefiedertes Haupt, dann flog es zielstrebig davon. Dantra sah dem Raben nach, bis dieser hinter den benachbarten Häusern verschwunden war. Nun fiel sein Blick wieder auf die Pergamentrolle. Er nahm sie vorsichtig zwischen zwei Fingern hoch. Sie war mit einem Symbol versiegelt, das Dantra nicht kannte. Es schien, als wäre ein E mit einem C zusammengedreht worden. Ganz langsam knickte er das Siegel, bis es brach, und entrollte das Schriftstück. Im Nachhinein war er sich nicht mehr ganz sicher, was er erwartet hatte, denn er öffnete das Pergament mit weit über die Brüstung hinausgestreckten Armen. Fakt war aber, dass nur einige Zeilen darauf geschrieben standen. Also verriegelte er das Fenster und setzte sich wieder auf die Pritschenkante. Er rollte die Botschaft erneut aus und las die mit schwarzer Tinte geschriebenen Sätze.

Ich kenne deine Sorgen und kann sie gut verstehen. Ich kann dir zwar nicht schreiben, wer ich bin, hoffe aber, dass du meine guten Absichten erkennst und richtig handelst. Sag deiner Schwester, sie soll sofort und ohne Umwege zum Waldrand kommen, wo der Wieselbach aufs freie Gelände fließt. Vernichte dieses Schreiben und rede, Tami ausgenommen, mit niemandem darüber!!!

Als Abschluss hatte der anonyme Schreiber erneut ein großes E mit einem verschnörkelten C darunter geschrieben. Die Nachricht war in einer weißen, dickflüssigen Farbe und in breiter Schrift verfasst. Dantra starrte hoffnungslos verwirrt auf das Stück Pergament. Er wurde das beklemmende Gefühl nicht los, er schliefe noch und wäre dabei in einen tiefen Traum gefallen, der ihm so realistisch vorkam, dass es ihn schauderte. Er legte das Schriftstück zur Seite, stand auf und ging nochmals zum Fenster. Nachdem er es geöffnet hatte, beugte er sich weit hinaus und nahm einen tiefen Atemzug frischer Luft. Dann drehte er seinen Kopf und sah in die morgendlichen Sonnenstrahlen, die die kleine Gasse, an der sein Fenster lag, mit Licht fluteten und die ihn so stark blendeten, dass er seine Augen zukneifen musste. Nun schaute er zurück zu der geheimnisvollen Botschaft auf seiner Pritsche. „Sie ist noch da. Also ist es kein Traum?“ Diese Feststellung beruhigte ihn zwar nicht gerade, aber ein Funken Hoffnung, was die Zukunft seiner Schwester betraf, keimte in ihm auf.

Er nahm das Pergament wieder in die Hände und las es sich erneut durch. „Wer weiß von meinem Problem? Wer weiß, dass ich Angst um Tami habe? Eigentlich doch nur die Schwester Oberin. Aber ... nein!“ Der Gedanke war viel zu abwegig. Sie lebte streng nach den Regeln des Klosters und vor allem nach denen der Drachen. Diese besagten ganz klar, dass das Dressieren von Tieren jeder Art für Normalsterbliche streng verboten war. Nur mit einer schriftlichen Erlaubnis des führenden Dullpins des Ortes war man berechtigt, einen Wachhund abzurichten. Aber alles, was darüber hinausging, zog eine harte Bestrafung nach sich. Außerdem konnte sich Dantra nicht vorstellen, dass Schwester Burgos, die für ihre Ungeduld allseits bekannt war, so gute Nerven besaß, dass sie einen so langen Lernprozess, wie er zweifelsohne erforderlich war, wenn man einen Raben zähmen wollte, durchhalten würde.

 

Es konnte niemand aus dem Kloster sein, so viel war sicher. Aber wer dann? In den Geschichten von Schwester Cesena hatte er oft gehört, dass es Hexen seien, die mit Vorliebe Raben als Boten in die Außenwelt schickten. Doch die Vorurteile gegenüber Frauen, die man aus unterschiedlichsten Gründen als Hexen bezeichnete, waren Dantra zuwider. Und das nicht ohne Grund. Er selbst hatte noch nie eine Frau gesehen, der man eindeutig nachweisen konnte, eine Hexe zu sein. Und er kannte auch niemanden, der etwas anderes zu erzählen vermochte. Daher hatte er große Zweifel, ob diese überhaupt existierten. Aber vor allem war es die eine bestimmte Sorge, die ihn schon sein halbes Leben beschäftigte und die ihn nur bei dem Gedanken an Hexen bereits verzweifeln ließ. Denn die Angst betraf seine Schwester. Die Gefahr, dass sie der Hexerei beschuldigt werden würde, war immens. Und das nur, weil sie außergewöhnlich schön war. Aus dem Unterricht über gottlose Kreaturen wusste Dantra, was mit Menschen geschehen konnte, wenn sie außergewöhnliche Fähigkeiten besaßen, wozu leider auch besagte übermäßige Schönheit zählte. Und die Tatsache, dass Tami stumm war, machte die Lage für sie nicht besser. Ganz im Gegenteil. Jegliche Anormalität wurde einem als belastender Hinweis auf Hexerei ausgelegt. Käme es also tatsächlich zu einer Verurteilung, würde ihr junges Leben ein qualvolles Ende auf dem Scheiterhaufen finden. Die Furcht vor dem, was Tami an Leid erfahren konnte, wenn sie das Kloster verließ, war nicht übertrieben. Die Ordensschwestern selbst hatten diese Angst vor einigen Jahren geschürt und durch ihr Handeln noch untermauert.

Es war ihr Schicksalsgeburtstag, an dem sich das Verhalten der Schwestern gegenüber Tami grundlegend verändert hatte. Denn sie hatte die Frage verneint, und so waren sich die Schwestern einig gewesen, dass sie sie zukünftig nur mit einer ausnahmslosen Abschirmung von der Außenwelt bis zu ihrem Übergang in das selbstständige Leben beschützen konnten. Aus diesem Grund untersagten sie ihr jegliches Verlassen des Klostergeländes. Der betitelte Geburtstag war der vierzehnte gewesen, an dem jedes Mädchen, das im Klosterheim wohnte, eine Entscheidung fürs Leben treffen musste. Wenn sie sich entschlossen, dem Orden beizutreten, wurde ihnen eine Nonnentracht übergezogen und sie durften von dem Tage an am Unterricht teilnehmen, den die Jungs bereits mit sieben Jahren erhielten. Zog es sie aber eher zu einem bürgerlichen Leben, so bekamen sie die Ausbildung, die die meisten Mädchen erhielten, die bei ihren Familien lebten. Putzen, Wäsche waschen, kochen und die, wie man ihnen sagte, hohe Kunst, ein Feld richtig zu bestellen.

Die Fähigkeit des Schreibens, Lesens und des Rechnens war dem männlichen Geschlecht vorbehalten. Sie waren es, die die Geschäfte tätigten, Handel betrieben und die Bedürfnisse des Ortes und der Gemeinde gegenüber dem zuständigen Dullpin, dem Ordnungshüter der Drachen, vertraten. Es war vorherbestimmt, dass die Jungs bereits mit siebzehn das Kloster verließen, die Mädchen hingegen erst mit neunzehn. Die geltende Begründung war der Schutz vor den sündigen Verführungen, die überall lauerten und denen Frauen in jungen Jahren eher verfielen. Dantra hatte jedoch bereits früh erkannt, dass die Mädchen nur so lange wie möglich ans Kloster gebunden werden sollten, weil sie überaus günstige Arbeitskräfte waren, auf die man in diesen schweren Zeiten nicht verzichten wollte und konnte.

„Also“, Dantra hielt das Pergament immer noch in der Hand und ging nun unruhig in seiner Kammer auf und ab, „dass mir gerade eine Hexe schreibt und mir helfen will, ist doch sehr weit hergeholt. Wer auch immer der Absender dieser Botschaft ist, die Gewissheit, dass ich ihm vertrauen kann, habe ich nur, wenn ich ihn vorher persönlich treffe. Aber wie? Ich darf das Gebäude ja nicht verlassen.“

Er raufte sich vor Ratlosigkeit die Haare. Was sollte er tun? Sollte er seine Schwester zu einem völlig Fremden schicken. Zu jemandem, den er noch nie gesehen hatte? Dessen Charakter er nicht kannte und dessen Absichten ihm völlig rätselhaft waren? Obgleich ihre Überlebenschancen sehr gering waren, bis er wieder die Möglichkeit hatte, auf sie zu achten, wusste Dantra trotz allem nicht, ob das der richtige Weg war. „Ich muss das Risiko eingehen. Alleine kommt sie auf keinen Fall zurecht. Und wenn derjenige mich kennt, so wie es ja den Anschein macht, dann weiß er, dass er ihr lieber nichts antun sollte.“

Der Versuch, sich selbst Mut zu machen und diese schwierige Entscheidung zu treffen, hatte nur kurzzeitig Erfolg. Gerade einmal so lange, bis er sich von Tami verabschiedet und ihr den genauen Ort erklärt hatte, wo sie sich unverzüglich einfinden sollte. Denn schon kurz nachdem die Hofpforte hinter ihr geschlossen wurde, kamen ihm erste Zweifel. Der Tod unter den wüsten Beschimpfungen der Dorfbewohner auf dem brennenden Scheiterhaufen konnte human sein, verglichen mit dem, was der mysteriöse Fremde mit ihr machen konnte. Und egal, wie groß Dantras Zorn gegenüber dem Peiniger seiner Schwester wäre, und auch wenn diese unbändige Wut nicht gekannte Kräfte in ihm wecken würde, war er ihm vielleicht dennoch hoffnungslos unterlegen. Dann könnte er zwar um seiner Ehre willen durch den übermächtigen Feind in den Tod gehen, Tami jedoch würde es auch nichts mehr nützen.

Die folgenden Tage und Wochen kamen Dantra vor, als würden sie sich im Kreis drehen und niemals ein Ende finden. Er lief wie in Trance durch sein Alltagsleben. Im Unterricht glänzte er durch Unaufmerksamkeit, sodass er nicht selten von Schwester Melk zurechtgewiesen wurde. In den Pausen bemerkte er nicht einmal die hämischen Bemerkungen von Biff. Und in seiner Freizeit verharrte er schweigend und in Gedanken vertieft auf seiner Stube. Mehrmals täglich sah er auf sein Fensterbrett. Aber weder ein Rabe noch eine abgelegte Papyrusrolle war dort zu sehen. Nichts, was darauf hindeutete, dass es Tami gut ging. In einem leichtsinnigen Moment hatte er den Entschluss gefasst, sich unerlaubt vom Klostergelände zu entfernen, um nach ihr zu suchen. Er verwarf jedoch den Gedanken, noch bevor er sich von seiner Pritsche erhoben hatte. Würden sie ihn erwischen, so wäre die Schwester Oberin gezwungen, ihn nach seinem offiziellen Übergang in das selbstständige Leben an den Dorfdullpin zu überstellen. Dabei würde er nur noch weitere wertvolle Zeit verlieren. Denn die Vorschriften des Klosterheimes waren auf die Gesetze der Drachen abgestimmt. Bei gewissen Verfehlungen war es daher auch der lange Arm des Drachengesetzes, der die dafür festgelegte Bestrafung einforderte. Somit blieb ihm nur eines, was er tun konnte: warten.

Nach dem geltenden Drachenkalender war ein Jahr in vier Viertel eingeteilt. Ein jedes hatte einundneunzig Tage. Wenn die ersten Blätter fielen und die Kürbisernte anstand, begann das Imberviertel. Gefolgt, zusammen mit dem ersten Schnee, vom Frigusviertel. Dem schloss sich das Viertel Floridus an, das Umbrarus die Farbenpracht wieder zurückgab. Der momentan herrschende Jahresabschnitt hieß Calor. Es war die wärmste Zeit und für viele auch die schönste.

Der 57. Tag dieses Viertels war angebrochen, und es war Dantras siebzehnter Geburtstag. Der Tag, dem er so sehnlich entgegengefiebert hatte. Der Tag, an dem er endlich diese erdrückenden Mauern, die zumeist engstirnigen Schwestern und vor allem Mitschüler wie Biff für immer hinter sich lassen würde. Aber vor allem war es der Tag, an dem er die Gewissheit darüber erlangte, wie es Tami ging. Ob es die richtige Entscheidung gewesen war, sie zu dem unbekannten Verfasser der mysteriösen Botschaft zu schicken. Denn seine schlimmsten Befürchtungen wurden noch dadurch bestärkt, dass er selbst an seinem Entlassungstag keine Pergamentrolle bekommen hatte, auf der ihm beschrieben wurde, wo er sich einzufinden hatte oder wo er seine Schwester finden konnte.

Nervös und ungeduldig, wie er an diesen Morgen war, lief er die steinerne Wendeltreppe viel zu schnell hinunter, sodass er die letzten zwei Stufen ungewollt mit einem Schritt nahm, sein Gleichgewicht verlor und unsanft auf dem harten Boden aufschlug. Die Schmerzen hielten sich in Grenzen, allerdings bemerkte er, dass ihm sofort die Schamröte ins Gesicht stieg. Denn man konnte vom Essenssaal den Treppenansatz sehr gut einsehen. Allerdings blieb das schadenfrohe Gelächter seiner Mitschüler wider Erwarten aus. Während er sich aufraffte, bemerkte er, dass noch niemand von den anderen da war. Seitdem er im Eberbachkloster lebte, hatte er es noch nie geschafft, der Erste beim Frühstück zu sein. Nur Schwester Casale, vom Geräusch des Aufpralls angelockt, schob ihr rundes Gesicht hinterm Rahmen der Küchentür hervor. Ihr verwunderter Ausdruck, weil sie ihn um diese Zeit schon hier unten sah, wich ziemlich schnell einem, der so viel bedeutete wie „Typisch Dantra“. Denn gerade in letzter Zeit waren ihm Missgeschicke wie dieses öfter passiert.

Nach dem Frühstück, das er mehr verschlungen als gegessen hatte, stand er, wie er es schon so oft bei älteren Schülern gesehen hatte, mit seinen paar Habseligkeiten in ein Jutetuch gewickelt vor der Leitungsstube der Schwester Oberin. Eingestellt auf die obligatorische Pause zwischen seinem Klopfen und dem auffordernden „Herein!“, zuckte er erschrocken zusammen, als sich der Knauf, den er bereits in der Hand hielt, drehte und die Tür mit Schwung aufgezogen wurde. Schwester Burgos stand ihm zunächst wortlos gegenüber und sah ihn ohne jegliche Regung an.

„Guten Morgen, Dantra. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag und Gottes Segen“, sagte sie schließlich trocken. „Wie kann ich dir helfen?“

„Äh ... ich ... äh ...“ Verblüfft und fragend starrte er sie an. „Sie hat nicht vergessen, dass ich Geburtstag habe“, dachte er, „sonst hätte sie mir ja nicht gratuliert. Also muss sie doch genau wissen, was ich von ihr will.“ Völlig irritiert startete er einen zweiten Versuch, sein Anliegen vorzubringen. „Also, ich habe doch Geburtstag und ich ... äh ... also heute ...“

„Ja, ja“, unterbrach sie ihn grinsend, „ist schon gut. War doch nur ein Scherz. Natürlich weiß ich, was du willst.“

Dantra konnte es nicht glauben. Er kannte diese Frau bereits sein Leben lang, und sie war der einzige Mensch, mit Ausnahme von Schwester Arundel, den er noch nie hatte lachen sehen, geschweige denn einen Scherz machen. Und gerade heute, an seinem letzten Tag, gerade da hielt sie ihn zum Narren. Seine Fassungslosigkeit wuchs noch weiter, als Schwester Burgos fortfuhr. „Du kannst uns noch nicht verlassen. Zumindest nicht heute Morgen. Pater William, der natürlich an deiner Verabschiedung teilnehmen möchte, ist zu einem Sterbenden gerufen worden, um ihm die letzte Beichte abzunehmen. Also bring deine Sachen zurück in deine Kammer und begib dich in den Unterrichtsraum.“

Sie drehte sich um und war bereits im Begriff zu gehen, als Dantra den Mund öffnete und ein entrüstetes „Aber ...“ hervorbrachte. Sie wirbelte herum und musterte ihn gleichermaßen empört wie erstaunt. Für gewöhnlich war eine Unterhaltung beendet, wenn sie sich abwandte. Daher war sie es nicht gewohnt, wenn ihr jemand das Fortführen eines Gespräches aufzwang, welches sie als abgeschlossen betrachtete.

Von ihrem nun habichtähnlich aussehenden Gesichtsausdruck eingeschüchtert, beruhigte sich Dantras Stimme umgehend. „Die Beichte?“, fragte er vorsichtig. „Die dauert doch sicher nicht lang, oder?“ Sie zog ihren Mund spitz nach vorn und sah ihn überlegend an. Dantra war sich schnell sicher, dass er anstatt einer Antwort nur eine lautstarke Rüge erhalten würde und die Aufforderung, sich in Geduld zu üben. Doch ihr Gesicht entkrampfte sich wieder.

„Ich kenne nicht den Umfang dessen, was die betreffende Person zu beichten hat, aber ich gehe davon aus, dass es nicht lange dauert“, erklärte sie ihm schließlich. „Jedoch nimmt es zu viel Zeit in Anspruch, um währenddessen tatenlos im Gang herumzustehen. Also glaube mir, wenn ich dir sage, dass wir dich nicht länger warten lassen als unbedingt nötig, und nun tu, was ich dir aufgetragen habe.“ Bevor sie sich erneut von ihm abwandte, sah sie ihm nochmals tief in die Augen. Dantra war natürlich sofort klar, was ihm das sagen sollte. Sie würde auf keinen Fall einen weiteren Versuch, Antworten von ihr zu bekommen, dulden. Geknickt brachte er wie angeordnet seine Sachen zurück in seine Kammer und ging in den bereits begonnenen Unterricht. Die anderen musterten ihn fragend. Schwester Melk jedoch ließ nicht zu, dass irgendeine Art von Unruhe aufkam, was Dantra nur recht war. Denn wenn er in diesem niederschmetternden Moment zu etwas keine Lust hatte, dann war es, Erklärungen abzugeben.

 

Der Tag zog sich schleichend dahin. Er musste zwar nach der Schule keinerlei Arbeit mehr verrichten, das Warten jedoch wurde so nur noch unerträglicher. Es war bereits später Nachmittag, als es plötzlich an seiner wiederhergestellten Kammertür klopfte und sich im selben Moment der Türknauf drehte. Schwester Arundel sah kurz herein und murmelte etwas, das Dantra als „Komm runter!“ deutete. Er schnappte sich seine Sachen und eilte ihr nach.

Im Speisesaal standen die Schwestern wie an einer Schnur aufgezogen nebeneinander. Doch Pater William war nicht zu entdecken. Nach einem kurzen, unsicheren Zögern schritt Dantra auf Schwester Burgos zu und fragte sie leise, so als wollte er, dass die anderen es nicht mitbekämen, wo er sei.

„Es dauert doch länger als erwartet“, antwortete sie ihm, allerdings nicht mit gedämpfter Stimme. „Wie sich herausstellte, hatte der Sterbende sein Schicksal mit einem langsam wirkenden Gift selbst gewählt. Doch da er bis vor Kurzem noch regelmäßig unsere Messe besucht hat, ist Pater William bemüht, ihm als letzte Ruhestätte einen Platz auf dem Friedhof zu besorgen. Da das allerdings im Falle eines freiwilligen Ablebens nicht gern gesehen wird, nimmt dieser Fall nun leider mehr Zeit in Anspruch als gehofft. Und damit du noch ausreichend Gelegenheit hast, dir vor der Dunkelheit ein Nachtquartier zu suchen, habe ich beschlossen, dass wir nicht länger warten.“

Dantra begann, die ihm entgegengestreckten Hände von links nach rechts zu schütteln und die manchmal nicht ehrlich klingenden Segenswünsche für seine Zukunft entgegenzunehmen. Er bedauerte, dass der Platz an dem Pater William für gewöhnlich bei Verabschiedungen stand, leer blieb. Der Priester war wohl der Einzige, den Dantra vermissen würde. Pater William hatte nie ein böses Wort an ihn gerichtet. Ganz im Gegenteil. Wenn sie sich irgendwo zufällig begegnet waren, hatte er ihn immer mit einem freundlichen Lächeln gegrüßt. Während Dantra noch überlegte, ob er auf ihn warten sollte, schob ihn Schwester Burgos bereits mit einem sanften Druck auf die Schulter in Richtung Ausgang.

Als sich die Klosterpforte geschlossen hatte und er sich draußen auf der Straße befand, verblassten seine Überlegungen. Es war höchste Zeit, Tami zu suchen. Mit schnellen Schritten machte er sich auf den Weg zum Waldrand, wo sich der Wieselbach aufs offene Gelände schlängelte. Es war der einzige Anhaltspunkt, den er hatte. Als er das Dorf hinter sich ließ und der schier endlos aussehende Wald vor ihm lag, begann er, mit seinen Augen dessen Rand abzusuchen. Die bereits einsetzende Dämmerung war nicht gerade hilfreich, wenn es darum ging, irgendjemanden oder irgendetwas dort zu erkennen. Und auch als er die besagte Stelle erreichte, wo der ruhig dahinplätschernde Bach die letzten Baumreihen passierte, war nichts und niemand zu sehen. Seine Nervosität wuchs und seine Sorge um Tami ließ ihn ziellos am Waldrand auf und ab laufen. Nach einer Weile bemerkte er die Sinnlosigkeit seines Handelns und nahm erschöpft und den Verzweiflungstränen nahe auf einem Baumstumpf Platz. Er stützte seine Ellenbogen auf die Knie und ließ seinen Kopf hängen.

Da er den Brief, so wie es der anonyme Schreiber von ihm verlangt hatte, im Feuer vernichtet hatte, versuchte er sich nun, so gut es ging, an dessen Inhalt zu erinnern. Vielleicht hatte er etwas übersehen oder etwas Wichtiges vergessen, was ihm nun weiterhelfen konnte. Sein Kummer und seine angestrengten Überlegungen brachten ihm anstatt einer Lösung nur Kopfschmerzen. Resigniert sah er auf den kleinen Ort nieder. Er hatte keine Ahnung, wie es nun mit ihm weitergehen sollte, aber in einer Sache war er sich sicher: Mit diesem Dorf hatte er abgeschlossen. Erst dieses und seine Bewohner hatten ihn doch in diese Situation gebracht. Sie waren schuld daran, dass er Tami wegschicken musste. Sie waren es, die seine Schwester nie akzeptiert hätten.

Die dicht zusammenstehenden Häuser, die erdrückende Stimmung, die von ihren rückständig denkenden Bewohnern ausging, war ein größeres, aber dennoch haargenaues Abbild des Klosters. Neben seiner Schwester gab es nur einen weiteren Menschen, der seine Gedanken wie auch sich selbst nicht freiwillig gefangen hielt. Und genau diesen, so dachte Dantra, sähe er gerade unten auf dem Hauptzufahrtsweg, dort, wo er sich von einer engen Gasse zu einer breiten Landstraße mauserte. Er versuchte, seinen Augen noch etwas mehr Schärfe abzugewinnen, doch das schwindende Licht verhinderte ein eindeutiges Erkennen. Wer das dort unten auch war, er schien nach jemandem Ausschau zu halten. Er lief hin und her, als sei er sich nicht sicher, ob er im Dorf weitersuchen oder doch lieber die Straße in Richtung Wald ablaufen sollte.

Plötzlich konnte Dantra die Kleidung des Mannes ausmachen und dies ließ seine Zweifel versiegen. Er trug eindeutig eine Mönchskutte. Dantra stand auf und war schon im Begriff, laut rufend hinunterzulaufen, als eine alte, kratzende Stimme ihn erschrocken herumfahren ließ.

„Lass uns gehen, es ist schon viel zu spät!“ Hinter ihm stand eine alte, leicht buckelige und mürrisch aussehende Frau. Sie hatte unzählige tiefe Falten in ihrem blassen Gesicht, von denen nur die riesige Hakennase ablenkte. Die beiden ihn ungeduldig betrachtenden Augen besaßen denselben Schwarzton wie die des Raben auf ihrer Schulter. „Nun mach schon“, trieb sie ihn erneut an, „wir müssen uns beeilen.“

Dantra sah sie entsetzt an. „Ihr, Ihr seid eine Hexe!“