Drachengabe - Diesig

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Wieder war es Inius’ Gesichtsausdruck, der die ehrlichste Antwort gab: „Selbst wenn ich kein Zerrock mehr bin und somit keinen Dienstgrad mehr habe, dem man den gebührenden Respekt entgegenzubringen hat, möchte ich mir dennoch nicht von einem Jungen, der nicht einmal halb so alt ist wie ich, dumme Gegenfragen anhören müssen.“ Sein Mund aber hielt sich zurück und äußerte stattdessen nur beschwichtigend: „Du hast natürlich recht. Hier gibt es nur Ohren von Gleichgesinnten.“

Nach einer kurzen Frustpause fing er sich wieder. Mit seinem in sich gekehrten, leicht überheblichen Blick beantwortete er Dantras eigentliche Frage. „Er kann sehr viel mehr als ein Spürhund. Er kann Hunderten von Blutspuren auf einmal folgen, und das aus einer Höhe, in der er von unten kaum zu erkennen ist.“

„Also, sehe ich das richtig? Wenn du blutest, wird er dich in kürzester Zeit finden?“, fragte Akinna.

„Das ist korrekt“, bestätigte er ihr. „Aber ich müsste schon ziemlich stark bluten. So stark, dass ich die Blutung nicht stoppen kann, um die Wunde schnellstmöglich fest zu verbinden.“

„Aber wenn er zufällig in der Nähe wäre, würde dir nicht einmal die Zeit zum Verbinden bleiben? Er würde dich sofort aufspüren?“, hakte Akinna nach.

„Das ist ebenfalls richtig.“ Die von Akinna aufgeführte Tatsache, wie schnell seine Flucht beendet sein konnte, ließ ihn nachdenklich werden.

„Genug geredet“, durchbrach Akinna plötzlich die aufgekommene Ruhe wie ein Blitz die Dunkelheit. „Es ist Zeit zum Schlafen.“ Anstatt sich jedoch unter ihren Umhang zurückzuziehen, begab sie sich in die gleiche Sitzhaltung wie schon in der Nacht zuvor.

„Willst du wieder wach bleiben?“, fragte Dantra sie.

Sie antwortete ihm mit einem misstrauischen Blick zu Inius und einem kurz angebundenen „Ja“.

Die Morgendämmerung hatte die Nacht noch nicht ganz verdrängt, als Akinna Dantra und Inius weckte. „Macht euch abmarschbereit, wir haben einen langen Weg vor uns“, befahl sie barsch.

„Bei dir hört sich das so an, als wäre es etwas Besonderes. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, wir haben jeden verdammten Morgen einen langen Weg vor uns“, brummelte Dantra unter seiner Decke hervor.

Als er kurz darauf aus dem Baum kroch, hatte er das Gefühl zu baden, ohne im Wasser zu sein. Die Welt um ihn herum schien sich hinter einer dicken, nassen Wand verstecken zu wollen. Der Nebel war so dicht, dass er kaum zwei Schritte weit sehen konnte. „Wenn wir jetzt losgehen, werden wir uns verlaufen“, stellte er fest.

Inius stimmte ihm mit einem Kopfnicken und einem „Da hast du recht“ zu.

„Wenn wir jetzt losgehen“, widersprach ihnen Akinna, „haben wir gute Chancen, nicht von deinen Freunden“, sie sah Inius verächtlich an, „erwischt zu werden. Und wenn ihr bei mir bleibt, werdet ihr euch auch nicht verlaufen. Noch Fragen?“

„Ja, wohin gehen wir?“, wollte Inius wissen.

„Wir beide“, sie zeigte erst auf Dantra und dann auf sich selbst, „suchen etwas, von dem wir zu wissen glauben, wo es zu finden ist. Und da gehen wir jetzt hin.“

„Das hat meine Frage zwar nicht beantwortet, aber ich liege wohl mit der Vermutung richtig, dass das alles ist, was ich als Antwort von euch zu erwarten habe, oder?“ Er sah die beiden an und kommentierte ihr Schweigen mit einem „Das habe ich mir gedacht“.

Sie marschierten hintereinander her, wobei Akinna ihren kleinen Trupp anführte. In die Mitte hatte sie Inius zitiert und den Schluss bildete Dantra, dessen Gedanken sich nach Akinnas Erklärung mit ihrem heutigen Vorhaben, den schwarzen Baumwald zu überwinden, beschäftigten. Er war natürlich nicht gewillt, noch einmal dort hineinzugehen. Aber was, wenn das Versteck hinter der Schattengrenze lag? Sie mussten den Dolch finden, koste es, was es wolle. Dies war unabdingbar für die Erfüllung ihrer Mission. Ein unangenehmes Gefühl gesellte sich zu seinem Hunger und schaffte es sogar, diesen vollständig zu verdrängen. Er hatte eine Art Vorahnung, dass dieser Tag alles verändern würde, dass etwas Furchtbares passieren würde und dann nichts mehr so wäre wie vorher. Seine eigenen Gedanken machten ihm Angst. Und so versuchte er, diese unheilvollen Eingebungen beiseitezuschieben, was ihm jedoch nur spärlich gelang.

Sie waren schon einige Zeit unterwegs, als der Nebel anfing sich aufzulösen. Erst jetzt bemerkte Dantra, dass sie sich entlang der schwarzen Baumwaldgrenze bewegten, die im Culter entlanglief. Kurz darauf erreichten sie die Ruinenstadt Astivo. Die meisten der Gebäudereste waren von Moos und Gräsern überwuchert. Teilweise wuchsen ganze Bäume aus den fehlenden Dächern heraus. Da es hier seit vielen Jahren keine Menschen mehr gab, hatte die Natur die Oberhand gewonnen und die Reste einstigen Lebens mit ihrer bunten Vielfalt überzogen. Der Anblick zauberte Akinna ein Lächeln aufs Gesicht.

„Ja, das kann ich mir gut vorstellen, dass dir das gefällt“, sagte Dantra zu ihr und ließ einen tadelnden Unterton hören.

„Es ist ja nicht so, als wäre mir das Leid, das den Bewohnern einst widerfahren ist, egal. Aber sieh doch nur dieses Beispiel für die unbändige Kraft der Natur! Das ist doch faszinierend oder etwa nicht?“

Einen gewissen Eindruck hatte der Anblick auch bei Dantra hinterlassen. Dennoch ließ er ihre Frage unbeantwortet. Denn die, die gerade in ihm aufkeimte, war wesentlich wichtiger. „Wie sollen wir denn hier das richtige Gebäude finden?“

Sie gingen, balancierten oder kletterten über die Zeugnisse vergangener Zeiten, indem sie nach dem wenigen, was sie wussten, Ausschau hielten. Ein einst großes, massiv gebautes Haus mit einem kleinen Turm an der Lavaseite war ihr einziger Anhaltspunkt. Sie durchstreiften die ehemaligen Gassen des Ortes, wobei sie an einigen Stellen stehen blieben, um sich mit viel Fantasie die vor ihnen liegende Ruine als Ganzes vorzustellen. Doch fündig wurden sie nicht.

Es dauerte nicht lange und sie standen vor dem schwarzen Baumwald, der sich einmal quer durch den ganzen Ort zog. Das groteske Bild, das sich ihnen bot, verdeutlichte den Schrecken, der vom schwarzen Baumwald ausging. Es schien, als hätte er sich einfach, ungeachtet der zerstörten Häuser, den schnellsten Weg von Culter nach Lava gesucht. Einige der zerfallenen Häuser standen zum Teil im Wald und zum Teil davor. Wenn man durch einige der noch stehenden Türrahmen blickte, bekam man den Eindruck, als hätte jemand das Licht in der Mitte des Raumes gelöscht. Wenn der Wald nicht ein sicherer Weg in den Tod wäre, dann wäre dieser Anblick äußerst spektakulär. So jedoch vermittelte er den Eindruck, dass man selbst in seinen eigenen vier Wänden nicht sicher vor dem dunklen Schatten war.

Langsam und in die Finsternis spähend gingen sie am Waldrand entlang.

„Ich weiß ja nicht, was ihr sucht“, merkte Inius nach einigen Schritten an. „Aber wenn es dort drin sein sollte, ist es genauso, als würdet ihr es nicht finden. Niemand geht dort hinein und kommt lebend wieder raus.“

Akinna blieb stehen und funkelte ihn böse an.

„Ja, ja. Ich weiß. Du warst schon einmal dort drin und bist lebend wieder rausgekommen“, sagte er zu Dantra. „’tschuldigung, hatte ich kurz vergessen.“

Nichts, nicht ein Satz, nicht einmal ein Wort seiner Entschuldigung hörte sich aufrichtig und ehrlich an. Dantra wusste, dass Akinna Inius noch so sehr drohen konnte, er würde ihm niemals glauben, was er seinerzeit bei E’Cellbra dort drin erlebt hatte. Und ihm war auch klar, dass Akinnas Haltung Inius gegenüber nichts damit zu tun hatte, dass sie ihm bedingungslos glaubte. Sie wollte dem Zerrock nur nicht erlauben, ein schlechtes Wort über ihn zu sagen. Selbst wenn er behauptete, schon einmal auf einem Drachen geritten zu sein, würde Akinna darauf bestehen, dass Inius seinen Worten Glauben schenkte. Es war Zeit, sie von der Wahrheit zu überzeugen. Sie beide.

„Ich bin damals nur knapp dem Tod entkommen.“ Seine Stimme klang ungewohnt ernst und entschlossen. „Die Verletzungen, die ich mir zugezogen habe, sind noch immer gegenwärtig. Allerdings nur da drin.“ Er deutete auf den Schatten. „Ich habe mir bei meiner Flucht zwei Finger abgerissen.“ Er hielt die linke Hand hoch und sah seine beiden Begleiter mahnend an. Dann tauchte er seinen Arm ins Dunkel des Schattens.

Akinna ließ einen erschrockenen Ton hören und Inius sprang einen Schritt zurück. „Was ist das für eine Hexerei?“, brüllte er los.

„Das ist die Wahrheit, die du nicht glauben willst“, erklärte Dantra gelassen. Mit dem Anflug eines Lächelns im Gesicht schaute er auf die beiden Stumpen, die gerade eben noch seine Finger gewesen waren.

„Du freust dich über diesen grausamen Anblick?“, fragte Akinna ihn irritiert.

„Also, wenn du diesen Anblick schon grausam findest, solltest du lieber nicht in mein Gesicht schauen, wenn es dort drin ist“, erklärte Dantra ihr. „Ich freue mich lediglich über die Feststellung, dass die Verletzungen, die ich mir dort zugezogen habe, anscheinend hier draußen wieder verheilen.“

„Was meinst du?“

„Sieh doch.“ Er deutete mit der anderen Hand auf die Stelle, wo einst die Finger angewachsen waren. „Es ist keine blutende Wunde mehr. Es ist sogar schon ein bisschen Haut darübergewachsen.“ Die Begeisterung der anderen beiden blieb allerdings aus und so zog Dantra seine Hand wieder zurück ins Sonnenlicht. „Ach, und übrigens“, sagte er an Inius gewandt, „Hexen können nicht zaubern. Sie brauen dir zwar eine Brühe, dass du denkst, dir fallen die Finger ab. Aber zu so was“, er fuchtelte mit seiner nun wieder fünffingrigen Hand vor der Nase des Mannes herum, „ist eine Hexe nicht fähig.“

Inius wich angeekelt vor Dantras Hand zurück. „Solche Experimente mit dem schwarzen Baumwald zu machen, ist nicht gut“, sprach er mahnend.

 

„Gar nicht gut“, pflichtete Akinna ihm bei.

„Überhaupt nicht gut“, stimmte auch Dantra ein, allerdings meinte er etwas anderes. Akinna und Inius folgten seinem Blick, der einige Schritte weiter an einem kleinen, halb zerfallenen Turm inmitten des Schattens hängen geblieben war. „Das ist es.“

Sie standen nun direkt vor dem zweiflügeligen Eingangstor, von dem nur noch die Eisenbeschläge verrostet und krumm in den Angeln hingen. Im Vergleich zu den meisten anderen Häusern jedoch sah dieses relativ gut erhalten aus. Zwar hatte auch hier die Kraft der Natur ganze Arbeit geleistet, aber das Mauerwerk war noch weitestgehend erhalten.

„Das ist es“, wiederholte Dantra. „Das ist das Haus des Hofbaumeisters.“

Auch Akinna war überzeugt, dass ihre Suche beendet war. „Ich denke, da hast du recht“, stimmte sie ihm zu.

Sie gingen in die ehemalige Eingangshalle, von deren einstiger Pracht nun nicht mehr viel übrig war. Sie maß knapp drei Pferdelängen in der Breite wie auch in der Tiefe. Als sie sie durchquert hatten, passierten sie einen wuchtigen Rundbogen. Das Licht in dem sich vor ihnen öffnenden Raum endete bereits zwei Schritte weiter. Ab da begann die ewige Dunkelheit. Das machte es unmöglich, den Rest des Raumes bis zu seiner Rückwand einzusehen. Aber genau an dieser vermutete Akinna die Feuerstelle, in deren Mauerwerk nun schon seit fast 200 Jahren der Dolch des Vertrauens versteckt lag.

„Es können nur ein paar Schritte sein“, schlussfolgerte die Halbelbin optimistisch. „Ich werde es versuchen. Ich muss es versuchen.“

„Du willst da wirklich reingehen?“, fragte Inius ungläubig.

„Nun, im Gegensatz zu dir habe ich keine Wahl. Ich muss dort rein.“

„Ich weiß ja nicht, was du zu finden gedenkst, aber etwas anderes als der Tod wird es nicht sein. Auch wenn Dantra schon einmal dort drin war, bin ich überzeugt, dass er das Glück hatte, welches Tausenden vor ihm fehlte. Die Wahrscheinlichkeit ist daher äußerst gering, dass nun auch dir dieses Glück hold ist und dich der Dämonenschatten allen Widrigkeiten zum Trotz wieder freigibt. Überleg es dir lieber noch einmal.“ Es schien tatsächlich ehrliche Sorge in seiner Ermahnung zu liegen. Dennoch tat Akinna sie mit einer abwertenden Handbewegung ab.

„Er hat recht“, bekräftigte Dantra. „Ich werde reingehen. Du bist zu wichtig, denn du bist auf jeden Fall einer der drei. Bei mir gibt es noch immer Restzweifel. Also bin ich eher entbehrlich.“

Akinna sah ihn erst bewundernd an, was Dantra seinem Mut zuschrieb, bevor ihre Gesichtszüge wieder die gewohnte Skepsis zur Schau trugen. „Netter Versuch“, sagte sie schließlich, „aber der einzige Entbehrliche hier ist der Feigling neben uns.“

Inius begriff natürlich sofort, dass er gemeint war. Aber anstatt sich entsprechend zu rechtfertigen, erklärte er nur: „Ja, hier und jetzt bin ich ein Feigling. Wenn mir hundert brüllende Feinde bis an die Zähne bewaffnet entgegenstürmen, ziehe ich mein Schwert und kämpfe bis zum Tod. Aber das hier ist etwas ganz anderes. Das hat was mit dunkler Magie zu tun. Mit Übermenschlichem. Und es ist sicher mit unvorstellbaren Qualen verbunden. Seht ihr da vorn die Eiche?“ Er deutete auf einen unterarmdicken Baum vor dem Haus. „Dort werde ich warten. Macht also, was ihr wollt. Ich bin raus aus diesem Unfug.“ Er drehte sich um und ging.

Noch bevor er den Baum erreicht hatte, sagte Akinna zu Dantra: „Wenn jemand dort reingehen kann, ohne zu sterben, dann ist das ein Elb.“

„Humbug“, tadelte Dantra sie und fummelte in seiner Jacke herum. „Ich habe Erfahrung mit der Dunkelheit. Ich habe eine magische Kraft und“, er zog ein kleines Jutesäckchen aus dem Innenfutter, „ich habe das hier!“

Akinna sah ihn erstaunt an. „Was ist das?“

„Das ist Fliederpulver. Ich habe es von E’Cellbra bekommen. Sie sagte damals, falls ich noch einmal in den dunklen Wald hineingehen müsse, weil ich verfolgt würde oder so, sollte ich es mit Wasser vermischen und mir auf die Kleidung reiben. Ich hätte nie gedacht, dass ich es wirklich mal brauche. Daher hatte ich bis eben völlig vergessen, dass ich es dabeihabe“, fügte er entschuldigend hinzu.

„Meinst du, es reicht für uns beide?“, fragte Akinna und roch an dem Inhalt.

„Ich denke schon. Es war ja ursprünglich für Tami und mich gedacht. Also wird es wohl genug sein. Meinst du, wir sollten zusammen reingehen?“

„Vier Augen sehen mehr und vier Hände kämpfen besser. Ich denke, es wäre das Beste.“

„Na gut“, pflichtete er ihr bei. „Aber das mit den vier Augen werden wir erst noch sehen. Gut möglich, dass es nur drei sind.“

Mitleid umhüllte ihren Blick. „Wie auch immer“, sagte sie. „Lass uns anfangen.“

Dantra kratzte den Dreck aus einem zerbrochenen Tonkrug, den er in einer der Ecken gefunden hatte und dessen Boden noch heil war. Danach kippte er etwas Wasser aus seinem Trinkschlauch hinein, öffnete den Beutel und schüttete den Inhalt ins Gefäß. Nachdem er die Flüssigkeit mit einem kleinen Stock verrührt hatte, sagte er: „Ich denke, das war es. Jetzt müssen wir das Zeug nur noch auf unsere Kleidung kriegen.“

Akinna trat mit einem kleinen Mistelzweig an ihn heran. „Damit müsste es gehen“, meinte sie, tauchte die Blätter in die Tinktur und ließ diese mit schwingenden Handbewegungen auf Dantras Kleidung niederregnen. Erst vorn, dann auf dem Rücken. Anschließend übernahm Dantra den Zweig und tat selbiges bei ihr.

Nun standen sie da. Kampfbereit und zögernd. Akinna hatte die Waffen, die sie Inius abgenommen hatte, hinter einigen Sträuchern verschwinden lassen, um nicht so viel Ballast mit sich zu tragen. Dantra hatte es ihr gleichgetan, das schwere Schwert Comals vom Rücken genommen und es zusammen mit seiner Ausrüstung zu den anderen Waffen gelegt. Er hielt nun sein Elbenschwert in der Hand, sie schussbereit ihren Bogen.

„Wie fühlt es sich an, wenn man dort drin ist?“, fragte Akinna, ohne ihren Blick vom Schatten abzuwenden.

„Kalt“, erwiderte Dantra. „Von innen heraus eisig kalt.“

Akinna spannte die Sehne ihres Bogens so weit, dass sie die eiserne Metallspitze mit den bogenhaltenden Fingern berührte. Sogleich begann sie, glänzend zu leuchten, wie es auch Dantras Schwert immer tat, wenn sie es in die Hand nahm. Langsam schob sie die wie mit Diamantenstaub überzogene Spitze ins Dunkel des schwarzen Baumwalds. Der Glanz erstarb. Es war, als würde er aufgesaugt und niedergerungen werden wie ein verletzter Käfer von einer ausgehungerten Ameisenkolonie.

Sie nahm den Bogen runter und holte den Lumenkristall aus ihrem Umhang. Sie rieb ihn zwischen ihren Händen und legte ihn auf ein Stück Baumrinde. Als er aufleuchtete, schob sie ihn, wie vorher schon die Pfeilspitze, ganz langsam ins Dunkel. Auch dieses Leuchten erlosch so schnell, wie der Schall eines Angstschreis verhallte. Sie zog den Kristall zurück und musste mit Bedauern feststellen, dass die Hälfte, die in den Schatten getaucht war, nicht wieder aufleuchtete.

Auch nicht, nachdem sie den Stein erneut zwischen ihren Händen gerieben hatte. Ihr Bedauern schlug in Angst um. Aber nur kurz. Danach entbrannte die Wut. Sie hasste es, wenn sie die unnützen Gefühle der Menschen, zu denen die Angst gehörte, überkamen. Und sie war stinksauer, dass der Schatten ihren Kristall zerstört hatte.

„Jetzt reicht es mir“, entfuhr es Akinna zornig. „Wir gehen da hinein. Und auf wen oder was wir auch immer stoßen, wir treten ihm mächtig in den Arsch.“

„Goracks.“

„Bitte?“

„Goracks. Wir treffen dort drin auf Goracks. Und sosehr ich es mag, wenn du deine gute Kinderstube mal vergisst und stattdessen sagst, was du denkst, um denen in den Arsch zu treten, sind es zu viele.“

Sie stutzte. „Mir egal, ich gehe jetzt da rein und hole den Dolch.“

Dantra blieb keine Zeit, um noch einmal über ihr Vorhaben nachzudenken, denn Akinna hatte die Grenze zum dunklen Baumwald mit einem Schritt passiert und im Gegensatz zu ihm, als er das erste Mal hineinging, kam sie auch nicht vom Schrecken der Beklemmung getrieben sofort wieder heraus.

Der moderige Geruch, das unbehagliche Gefühl und vor allem der Eindruck, das wenige Schlechte in ihm wie sein Jähzorn oder der Hass auf einige Menschen würde alles Gute niederrennen, waren wieder da. Alles war da und erinnerte ihn unwillkürlich an seinen Todeskampf. Sein aussichtsloser Widerstand gegen die unmenschliche Qualen bringenden Goracks.

Er fasste sich an sein schmerzendes Auge. Unter seinen Fingern spürte er eine breite und tiefe Narbe, die sich über sein halbes Gesicht zog. Dass er mit einem Auge nichts sehen konnte, bemerkte er kaum, da es in der Finsternis ohnehin kaum etwas zu sehen gab. Sein ganzer Körper schrie vor Schmerzen auf. Überall, wo sie ihn seinerzeit gebissen hatten, war er nun von Narben übersät. Aber dort, wo sie sich bereits tiefer hineingenagt hatten, waren die Verletzungen nicht mehr heilbar. So wie seine Finger nicht nachwuchsen, so war es auch bei diesen Wunden. Und sie waren es, die ihm nun die meisten Probleme bereiteten. Mit dem linken Bein konnte er kaum auftreten und sein rechter Arm war ohne jedes Gefühl, sodass ihm sein Schwert aus der Hand fiel. Dantra hob es mit der linken Hand auf und versuchte, es mit den verbliebenen drei Fingern, so gut es ging, zu halten.

Als er wieder nach vorn sah, stand Akinna vor ihm. Sie hatte sich vorgenommen, seinen Verletzungen, wie schwer der Anblick auch immer sein mochte, keine Bedeutung zukommen zu lassen. Dieses Vorhaben war allerdings gar nicht so leicht.

Nachdem sie mehr als einmal schlucken hatte müssen, fragte sie besorgt: „Willst du nicht doch lieber draußen warten?“

„Auch wenn ich mich fühle wie ausgekotzt“, erwiderte er trotzig, „fürs Arschtreten reicht es allemal.“ Er versuchte sich dabei so aufrecht wie möglich hinzustellen und einen schmerzfreien Gesichtsausdruck aufzusetzen. Ihr Blick allerdings blieb mitleidig. „Nichts kann mich dazu bringen, dich in dieser Hölle alleine zu lassen“, fügte er mit fester Stimme hinzu.

Sie nickte kurz und eine Spur Dankbarkeit ließ ein Lächeln über ihr Gesicht huschen.

Bis sie das andere Ende des Raumes erreicht hatten, ließ sich kein Gorack blicken. Nicht lange und sie hatten die ehemalige Feuerstelle gefunden. Akinna tastete die Rückwand ab. Kurz darauf hörte Dantra, der in der Dunkelheit versuchte, die Umgebung im Auge zu behalten, das dumpfe Kratzen von aufeinanderreibenden Steinflächen.

„Hier ist es“, sagte Akinna mit erleichterter Zuversicht, die aber sogleich weichen sollte. Denn das Durchsuchen des Verstecks blieb erfolglos. Es war leer. „Verdammter Mist!“, fluchte sie. „Hier ist rein gar nichts drin!“

„Und jetzt?“, fragte Dantra.

„Das Versteck war verschlossen“, erklärte sie und suchte dabei mit den Augen den Boden vor sich ab. „Es ist also unwahrscheinlich, dass der Dolch aus irgendeinem Grund herausgefallen ist und nun hier herumliegt.“

„Lass uns erst einmal wieder von diesem Gedanken fesselnden Ort verschwinden, bevor wir weitere Überlegungen anstellen“, drängelte Dantra.

Sie gingen in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Nach wenigen Schritten erkannten sie schon den hellen Schleier des ersehnten Sonnenlichts. Allerdings nur teilweise. Es schien, als würde an einigen Stellen etwas Dunkles das schwache Licht aufhalten. Sie sahen sich kurz fragend an und gingen dann kampfbereit weiter. Das lichtbrechende Dunkel formte sich zu Schatten und mit jedem weiteren Schritt formten sich die Schatten zu Gestalten, bis aus diesen schließlich Soldaten wurden. Gekleidet in schwarze Rüstungen und bis an die Zähne bewaffnet. Selbst ihre Haut war von einem ungesund wirkenden Grau überzogen. Sie standen einfach nur da. Regungslos und mit geschlossenen Augen. Es mussten mindestens sechs sein. Genau konnte man es nicht bestimmen. Sie waren zwar, weil wie an einer Schnur aufgereiht, leicht zu zählen, doch ließ das fehlende Licht die eventuell weiter links und rechts stehenden im Trüben.

„Sind das Goracks?“, fragte Akinna flüsternd.

„Nein, nicht wirklich“, gab Dantra als Antwort und ließ ein besorgtes Schlucken hören. Er versuchte, etwas von dem Fliedergeruch, den er verströmte, zu ihnen hinüberzufächeln. Die erhoffte Reaktion blieb aber aus. „Vielleicht können wir heimlich zwischen ihnen hindurchhuschen“, schlug er schließlich vor.

Akinna nickte und im selben Moment öffneten die schwarzen Gestalten ihre Augen, die kaum weniger grau waren als die Lider, die sie gerade noch bedeckt hatten. Ohne einen weiteren Moment des Zögerns griffen sie an. Dantra wich einem Schwerthieb aus und ließ seine eigene Waffe nach vorne schnellen. Er sah, wie er seinem Gegenüber seine Schwertspitze zwischen die Rippen stieß, aber spüren konnte er nichts. Keinen Widerstand. Kein Verkanten der Klinge an den harten Knochen. Nichts. Er hatte das Gefühl, in den Rauch eines stark qualmenden Feuers gestochen zu haben. Aber das Erschreckendste daran war, dass der Angreifer anscheinend auch nicht mehr gespürt hatte. Kein von Schmerzen verursachtes Zurückweichen. Kein wimmernder Aufschrei. Nicht einmal ein Zucken. Unbeeindruckt davon, dass das Schwert in ihm steckte, schlug er erneut mit dem seinen auf Dantra ein. Ein weiterer Schritt zurück rettete diesen vor dem tödlichen Hieb.

 

Er sah kurz zu Akinna, die sich ebenfalls auf dem Rückzug befand und ununterbrochen Pfeile abschoss, die allerdings wirkungslos durch ihre Ziele hindurchflogen und irgendwo im schwachen Licht dahinter verschwanden.

„Lauf!“, schrie sie.

Dantra drehte sich um und rannte. Aber wo sollte er hin? Er konnte doch kaum etwas sehen. Nach wenigen Schritten war er wieder an der Rückwand mit der vor langer Zeit verglühten Feuerstelle.

„Da lang!“, rief Akinna und schob ihn vor sich her.

In der linken Ecke des Raumes schien eine Tür zu sein. Nachdem sie hindurchgehuscht waren, liefen sie einen kurzen, halbrunden Gang entlang, um durch eine weitere Tür ins Freie zu gelangen. Die Freude darüber währte nicht lange, waren sie doch stattdessen noch tiefer in den Wald hineingeraten.

„Dein Fliedergeruch scheint bei diesen Dämonen nicht zu funktionieren“, stellte Akinna enttäuscht fest.

„Sie scheinen Probleme mit ihrem Geruchssinn zu haben“, gab Dantra achselzuckend zurück. „Was machen wir jetzt?“

„Wir bewegen uns parallel zur Waldgrenze“, erklärte Akinna ihr Vorhaben, „um dann etwas weiter unten einzulenken, damit wir wieder aus dem Wald herauskommen.“

Sie rannten einen kleinen Pfad entlang, der von Haus zu Haus zu führen schien. Bereits nach dem nächsten Gebäude verließen sie ihn und bewegten sich nun erneut auf die Grenze zu. Jedoch nahmen sie schon nach wenigen Schritten die dunklen Umrisse wahr, die auch hier ein Weiterkommen unmöglich machten.

„Verflucht“, schimpfte Akinna.

Sie drehten sich wieder um und mussten mit Entsetzen feststellen, dass sich einige der dunklen Kämpfer hinter ihnen aufgestellt hatten. Ein Fenster in dem Gebäude, an dem sie gerade vorbeigelaufen waren, schien ihr einziger Ausweg zu sein. So schnell es ging, kletterten sie hindurch und durchschritten den Raum. Die Wand, auf die sie trafen, wies keinerlei Möglichkeiten zur weiteren Flucht auf. Dennoch tasteten sie hektisch die kalten Steine ab, wobei sie mehr nach hinten starrten als nach vorn aus Angst vor einem tödlichen Hieb aus der Dunkelheit.

Dantras Herz raste. Die Panik wuchs. Die Erinnerung an das, was die Goracks mit ihm gemacht hatten, ließ ihn fast wahnsinnig werden. Wenn diese kleinen, unscheinbaren Viecher ihm schon solche Schmerzen zufügen konnten, wie groß würden dann erst die Leiden und Qualen werden, wenn diese schwarzen Gestalten ihn in ihre toten Finger bekämen?

„Was jetzt?“, schrie er mit panischer, hoher Stimme Akinna an. Noch bevor sie antworten konnte, trat er in ein Loch im Boden und stürzte.

Akinna schenkte seiner bei diesem Sturz zugezogenen Prellung am Knie keine weitere Beachtung. Stattdessen untersuchte sie die vermeintliche Stolperfalle. „Es muss eine alte Speisekammer sein“, stellte sie fest. Nach einem suchenden Blick durch den Raum zog sie Dantra zu sich. „Ich kann keinen von ihnen sehen. Vielleicht haben sie uns aus den Augen verloren. Wir sollten hier runterklettern und uns verstecken.“ Die Hoffnung, so ihren Häschern zu entkommen, war gering, aber vor der unüberwindbaren Wand stehen zu bleiben, schien noch aussichtsloser.

Sie waren kaum unten, als sie das Kratzen eines Schwertes an der Öffnung hinter ihnen hörten. Wer diese Wesen auch immer waren, sie wussten genau, wo sie Dantra und Akinna finden konnten. Es schien, als hätten sie geahnt, dass die beiden dort hineinklettern würden, als hätten sie es sogar gewollt. Die Kammer, in der sie nun gefangen schienen wie Ratten in einer Falle, war nach hinten eingestürzt, denn lose Erde häufte sich hier auf. Akinna schlussfolgerte, dass ein Teil der Kammer außerhalb des Hauses liegen musste, sonst wäre es keine Erde, sondern Gestein, das sich hier auftürmen würde.

Sie kroch an die höchstgelegene Stelle und fing an, nach oben zu graben, während Dantra die Öffnung zum Haus im Auge behielt. „Ich bin durch“, flüsterte sie schließlich und hielt Dantra von oben die Hand hin, um ihn herauszuziehen.

Obwohl er gerade noch niemanden hinter sich gesehen hatte, packte ihn nun etwas am Fußgelenk und zog ihn zurück. Der Schrecken, der ihn durchfuhr, ließ ihn nahezu in eine Schockstarre verfallen, wenn Akinna ihn nicht von oben angeschrien hätte, sich zusammenzureißen. Panisch riss er sich aus der Umklammerung los und stürzte so schnell nach oben, dass er Akinna dabei umriss. Auf der Erde sitzend, nach Luft schnappend und mit weit aufgerissenen Augen in Richtung Erdloch starrend, fragte er schon fast wimmernd: „Wohin jetzt?“

Sie befanden sich zwischen zwei Gebäuden und wieder waren beide Wege, die von dort wegführten, von ihren Verfolgern versperrt.

Akinna zog ihn auf die Beine. „Da lang.“

Erneut blieb ihnen wieder nur eine Tür zur Flucht. Aber kaum waren sie hindurch, bemerkten sie, dass sie wieder im Haus des Baumeisters gelandet waren. Allerdings mit einem erheblichen Unterschied. Vor dem Kamin stand eine weitere Gestalt mit dem Rücken zu ihnen, allerdings wesentlich kleiner als diejenigen, die hinter ihnen her waren. Und vor allem heller. Aber nicht einfach nur heller. Von ihr schien ein Licht auszugehen, als wäre sie selbst eine Lichtquelle. Der Anblick war so grotesk, so unwirklich, so unendlich fehl an diesem beklemmenden Platz, dass sie beide ihre Verfolger und die damit drohende Gefahr völlig vergaßen und nur noch gebannt auf die kleine Gestalt starrten. Sie sahen zu, wie sie mit ihrer schmalen Hand in das von Akinna bereits durchsuchte und anschließend unverschlossen gelassene Versteck griff. Zu ihrem Erstaunen zog sie etwas golden Glänzendes heraus. Dann stellte sie sich wieder aufrecht hin und drehte sich langsam zu ihnen um.