Drachengabe - Halbdunkel

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Aus der Reihe: Drachengabe #1
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Nun kam auch wieder die Neugierde zurück. Er wollte unbedingt wissen, was die Hexe so interessant fand, dass sie ihn erst gar nicht beachtete. Den Schmerzen und seiner Trägheit zum Trotz setzte er sich auf. Er entdeckte, dass die Hexe sich nach einem abgeknickten Baum gebückt hatte und ihn ganz genau begutachtete. Als er sich weiter umsah, bemerkte er, dass sämtliche Bäume, die an die Lichtung angrenzten, in dem gleichen Zustand waren wie derjenige, den seine Begleiterin untersuchte. Sie waren alle von der freien Fläche ausgehend, und damit von ihm weg, in Richtung Wald abgeknickt. Zum Teil hatte es sogar die in der zweiten Reihe stehenden Bäume erwischt. Nur die alte Eiche, von einigen kleineren abgebrochenen Zweigen abgesehen, hatte den Wirbelsturm, der hier gerade gewütet haben musste, überlebt.

„Was ist passiert? Wer war das?“, fragte Dantra erstaunt.

Die Hexe ließ von dem zersplitterten Stamm ab und kam wieder zu ihm herüber. „Du warst das“, sagte sie mit einer Selbstverständlichkeit, als würde Dantra das öfter machen.

„Ich? Aber ... ich ... Wie?“

„Du hast eine Kraft in dir, wie ich sie bei einem Normalsterblichen noch nie gesehen habe“, erklärte sie ihm. „Es ist eine magische Energie, bei deren Ausbruch man lieber nicht in der Nähe sein sollte. Ist es möglich, dass du Einhornblut in dir trägst?“

„Was? Wie meint Ihr das?“ Er sah sie fragend an. „Ich kenne Einhörner nur aus den Märchen von Schwester Cesena“, fuhr er fort. „Und selbst wenn es sie wirklich gäbe, so hätte ich sicher nicht ihr Blut in mir.“ Die Vorstellung, dass das Blut eines Tieres durch seine Adern flösse, und sei es noch so magisch, erfüllte ihn mit Ekel.

„Du musst noch viel lernen“, stellte die Hexe nüchtern fest und wandte sich von ihm ab. „Komm, wir gehen zurück.“

Dantra kämpfte sich hoch und schloss zu ihr auf. Ihn überkam die Müdigkeit, die auch schon nach seinem ersten zerstörerischen Wutausbruch Besitz von ihm ergriffen hatte. Aber das und der für seine körperliche Verfassung wieder viel zu schnelle Schritt der Hexe konnten ihn nicht davon abbringen, sie mit Fragen zu löchern. „Was muss ich noch lernen und wieso habe ich diese Energie? Gibt es wirklich Leute, die dieses Einhornblut in sich haben?“

„Das ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen“, erklärte ihm seine Begleiterin, „das Einhorn ist das Symbol der Zaubermagie. Wenn man jemanden fragt, ob er einen magisch begabten Vorfahren in seinem Stammbaum habe, dann redet man vom Blut des Einhorns. Also, ja oder nein?“

Dantra sah fragend zu ihr hinüber. „Was, ja oder nein?“

„Na, hast du nun jemanden mit magischen Kräften in deiner Familie oder nicht?“

„Woher soll ich das wissen? Die Einzige, die ich aus meiner Familie kenne, dürfte wohl gerade in Eurer Küche stehen und das Abendessen vorbereiten. Und die hat garantiert kein magisches Blut in sich, da bin ich mir sicher.“

„Nun, da ich auch nicht viel mehr über deine Herkunft weiß, macht es wenig Sinn, in dieser Richtung weiter nachzuforschen.“ Für einen lang gezogenen und steilen Anstieg unterbrach Dantra seine Fragenflut, da er die Luft zum Atmen brauchte und ohnehin über das bisher Gehörte nachdenken musste.

Endlich auf der Hügelkuppe angekommen ließ er seinem Drang nach Antworten wieder freien Lauf. „Wie meint Ihr das, Ihr wisst auch nicht viel mehr? Ich meine, was ist denn das wenige, was Ihr wisst und ich nicht?“

„Nun, ich weiß, dass dein Vater einst ein Dullpin war.“

„Wollt Ihr mir jetzt etwa erzählen, er wäre ein Scherge der Drachen gewesen?!“, schrie Dantra sie unvermittelt an. „Das glaube ich Euch nicht! Auch wenn ich ihn nicht kenne, so solltet Ihr Euch dennoch vorsehen, so respektlos von ihm zu reden!“ Er war stehen geblieben und sah sie mit vor Wut funkelnden Augen an.

„Beruhige dich wieder. Erstens gibt es hier keine dicke Eiche, hinter der ich mich in Sicherheit bringen könnte, und zweitens habe ich nie behauptet, dass dein Vater den Drachen gedient hat.“

„Aber Ihr sagtet gerade, er wäre ein Dullpin gewesen, und diese unterstehen dem direkten Befehl der Drachen.“

„Das ist richtig. Jedoch waren seinerzeit die Dorf- und Stadtschützer, die Dullpins, noch keine Zerrocks wie heute, sondern ehrenvolle und mutige Männer aus der Gegend.“

„Also war mein Vater ein Krieger?“ Dantras Verwunderung über diese Erkenntnis war nicht zu überhören.

„In der Tat, das war er“, erklärte die Hexe, während sie ihren Weg fortsetzte. „Und nach allem, was ich weiß, ein tapferer und sehr guter noch dazu.“

Dantra brauchte noch einen Augenblick, um seine Gedanken wieder zu sortieren. Dann drehte er sich ebenfalls zurück in Marschrichtung, um der Hexe nachzusetzen. Er blieb jedoch beim ersten Schritt mit dem Fuß an einer aus dem mit Laub und Zweigen bedeckten Waldboden ragenden Wurzel hängen, sodass er die unsanfte Bekanntschaft mit einer Nacktschnecke machte, die den Aufprall seines Kopfes auf dem harten Boden unfreiwillig abdämpfte und dieses mit ihrem Leben bezahlen musste. Dantra rappelte sich sofort wieder hoch, in der Hoffnung, die Hexe habe sein Missgeschick nicht bemerkt. Aber sie war bereits stehen geblieben und wartete, den Blick auf ihn gerichtet, bis er auf ihrer Höhe war.

„Dass du allerdings jemals so ein großer Krieger wirst, ist eher zweifelhaft“, sagte sie und schnipste mit ihrem Zeigefinger die Schnecke von seiner Stirn, die dort noch, von Dantra unbemerkt, klebte.

Was aus ihm in der Zukunft werden würde, war ihm im Moment völlig egal. Er hatte zu viele unbeantwortete Fragen in seinem Kopf, als dass dort für so einen Gedanken Platz wäre. „Habt Ihr ihn persönlich gekannt? Was ist aus ihm geworden? Lebt er noch?“ Bei der letzten Frage wurde ihm schlagartig klar, dass es darauf nicht die richtige Antwort gab. Wenn er tot wäre, würde dies das jahrelange Hoffen, ihm eines Tages gegenüberstehen zu können, unwiderruflich zunichtemachen. Wenn er jedoch noch lebte, so gäbe es keine Entschuldigung dafür, dass Dantra und Tami ihre Jugend in dem von ihm so verhassten Heim verbringen mussten.

„Ich bin ihm nur einmal begegnet“, antwortete die Hexe. „Er stand plötzlich vor mir, als ich einige Pilze, die keine zehn Schritte vor meiner Haustür wuchsen, geschnitten habe. Er sah abwechselnd zu mir, dann wieder zu meiner Hütte. Ihm war natürlich sofort klar, was ich war und wie man im Allgemeinen in diesen von Ignoranz geprägten Zeiten mit Menschen meiner Zunft zu verfahren hatte. Er atmete schwer und seine Hand um den Griff seines im Licht funkelnden Schwertes war so fest, dass seine Fingerkuppen die Farbe verloren. So kniete ich also vor ihm. Wie ein Verurteilter vor seinem Henker. Und es wäre ihm ein Leichtes gewesen, meinem Dasein ein Ende zu setzen.“ Die Hexe war abrupt stehen geblieben und sah Dantra, der nicht so schnell stoppen konnte und ihr aus Versehen in die Hacken getreten hatte, mit ausdrucksloser Miene an. Er wollte sich entschuldigen, doch sie hatte es wohl nicht bemerkt oder ließ sich davon zumindest nicht ablenken. „Aber er tat es nicht“, fuhr sie fort. „Und bei jeder anderen Reaktion hätte ich gedacht, er hatte Angst vor mir. Angst davor, dass ich ihn bei dem Versuch verhexe, sein Schwert in meinem Körper zu versenken. Aber so ...“ Sie schwieg abermals und sah Dantra mit nun völlig leerem Blick und den Gedanken bei längst vergangenen Tagen an.

Doch seine Ungeduld ließ keine längere Pause zu. „Warum? Was hat er denn getan?“, fragte er ungeduldig.

Ihr Blick klärte sich wieder und sie starrte ihn an, als wäre sie erstaunt, ihn zu sehen. „Er reichte mir die Hand“, sagte sie und es klang, als würde es sie heute noch genauso überraschen wie damals.

„Und?“ Dantra verstand nicht, was die Frau so besonders an dieser Reaktion fand.

„Man gibt als Normalsterblicher jemandem wie mir nicht einfach die Hand. Und vor allem nicht, um damit auch noch jener Person auf die Beine zu helfen. Jeder andere hätte versucht, mich zu töten, oder hätte schnellstmöglich das Weite gesucht, um kurz darauf mit dem halben Dorf im Rücken zurückzukehren. Dein Vater jedoch sagte, er wäre seit fast zehn Jahren der Dullpin des Dorfes, das meinem Haus am nächsten liege. Und da ich ihm bis zu diesem Tage noch keinen Ärger gemacht hätte, würde er mir glauben, wenn ich ihm versicherte, dass es dabei auch bliebe.“ Den Blick wieder ins Leere gerichtet, fügte sie noch hinzu: „Es war wohl der ehrlichste Händedruck, den ich je von einem nicht-magischen Wesen bekommen habe.“ Mit diesen Worten drehte sie sich wieder um und setzte ihren Weg fort.

Von da an reagierte sie nicht mehr weiter auf Dantra. Obwohl dessen Fragenberg immer noch viel zu groß war, um zu schweigen. Aber für jemanden, der normalerweise nicht viel Umgang mit anderen Menschen pflegte, hatte die Hexe wohl für den Rest des Tages genug gesprochen. Denn auch nachdem sie in der Hütte angekommen waren, musste Dantra feststellen, dass es wohl leichter wäre, Tami zum Reden zu bringen, als auch nur eine weitere Antwort von der alten Dame zu erhalten. Somit verschob er seine Wissbegier wieder einmal auf den nächsten Morgen.

Das abendliche Schreib- und Lesetraining fiel an diesem Tag aus. Dantra erzählte seiner Schwester, was er heute über ihren Vater erfahren hatte. Die Freude darüber, wer und vor allem was sein Vater war, nahm ihm die eigentlich angebrachte Trübsal wegen des immer noch vorhandenen Unwissens, ob sein Vater noch lebte oder tot war, und übergoss ihn stattdessen mit einem Glücksgefühl, wie er es zuvor noch nie erlebt hatte. Mit dem Gedanken, dass es das Leben an diesem Tage endlich mal gut mit ihm meinte, schlief er früh ein.

Seine Nacht fand jedoch ein jähes Ende, als er von einem spitzen Schrei in seinem Kopf geweckt wurde. Ruckartig setzte er sich auf und sah sich verwirrt in dem dunklen Raum um. Seine Orientierungslosigkeit legte sich erst, als er das ruhige und tiefe Atmen von Tami wahrnahm. Es war wieder dieser Traum gewesen, derselbe, den er auch schon in dem Kellergewölbe des Klosterheims gehabt hatte. War das Zufall? Unwahrscheinlich.

 

Oder hatte es vielleicht etwas mit seinem Gefühlszustand zu tun? Nein, diese Möglichkeit konnte er ausschließen. Beim letzten Mal war er im Gegensatz zu jetzt alles andere als glücklich gewesen. „Dann muss es diese seltsame Kraft sein“, dachte er, „die irgendwo in mir ist.“ An ein Wiedereinschlafen war auch dieses Mal nicht zu denken, und es kam ihm vor wie drei Nächte, bis die Hexe endlich durch die Luke auf sie hinabsah, um sie zu wecken. Noch bevor sie etwas sagen konnte, war er schon aus dem Bett gesprungen. Er zog sich um, ohne darauf zu achten, was Tami machte. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal und stellte sich mit wissbegierigem Blick vor die erstaunte Hexe.

„Was ist passiert? Wurdest du letzte Nacht beraubt? Es kommt mir vor, als hätte man dir deine morgendliche Trägheit gestohlen?“ Dantra überhörte ihre zynische Bemerkung und kam gleich zur Sache. Er schilderte ihr seinen Traum in allen Einzelheiten und seine Theorie, womit er zusammenhängen könnte. Die Hexe schwieg einen Moment und man konnte sehen, dass sie ernsthaft über das gerade Gehörte nachdachte.

„In der Tat kann der Traum mit der magischen Kraft in dir zu tun haben“, antwortete sie. „Ich denke, unsere Übungen in der nächsten Zeit werden uns der Lösung etwas näher bringen.“

„Was für Übungen?“, fragte Dantra verwirrt.

„Na, um die besagte Kraft in dir unter Kontrolle zu bekommen und sie zu beherrschen.“

Er sah sie irritiert an. Wie sollte es ihm gelingen, diese unbändige Zerstörungswelle zu kontrollieren? Wenn sie ausbrach, war er ja nicht einmal mehr Herr seiner Sinne. Aber die Antwort darauf konnte warten. Denn in ihm brannte noch eine andere Frage, die er gestern zwar schon einmal gestellt hatte, worauf die Hexe jedoch nichts erwidert hatte. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend fragte er vorsichtig: „Lebt mein Vater noch?“

Sie sah ihn an und Dantra hatte zum ersten Mal den Eindruck, so etwas wie Mitleid in ihren Augen zu lesen. „Nein“, antwortete sie mit Unbehagen in der Stimme. „Ich weiß zwar nicht, warum oder wie er starb, aber eines ist sicher: Die Zerrocks waren sehr erbost über das, was er kurz vor seinem Tod getan hatte. Sie zerrten seinen Leichnam ins Dorf, riefen alle Bewohner zusammen und hängten ihn an einem Baum auf, obwohl schon lange kein Leben mehr in ihm war. Danach verkündeten sie, dass jeder Dullpin im Drachenreich mit sofortiger Wirkung seines Amtes enthoben und durch einen Zerrock ersetzt werden würde. Und so geschah es, dass im ganzen Land die Dorfbeschützer, Männer mit ehrlichem Blut, durch drachentreue Bastarde ersetzt wurden.“

Dantras Gedanken und Gefühle überschlugen sich. Was hatte sein Vater getan, dass die Folgen so weitreichend gewesen waren? Warum hatten diese Mistkerle ihm nicht die ihm zustehende Ehre eines ordentlichen Begräbnisses erwiesen und stattdessen seine sterblichen Überreste geschändet? Hass stieg in Dantra auf. Warum erfuhr er erst jetzt von alledem? Seine Wut überlagerte seine Trauer. Die Hexe, die dies wohl erkannte, legte ihre knochige Hand auf seine Schulter. Ob es ehrlich gemeintes Mitgefühl war oder ob sie ihn einfach nur beruhigen wollte aus Angst, Dantra könnte ihre Hütte mit einem unkontrollierten Ausbruch seiner magischen Kraft dem Erdboden gleichmachen, blieb dabei unklar. Doch das war auch egal. Seine Wut verschwand nur langsam und er beruhigte sich erst wieder, als Tami durch die Bodenluke heraufkam und ihn mit feuchten Augen ansah.

„Verdammt“, dachte er und ihm wurde schwer ums Herz. „Wie konnte ich sie nur vergessen?“ Sie hatte natürlich alles mit angehört. Und ihm Gegensatz zu ihm war sie auf eine Antwort, selbst wenn sie anders ausgesehen hätte, nicht vorbereitet gewesen. Sie hatte ja gar nicht gewusst, dass er diese Frage stellen wollte. Er ging auf sie zu, und noch bevor er sie erreichte, um sie tröstend in die Arme nehmen zu können, liefen ihr dicke Tränen über die blass gewordenen Wangen. Er kannte seine Schwester nur mit einem Lachen auf ihrem wunderschönen Gesicht. Sie weinen zu sehen, zerriss ihm fast seine Eingeweide. Und alles nur, weil er in seiner Neugierde so unvorsichtig und rücksichtslos gewesen war. Obwohl sie sich recht schnell wieder fing und mit zittrigen Händen ihrer Arbeit nachging, wusste Dantra, dass sie sehr litt. Diesem Tag konnte er nichts Gutes mehr abgewinnen, obgleich ihm die Hexe kaum Arbeit auftrug und die Sonne so warm vom Himmel brannte wie in diesem ganzen Jahr noch nicht.

Am darauffolgenden Tag nahm ihn die Hexe gleich frühmorgens beiseite und ermahnte ihn, seine Fragen im Beisein von Tami mit Bedacht zu stellen. „Im Übrigen beantworte ich dir sowieso nichts mehr, solange du keine Erfolge in deiner Ausbildung vorweisen kannst“, klärte sie ihn über ihre Absichten auf, und Dantra musste feststellen, dass sie diese umgehend in die Tat umsetzte.

Als Erstes schulte sie seine Konzentration. Sie reichte ihm ein Glas, in dem sich braune, bleistiftdicke Raupen wild durcheinanderschlängelten. Sie erklärte ihm, dass die Doppelkopfraupen, ein Insekt, von dem Dantra noch nie etwas gehört hatte, aus dem aufrecht stehenden Glas nicht hinauskriechen konnten. Seine Aufgabe bestand nun darin, die frei gelassenen Raupen wieder einzufangen und zurück in das Glas zu werfen, bevor diese es schafften, von dem Baumstumpf, auf dem die Hexe das Glas entleerte, zu entwischen. Die Schwierigkeit bestand nicht nur darin, dass die Tierchen extrem flink waren, sondern auch, dass man sie nur an ihrem daumenlangen Körper fassen konnte. Denn an den jeweiligen Enden saß ein Kopf, an dessen Stirn sich ein spitzer, mit Widerhaken versehener Stachel befand. Nicht nur, dass es ungeheuer schmerzhaft war, diesen wieder aus dem Finger herauszuziehen, schon der erste Versuch brachte Dantra die Erkenntnis, dass die Raupen außerdem ein Gift absonderten, das dem der Wespe ähnelte.

Wenn ihm einige der Tierchen entkamen und im Unterholz unsichtbar wurden, sorgte die Hexe sofort für Ersatz. So hatte er immer mit der gleichen Anzahl von Raupen zu kämpfen. Es dauerte gut eine Woche, bis er sich so konzentrieren konnte und so schnell war, dass er sämtliche Ausreißversuche vereiteln konnte. Mit einem breiten Grinsen führte Dantra der Hexe sein Können vor. Diese grinste noch breiter zurück und kippte das Glas erneut um. Nun allerdings auf einem Baumstumpf, der gerade mal halb so dick war wie der erste. Obwohl Dantras Finger zum Teil arg angeschwollen waren, übte er dennoch hoch motiviert weiter. Und wenn er noch so oft gestochen wurde, er hatte sich ein festes Ziel gesetzt. Nichts und niemand würde ihn davon abringen. Er wollte diese Kraft in sich beherrschen.

Es machte ihm auch nichts mehr aus, das Wasser für das Blumenbeet, auf dem immer noch kein Keim zu sehen war, wieder aus dem Bach zu holen anstatt aus dem viel näher gelegenen Tümpel. Nun wusste er ja, wofür er sich abplagte. Wenn er seine Schwester in dieser Welt beschützen wollte, musste er an sich arbeiten. Aber er trainierte nicht nur seine Muskeln und seine Konzentration. Die Hexe zeigte ihm auch, wie man Tränke braute, die gegen verschiedenste Leiden wirkten oder mit denen man sich ungebetene Tiere, insbesondere Insekten, vom Leib halten konnte. Dantra war begeistert, in die hohe Kunst der Zauberei eingeweiht zu werden. Die Hexe bremste allerdings seine Euphorie sogleich wieder, indem sie ihm klarmachte, dass man für diese Art von Tinkturen und Heilsäften keinerlei Magie benötigte, sondern lediglich das erforderliche Fachwissen und Handwerkszeug.

***

Es ist so eng. Was ist eng?

Es ist so trüb um mich. Was ist trüb?

Ich muss hier raus! Aber wie? Und wohin?

Ich denke ... Warum denke ich überhaupt?

*

Kapitel 3

Es waren nun fast 50 Tage vergangen, seitdem die Hexe Dantra vom Waldrand abgeholt hatte. Der Sommer hatte seine beste Zeit hinter sich gebracht und es war der erste Morgen, an dem Dantra eine Gänsehaut überkam, als er mit dem Glas Raupen vor die Tür ging. Er hatte große Fortschritte gemacht und wollte diese auch heute weiter ausbauen. Die Hexe jedoch nahm ihm das Glas aus der Hand.

„Es ist an der Zeit, einen Schritt weiterzugehen“, sagte sie. Sie tauschte das Raupenglas gegen ihren Gehstock ein und signalisierte ihm mit einer unmissverständlichen Kopfbewegung, ihr zu folgen. Dantra sparte sich die Frage nach dem Wohin und was der nächste Schritt sei. Die Antwort wäre ohnehin nur auf ein tadelndes Schweigen hinausgelaufen. Und so ging er stumm hinter ihr her, wobei ihm selbstzufrieden auffiel, dass es ihm bei Weitem nicht mehr so viel Mühe bereitete, mit seiner Lehrmeisterin Schritt zu halten.

Ihr Marsch endete in einem Waldstück, in dem die Bäume nicht ganz so dicht beieinanderstanden. Die Hexe zog einen alten Stofflumpen, dessen ursprüngliches Rot kaum noch zu erkennen war, aus ihrer Rocktasche. Sie band ihn um eine junge Fichte, deren Stamm nicht dicker war als der Oberschenkel eines Mannes. Dann platzierte sie Dantra drei Schritte davon entfernt. „Der Lappen hilft dir, dich auf den Baum zu konzentrieren“, erklärte sie ihm. „Du musst versuchen, die magische Kraft in dir auf ihn zu werfen. Ich denke, es wäre gut, wenn du mit deiner Handfläche in seine Richtung zeigst. Vielleicht erhöht das die Chance, deine Energie gebündelter auf das Ziel treffen zu lassen.“ Sie ging einige Schritte zurück und stand nun hinter ihm, um den erhofften Erfolg zu beobachten.

Dantra sammelte seine Gedanken. Er versuchte, in seinem Kopf die Kraft anzusprechen. „Los, komm raus. Komm schon.“ Er drückte bei jedem seiner Versuche die Luft aus seinem Körper und schob dabei seine Hand ein Stück nach vorn, als wollte er etwas von sich wegdrücken. Doch nichts passierte.

„Was machst du denn da?“, hörte er die ungeduldige Stimme der Hexe von hinten. „Verscheuchst du Fliegen? Du sollst nicht pressen wie deine Mutter bei deiner Geburt. Du musst dich auf den Baum konzentrieren und dir bewusst sein, was du vorhast. Wenn das wirklich Magie in dir ist, dann hört sie nicht auf deinen Verstand, sondern weiß, wann sie gefordert ist. Also mach schon, konzentriere dich.“

Dantra bemühte sich erneut. Dieses Mal schloss er die Augen. Natürlich war ihm bewusst, was passieren sollte, doch hatte er keine Ahnung, wo er dieses Wissen hinzuschicken hatte. Er versuchte es, indem er sich sein Ziel tief ins Bewusstsein holte. Doch sosehr er sich auch bemühte, es passierte überhaupt nichts. Die Hexe wurde zunehmend schroffer. „Konzentriere dich, konzentriere dich“, ermahnte sie ihn wiederholt. „Was ist los? Nun mach schon!“

Dantra wurde immer nervöser. Vor ihm passierte gar nichts und hinter ihm rissen die nervigen Ermahnungen der Hexe nicht ab. Es fing an, in ihm zu brodeln. „Ja, ja, ich versuche es ja“, dachte er. Dabei spürte er, wie etwas in ihm aufstieg. Für einen Moment glaubte er, es sei das mal wieder viel zu üppig ausgefallene Frühstück. Dann merkte er jedoch, dass sich das Emporkriechende nicht über seinen Mund entlud. Allerdings auch nicht nach vorne über seinen immer noch ausgestreckten Arm. Als er seine bis dahin fest geschlossenen Augen wieder öffnete, stand die Fichte unverändert in ihrer ganzen Pracht da und der Lappen wehte leicht im auffrischenden Imberwind. Noch in Gedanken an das, was eben geschehen war, hörte er hinter sich wieder die Stimme der Hexe. Doch klang sie nun nicht mehr so laut wie einige Augenblicke zuvor. Was aber nicht daran lag, dass sie leiser sprach. Es war eher so, als befände sie sich weiter weg. Ihren nun noch gereizteren Tonfall konnte Dantra dennoch deutlich vernehmen.

„Wenn du das noch einmal mit mir machst, rühr ich dir ein Gift unter dein Essen, das dir das Gefühl vermittelt, du würdest kopfüber in einem Armeisenhaufen stecken und ein Schwarm Elstern zerhackt dir währenddessen deinen hoch in die Luft gestreckten Hintern.“

Dantra wandte sich um und sah seine Lehrmeisterin zusammengesackt vor dem Stamm einer dicken Tanne sitzen, einige Schritte von dort entfernt, wo sie gerade noch gestanden hatte. In ihrem Gesicht spiegelten sich der Schmerz und die Wut wider, die ihre Stimme bereits angekündigt hatte. Dantra wusste zwar nicht, wie das hatte passieren können, doch eins war sicher: So zornig hatte er die Hexe bisher noch nicht gesehen. Sie rappelte sich so langsam auf die Beine, dass er schon bei ihr war, bevor sie richtig stand. Er wollte ihr helfen, doch sie schlug nach seinen Händen.

 

„Finger weg. So alt, dass mir ein Tölpel, wie du es bist, hochhelfen muss, bin ich noch lange nicht.“ Sie hob ihren Gehstock auf, der ein Stück entfernt liegen geblieben war, und ging in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Dantra folgte ihr wortlos. Sie waren gerade drei Schritte gegangen, als sie sich zu ihm umdrehte und ihn mit zu Schlitzen verengten Augen böse anfunkelte. „Wo willst du hin?“ Er sah sie fragend an. „Du bleibst gefälligst hier und übst weiter. Oder glaubst du, dass du es nach der Vorstellung gerade nicht mehr nötig hast?“ Sie wandte sich wieder von ihm ab und setzte ihren Weg, wütend vor sich hin schimpfend, fort. Nachdem sie schon fast hinter einem übergroßen Brombeerstrauch verschwunden war, rief sie ihm noch mahnend zu: „Und verlass auf dem Heimweg nicht diesen Pfad.“ Dann verstummte sie und auch das Rascheln ihrer Schritte im Laub wurde leiser und hinterließ schließlich eine unbehagliche Stille.

Dantra fiel auf, dass er ohne die Hexe noch nie so tief im Kampen gewesen war. Dennoch oder gerade deswegen hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Der Gedanke jedoch, dass er gerade seine Kraft benutzt hatte, ohne danach ohnmächtig zu werden, zerstreute sein Unbehagen angesichts des Alleinseins und der vermeintlichen Schutzlosigkeit. Auch wenn er mit seiner magischen Kraft das anvisierte Ziel nicht getroffen hatte, so war es ihm dennoch möglich gewesen, sie irgendwie aus sich herauszuholen und punktgenau einzusetzen.

Er stellte sich wieder dem Baum gegenüber auf und konzentrierte sich erneut. Er versuchte nun mehrere Varianten. Als Erstes stellte er sich vor, der Baum würde ihn beleidigen und beschimpfen. Aber es tat sich nichts. Die bloße Vorstellung ließ in ihm keinerlei Wut aufkommen. Dann ging er in Gedanken den kompletten Angriff auf den Baum, bis er gebrochen auf dem Boden lag, immer wieder durch. Doch auch das brachte nicht den erwünschten Erfolg. Es deprimierte ihn sehr, es schon einmal geschafft zu haben ohne die geringste Ahnung, wie.

Der Verzweiflung bereits nahe hatte er noch eine letzte Idee. Er sah den Baum an, schloss erneut für einen Moment die Augen und stellte sich das Gesicht von Schwester Arundel vor. Dann öffnete er sie wieder, betrachtete den Baum erneut, um sich beim nächsten Schließen der Augen das Gesicht seines Erzfeindes Biff ins Gedächtnis zu rufen. Wieder beäugte er den Baum und stellte sich sofort danach die Zerrocks vor, wie sie den Leichnam seines Vaters schändeten. Er merkte, dass er bei diesen Bildern in seinem Kopf wütender wurde, und so wiederholte er die Prozedur wieder und wieder. Doch es geschah rein gar nichts. Nach einigen weiteren vergeblichen Versuchen hörte er resigniert auf. Er senkte den Kopf und ließ nun auch seinen rechten Arm, mit dem er die ganze Zeit auf seinen vermeintlichen Feind gezeigt hatte, lang am Körper hinunterbaumeln.

Er hatte schon oft gehört, dass er ein Versager wäre. Doch heute würde er es sogar glauben. Maßlos von sich enttäuscht, sah er auf das dreckige rote Tuch, jedoch ohne Zorn oder Hass zu empfinden. Eher mit einem gleichgültigen Gefühl sagte er so leise, dass ein neben ihm Stehender es kaum gehört hätte: „Brich.“ Ein ohrenbetäubendes Krachen spaltete die Stille wie eine Axt ein Holzscheit.

Dantra benötigte einen Moment, um zu realisieren, was gerade geschehen war. Er fühlte sich, als wäre die ganze magische Kraft, die für solch einen Zauber nötig wäre, aus seinen Augen geschossen und hätte dabei seine Pupillen mit rausgerissen.

Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, peitschte ihn etwas zu Boden. Er war zwar leicht benommen, jedoch ließ ihn die Panik, nicht zu wissen, wer sein Angreifer war und wo dieser sich gerade befand, blitzschnell aufspringen. Vor ihm drehte sich der Wald und er hatte Mühe, nicht wieder hinzufallen. Er schaute in alle Richtungen, doch nichts war zu sehen. Er war immer noch allein. Dann fiel sein Blick auf das, was vor ihm lag. Wenn sein Kopf nicht so geschmerzt hätte, hätte er sich wohl über seine eigene Angst amüsiert. Die Krone des Baumes, den er gerade mithilfe seiner Kraft gefällt hatte, war es, die ihn zu Boden gerissen hatte.

„Ist doch klar“, dachte er, „die Druckwelle ließ nicht nur das Holz zerbersten, sondern hat auch den abgerissenen Stamm nach hinten gedrückt. Und dann fällt die Spitze des Baumes natürlich nach vorn.“

Er gönnte sich eine kleine Verschnaufpause, um wieder klar im Kopf zu werden. Teilweise war er zufrieden mit sich, hatte er es doch gerade erneut geschafft, seine Magie gebündelt einzusetzen. Allerdings war es auch zum zweiten Mal geschehen, ohne dass er genau wusste, wie. Und das war natürlich inakzeptabel. Also stellte er sich, nachdem der Wald sich nicht mehr um ihn drehte, erneut vor einen Baum, der ungefähr die gleiche Stammdicke hatte wie der erste. Nur dieses Mal vergrößerte er den Abstand zwischen sich und seinem Ziel, um nicht erneut Opfer seines eigenen Zaubers zu werden. Den Standort hatte er zwar gewechselt, allerdings befand er sich an demselben Punkt, an dem er zuvor schon gewesen war. Trotz seiner Ratlosigkeit angesichts seines nächsten Schritts war ihm klar, dass es ihm nichts bringen würde, sich selbst wütend zu machen. Und auch das Ziel mit seiner Hand anzuvisieren, wäre zwecklos.

Er suchte sich einen markanten Punkt am Baum. In diesem Fall war es ein Ast, der auf Augenhöhe gewachsen war und den Mittelpunkt des Stammes markierte. Er konzentrierte sich darauf und murmelte: „Brich!“ Nichts geschah. „Verdammt!“, fluchte er. Was war jetzt wieder falsch? Was war anders?

Nach kurzem Überlegen richtete er seine Konzentration erneut auf das Ziel. Doch dieses Mal machte er sich bewusst, was er wollte, um dann gefühl- und gedankenlos eine Art Druck mit seinen Augen auszuüben. Dieser verstärkte sich sofort. Dantra merkte, dass die Kraft durch seine Pupillen entwich. Doch er spürte auch, dass sie bei Weitem nicht so stark war wie beim ersten Mal. Und auch das Geräusch brechenden Holzes war viel leiser. Enttäuscht musste er feststellen, dass der Baum noch stand. Der Enttäuschung folgte jedoch sogleich Begeisterung. Denn der Ast, den er ursprünglich im Blick gehabt hatte, lag abgebrochen auf dem Waldboden.

Dantra ließ seine Erinnerung an das, was geschehen war, noch einmal Revue passieren. Dabei fiel ihm auf, dass er dem Ast mehr Bedeutung zugemessen hatte als dem Stamm selbst. Er konnte somit seine Kraft explizit einsetzen, sodass er es schaffte, nicht alles zu zerstören, was in ihrem Wirkungsbereich lag. Er musste sich zwar eingestehen, dass auch etwas von der Rinde des Baumes Schaden genommen hatte, legte das aber unter der Rubrik Feinarbeit ab, an der er später noch arbeiten konnte. Getrieben von dem Mitteilungsbedürfnis über seinen Erfolg, wollte er sich gerade auf den Heimweg machen, als er sich nochmals dem Baum zuwandte und ihn mit einem ohrenbetäubenden Krachen zu Boden fallen ließ.

Vom kleinen Fehltritt mit der Hexe abgesehen, war es ein sehr erfolgreicher Tag gewesen. Nicht nur, dass er seine Kraft nun beherrschte und sie anwenden konnte, wo und wann er wollte, auch Tami hatte große Fortschritte gemacht. Sie nutzte das Erlernte als Erstes, um Dantra den Namen der Hexe aufzuschreiben. An diesem Abend schlief Dantra mit sich und der Welt zufrieden sowie mit einem Lächeln auf dem Gesicht ein.