Buch lesen: «Ghostsitter»
Die bisherigen Bände dieser Serie:
Ghostsitter Band 1: Geister geerbt
Ghostsitter Band 2: Vorsicht! Poltergeist!
Ghostsitter Band 3: Hilfe, Zombie-Party!
Ghostsitter Band 4: Schreck im Spiegelkabinett
Ghostsitter Band 5: Tanz der Untoten
Die Serie wird fortgesetzt!
1. überarbeitete Neuauflage August 2019
Copyright © 2019 by Tommy Krappweis & Edition Roter Drache
Edtion Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel
edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org
Umschlagillustration und Vignetten: Timo Grubing
Umschlaggestaltung: Timo Grubing
Korrektorat: Diane Krauss
Gesamtherstellung: Jelgavas tipografia
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2020
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN 978-3-964260-50-5
Inhalt
Kapitel 1:Dem Depp sein Wurstbrot
Kapitel 2:Ein eigentümlicher Fremder
Kapitel 3:Das Testament
Kapitel 4:Zoracz
Kapitel 5:Die Verwüstung
Kapitel 6:Die Schreckensfahrt
Kapitel 7:Der Schreck in den Knochen
Kapitel 8:Bei allen guten Geistern
Kapitel 9:Der Berg ruft
Kapitel 10:Schrottschwerenot
Kapitel 11:Der Schlüssel zum Schreck
Kapitel 12:Omas Beichte
Kapitel 13:Heinrichs alte Truhe
Kapitel 14:Abschied von Oma
Kapitel 15:Ein neues Zuhause?
Kapitel 16:Die Wand des Wahnsinns
Kapitel 17:Feuer!
Kapitel 18:Kriegsrat mit Untoten
Kapitel 19:Alle guten Geister verlassend
Kapitel 20:Schmollen zur Geisterstunde
Kapitel 21:Das Ritual
Kapitel 22:Supertom
Kapitel 23:Welfs Geheimnis
Kapitel 24:Die Prophezeiung
Kapitel 25:Ein Geister-Navi
Kapitel 26:Der Weiße Dämon
Kapitel 27:Aller schlechten Dinge sind vier
Kapitel 28:Toms Plan
Kapitel 29:Fang den Dämon
Kapitel 30:Von wegen, Zoracz!
Kapitel 31:Pakt mit dem Teufel
Kapitel 32:Ende gut, alles gut
Kapitel 1: Dem Depp sein Wurstbrot
Tom seufzte. Es ist doch so klar, dachte er. So einfach! Zwei Panzerkrieger nach vorn, die Magier heilen oder verteilen Feuerschaden aus der Deckung, und die Bogenschützen bleiben auf den Türmen, um die Untoten in Schach zu halten. Das war der einzig sinnvolle Weg, um den Drachenkaiser in die Knie zu zwingen. Dafür musste Tom noch nicht mal nachdenken, so offensichtlich war diese Strategie.
Doch leider entschied sich ihr Teamleader Finn gerade für etwas anderes: »Okay, wir ziehen das durch! Magier nach vorne und mit Feuerschaden draufballern!«, tönte Finns Stimme blechern aus Toms Headset. »Die Panzerkrieger kümmern sich um die Zombies und die Bogensch…« Weiter kam er nicht, denn der Levelboss hatte die schutzlosen Magier innerhalb weniger Sekunden in den Staub gehustet, während die schwerfälligen Krieger unter den Zombies förmlich begraben wurden. Die drei Bogenschützen, von denen Tom einer war, versuchten, sich aus der Gefahrenzone zurückzuziehen, wurden aber von einem Erdbebenzauber des Drachenkaisers niedergeworfen, und kurz darauf sahen alle aus der Gilde »Rübenbrei« das Gleiche: Eine Schriftrolle, auf der mit blutroter Tinte Mission failed geschrieben stand. Sie hatten versagt. Schon wieder. In der letzten Quest, die sie alle aufsteigen lassen würde zu Level 90 in World of WerWizards.
Enttäuscht schubste Tom die Computermaus quer über den Schreibtisch. Wieder einmal hatte Finn mit traumwandlerischer Sicherheit die falscheste Strategie ever rausgesucht, und sie alle waren dabei draufgegangen.
Die Enttäuschung war auch den anderen Gildenteilnehmern deutlich anzumerken. Entnervtes Stöhnen sowie diverse »Oh Manns« und »Och nees« tönten aus dem Headset, begleitet von dem ein oder anderen Gepolter. Anscheinend wurden da ganz andere Dinge durch die Gegend geschubst als nur die Computermaus.
»Jetzt müssen wir echt noch mal durch den blöden Abwasserkanal?! Ich pack’s nicht!«, ließ sich Valerie vernehmen. Ihre Figur war eine auf Erdzauber spezialisierte Elbenmagierin, die bei Missionen im Dunkeln immer vorauszulaufen hatte, um mit ihrem Stab den Weg zu erhellen. Das war für die anderen gleichzeitig hilfreich wie nervtötend. Hilfreich, weil man sah, wo es langging, nervtötend, weil Valerie alle halbe Minute ein stöhnendes »Laaaaaangweilig« ins Mikro nölte.
Auch Tom hatte keine große Lust, den einfallslosen Schlauchlevel jetzt ein elftes Mal entlangzustiefeln, nur um dann noch mal vom Drachenkaiser pulverisiert zu werden. Wieder einmal kämpfte er mit sich. Sollte er Finn vielleicht doch einfach mal fragen, ob er selbst … Nur für diesen einen Gegner …
Tom seufzte. So sicher er sich auch war, dass seine Strategie funktionieren würde, so wenig Lust hatte er darauf, derjenige zu sein, auf den danach alle sauer waren. Vor allem jetzt, wo sie es doch schon zehnmal probiert hatten. Wenn Tom nun den elften Versuch in den Sand setzte, war er nicht nur der Depp, sondern dem Depp sein Wurstbrot.
In der Gilde hatten sie nämlich irgendwann mal damit begonnen, Abstufungen für Deppen einzuführen. Das mildeste war der Depp selbst, danach kam dem Depp sein bester Freund, dann sein Berater, sein Chef, sein Spion und ganz am Ende eben stand dem Depp sein Wurstbrot. Weiter runter ging es nicht.
Außer Tom würde alle ein elftes Mal ins Verderben führen. Dann würde die Gilde extra für ihn eine noch beschämendere Stufe einführen. Vielleicht dem Depp sein Depp …
Nein, da hatte Tom wirklich null Komma null Böcke drauf. Lieber rannte er noch mal den ganzen Weg hinterher, um sich im Thronsaal abermals die Rübe rasieren zu lassen.
Ein Seufzer riss ihn aus seinen Überlegungen. »Also, mir reicht’s für heute.« Man konnte förmlich hören, wie Moro beim Sprechen die Augen verdrehte. Ein paar einsilbige »Mir auch, tschau« später waren bis auf Valerie und Tom alle aus dem Gildenchat offline. Finn selbst hatte sich nicht einmal verabschiedet, so peinlich war ihm die Aktion.
Einen kurzen Moment lang war es totenstill im Chat, so als würden sowohl Tom als auch Valerie darauf warten, dass der jeweils andere etwas sagte. Tom war das Schweigen aber schnell unangenehm, also probierte er es mit einem weitestgehend inhaltslosen: »So … tja. Also … hm«.
»Da sagst du was«, hörte er Valerie kichern. »Bis bald, Tom. Aber wirst sehen, beim nächsten Mal schaffen wir es. Nicht. Hihi, tschaui!«
Tom kam nur bis »Tsch…«, da war Valeries Profilbild auch schon grau, und daneben stand »Offline«.
Erst jetzt bemerkte Tom, dass er ziemlich Hunger hatte. Und das wahrscheinlich schon seit geraumer Zeit. Im Eifer des Gefechts hatte er mal wieder gar nicht auf seinen Körper gehört. Entsprechend nachdrücklich machte sich dieser nun bemerkbar. Sein Bauch gluckerte und brummte so laut, dass Tom fast Sorge hatte, die Nachbarn würden sich bald beschweren über diese Ruhestörung. Mit einem etwas zu lauten Stöhnen schälte er sich aus dem bequemen Schreibtischstuhl und schleppte sich hinunter in die Küche.
Tom war verwundert, seine Oma am Küchentisch sitzend anzutreffen. Also, nicht weil Oma generell anwesend war – das war schließlich ihr Haus, und Tom wohnte bei ihr, seit er denken konnte. Seine Eltern hatte er nie kennengelernt. Er war im Alter von zwei Jahren als Waisenkind von Frau Käthe Röschenberg aufgenommen worden, die aufgrund ihres Alters beschlossen hatte, dass »Oma« besser zu ihr passte.
Nein, ungewöhnlich war nur, dass Oma um diese Uhrzeit am Küchentisch saß. Normalerweise verbrachte sie den Nachmittag nämlich im Garten und grub irgendwas ein, aus oder um.
Tom bemerkte sofort, dass irgendwas anders war als sonst, denn Oma sah ihn sehr seltsam an. Vor ihr lag ein Brief, und auf dem Umschlag erkannte Tom einen Aufdruck, der ziemlich offiziell aussah. Als er näher kam, konnte er neben einem imposanten Wappen Rechtsanwälte Feuerflieg & Flugrad als Absender erkennen.
Bevor er sich über die seltsamen Namen wundern konnte, fiel Toms Blick auf das eigentliche Schreiben. Er überflog den Text und runzelte erstaunt die Stirn. »Ich bin eingeladen zu einer … Testamentseröffnung?«, flüsterte Tom, und Oma hob den Blick.
Sie lächelte, aber Tom sah, dass sie feuchte Augen hatte. »Heinrich ist tot. Mein Bruder und somit dein Großonkel. Er hat dir alles vermacht. Alles, was er besaß und … noch ein bisschen mehr.« Dann lachte sie leise in sich hinein und schüttelte den Kopf. »Mein lieber, verrückter, sturer Heinrich. Wem sonst, wem sonst.«
Tom war verwirrt, und das war er eigentlich selten. Meistens hatte er das Gefühl, ziemlich genau zu wissen, was gerade los war. Und er war auch nicht der Typ, der dann minutenlang rumstand, ohne zu wissen, was er jetzt am besten tun oder lassen sollte. Aber jetzt gerade war die Situation so überfordernd und seltsam, dass er eine ganze lange Minute damit verbrachte, zu überlegen, ob er jetzt was sagen, was fragen oder weiter hier in der Küche rumstehen sollte. Schließlich entschloss er sich, nichts davon zu tun, setzte sich stattdessen einfach neben Oma auf die Bank und nahm sie wortlos in die Arme.
Ein paar Minuten saßen die beiden so da, und man hörte nichts außer dem Zwitschern der Vögel im Garten. Schließlich meldete sich Oma unter Toms Pullover etwas unterdrückt: »Vielen Dank, aber ich müffte demnächfft mal wieder atmen.« Sofort öffnete Tom seine Umklammerung und musste dabei lachen. Oma lachte mit und sog die Luft betont genussvoll durch die Nase ein. Doch wenn Tom gedachte hatte, dass er nun mehr über Omas Bruder Heinrich und diese seltsame »Erbschaft« erfahren würde, lag er damit falsch.
Die Türklingel schrillte mit ihrem durchdringenden Fünfzigerjahre-Charme durch das kleine Haus, und Tom öffnete die Tür zum größten Abenteuer seines Lebens.
Kapitel 2: Ein eigentümlicher Fremder
Im Licht der tief stehenden Nachmittagssonne stand ein Mann am Gartentor, der wirkte, als würde er Tom jeden Moment anspringen. Nicht, weil er sich so freute, sondern weil er sich in einer seltsam geduckten Haltung befand, ganz so, als würde er gleich aus dem Stand in irgendeine Richtung hopsen. Und da es wenig Sinn machte, wenn der Mann nun nach rechts in Omas Kirschlorbeer oder nach links rüber zu den Nachbarn in den Sandkasten sprang, nahm Tom an, dass er wohl am ehesten einen Satz nach vorn machen würde. Aber der einzige Satz, den der Mann machte, war zunächst mal dieser: »Bist du Tom?«
Tom hatte schon viele Szenen wie diese in unzähligen Filmen gesehen, und darum konnte er nicht anders, als die Antwort zu geben, die sich nun aufdrängte: »Wer will das wissen.«
Er fühlte sich auch ziemlich cool dabei und bereute es, keinen Zahnstocher aus der Küche mitgenommen zu haben. Damit hätte es bestimmt noch ein bisschen cooler gewirkt und … AAAH!
Tom war zusammengezuckt wie noch nie in seinem Leben, als der geheimnisvolle Mann urplötzlich vor ihm stand. So schnell hatten sich noch nicht einmal die Geisterninjas in World of WerWizards bewegt, verdammt.
Nun konnte Tom auch das Gesicht des Mannes besser erkennen. Er hatte schwarze Haare mit ungewöhnlich regelmäßigen grauen Strähnen, so als hätte man ihm einen grau gefärbten Kamm von der Stirn bis in den Nacken durchgezogen. Außerdem trug er einen Dreitagebart bis knapp unter die scharf geschnittenen Wangenknochen, und die Augen blitzten unter dichten, schwarzen Augenbrauen hervor wie zwei winzige, stahlblaue Sonnen. Ein Holzfällerhemd, dessen Ärmel ziemlich ungleichmäßig aufgerollt waren, spannte sich über einen breiten Brustkorb. Dazu trug er fleckige Jeans, die unten mehrfach umgekrempelt waren und so den Blick auf abgewetzte Cowboystiefel mit Absätzen freigaben, die durch die O-Beine schon arg schief geschliffen waren. Tom konnte es nicht fassen! Vor ihm stand tatsächlich …
»Hugh Jackman!? Wie krass ist das denn!«
Für ein paar Sekunden war nur das Zwitschern der Vögel zu hören. Diesmal klangen sie aber nicht beruhigend wie eben noch in der Küche, sondern irgendwie lärmig. Als würden sie alle schreien: »Tom, du Depp! Hihi, Depp, du Depp, du Depp, du depperter Depp, du!«
Der Mann, der ganz offensichtlich nicht der australische Schauspieler Hugh Jackman war und somit auch nicht Wolverine in den X-Men-Filmen verkörperte, wirkte nicht gerade so, als hielte er diese Verwechslung für ein Kompliment. Stattdessen musterte er Tom einen quälenden Moment lang, bevor er sich zu ihm hinunterbeugte.
Dann erst sprach er sehr leise mit einer rauen Stimme, die klang, als würde man einen Felsbrocken über die Straße zerren: »Ich bin nicht Hugh Jackman, und ich bin auch nicht dieser Typ aus dem Comic mit dem Klappmesser in den Knöcheln, okay?«
»Okay«, hörte sich Tom sagen. Und dann etwas leiser: »Schade, aber okay.«
Der Mann funkelte ihn wütend an, und fast dachte Tom, dass er ihn nun packen und quer über die Straße schleudern würde. Doch dann verzog sich das Gesicht des Mannes zu einem breiten Grinsen. Tom starrte auf perlweiße Zähne, deren Eckzähne bei genauerer Betrachtung doch ziemlich ausgeprägt daherkamen. Und plötzlich erbebte der muskulöse Brustkorb des Mannes von einer heiseren Lachsalve, die Tom mindestens genauso überraschte wie vorhin die Geschwindigkeit des Fremden.
»Haha, du hast Mumm in den Knochen, Junge. Das gefällt mir! Und das wirst du auch brauchen, haha!« Und damit klopfte er Tom zweimal so heftig auf die Schulter, dass der schon dachte, er würde an Ort und Stelle in den Boden gehämmert. Nichts dergleichen geschah, dafür blieb aber ein stechender Schmerz im Schulterblatt zurück, den Tom die nächsten Tage als Erinnerung an diesen Moment spüren würde.
Als Tom bemerkte, dass Oma hinter ihm aus der Küche geschlurft kam, war sein erster Impuls, sie vor diesem unheimlichen Kerl zu beschützen. Doch bevor er sich umdrehen und Oma zurück in den Flur schieben konnte, rief sie schon freudig: »Welf! Da bist du ja! Tom, das ist dein Onkel Welf. Was steht ihr denn da draußen rum? Kommt doch rein!«
Welf hatte die Einladung auf eine Tasse Tee abgeschlagen und stattdessen auf das Auto in der Einfahrt gedeutet. Das betagte Ford Mustang Coupé gehörte ganz offensichtlich ihm. Auf Omas fragenden Blick hin antwortete er nur: »Wir sind spät dran.« Tom runzelte ebenso wie Oma die Stirn. Allerdings ahnte er schon, dass es wohl etwas mit der Testamentseröffnung zu tun hatte. Warum sonst würde ihn ein unbekannter Onkel gerade jetzt aufsuchen und gemeinsam mit Oma in ein Auto packen?
Toms Vermutung wurde von Welf mit einem einsilbigen Grunzen bestätigt, als sie kurze Zeit später über die Bundesstraße in Richtung Innenstadt rauschten. Wobei rauschen weniger zu dem Geräusch des Motors passte als röhren. Immer wenn Welf Gas gab, klang es, als würden zwanzig Hirsche gleichzeitig unter der Motorhaube losbrüllen und damit den alten Sportwagen antreiben. Und Welf gab nicht nur viel, sondern anscheinend auch gerne zu viel Gas. Auch auf Strecken, die man aufgrund ihrer Kürze gar nicht als solche bezeichnen konnte. Welf waren schon wenige Meter Grund genug, um die Hirsche losröhren zu lassen, nur um dann an der nächsten Ampel wieder quietschend zu bremsen. Dass der massige Wagen dabei jedes Mal vor und zurück schaukelte, schien er fast ebenso zu genießen.
Und damit war er nicht alleine, denn auch Oma hatte sichtlich Spaß an der Sache. Sie quiekte bei jeder Beschleunigung und jauchzte bei jedem Bremsmanöver, als säße sie nicht auf dem Rücksitz eines Autos, sondern in einer Achterbahn.
Tom hätte die Fahrt vielleicht auch etwas mehr genossen, wenn er nicht die ganze Zeit über versucht hätte, endlich den Brief von den Anwälten mit den albernen Namen zu lesen. Das wurde ihm allerdings durch Welfs Fahrstil nicht gerade leicht gemacht. Entweder wurde er in den gefederten Sitz gedrückt und patschte sich durch die Fliehkraft selbst den Brief mitsamt den Händen ins Gesicht. Oder der Wagen bremste, und Tom hatte das Gefühl, als würde sein Körper immer noch ein paar Zentimeter weiter fahren wollen, bevor ihn dann der Gurt gewaltsam daran hinderte.
Tom las noch die letzten Sätze des etwas verschwurbelten Textes, als sie endlich in der Empfangshalle der Anwaltskanzlei standen. Im Endeffekt sagten die vier Seiten Blabla nichts anderes, als dass er, Tom, tatsächlich alles vermacht bekam, was Omas Bruder Heinrich besessen hatte, wenn er die Bedingungen im Testament annehmen würde. Welche Bedingungen das waren, würde er jetzt erfahren, und Tom war ganz schön aufgeregt.
Eigentlich hätte er vorher gerne mit Oma über ihren Bruder gesprochen. Er wusste tatsächlich überhaupt nichts über den Mann, der ihm da jetzt sein gesamtes Hab und Gut vermacht hatte. Außer einer Handvoll vergilbter Kinderfotos von ihm und Oma hatte Tom bisher nichts von Heinrich mitbekommen. Und im Nachhinein kam es ihm auch irgendwie komisch vor, dass Oma nie von ihm erzählt hatte. Ihr Bruder war auch nicht ein einziges Mal zu Besuch gekommen oder hatte mal angerufen – zumindest nicht, dass Tom wüsste. Hm.
Na ja, Tom war nicht der Typ für irgendwelche mysteriösen Theorien. Er war der Meinung, dass die wahrscheinlichste Ursache für etwas meistens auch die tatsächliche Ursache war. Andererseits fiel ihm fast gleichzeitig das Zitat von Sherlock Holmes ein: »Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, dann ist das, was übrig bleibt, die Wahrheit, wie unwahrscheinlich sie auch ist.«
Kapitel 3: Das Testament
Tom konnte gar nicht anders, als auch im Aufzug nach oben in die Anwaltskanzlei darüber nachzugrübeln, ob Oma vielleicht einen Grund gehabt hatte, ihren Bruder vor ihm geheim zu halten. Ebenso wie seinen »neuen« Onkel Welf.
Als Tom mit Oma und Welf aus dem Aufzug trat, fühlte er sich fast wie in einer Fernsehserie. Denn viel klischeehafter konnte man eine Anwaltskanzlei wohl kaum gestalten. Irgendwer hatte einfach alles mit dunklem Holz vertäfelt, was auch nur ansatzweise vertäfelbar war: die Wände, die Decken, die schweren Doppeltüren, die Büromöbel – alles war mit dunklem Holz belegt und wirkte nun trotz des bestimmt sehr edlen und teuren Materials irgendwie … billig. So, als hätte man ein Computerspiel programmiert und dann am Ende nur eine einzige, sündhaft teure Textur gekauft, womit dann alles zugepflastert wurde, egal ob Glas, Stahl oder Raufasertapete.
Ein Sekretär oder Gehilfe oder Assistent, oder wie auch immer man das bei Anwälten nennt, nickte ihnen eher höflich als freundlich zu und geleitete sie zu einer der Doppeltüren. Geübt drehte er gleichzeitig beide Knäufe herum und drückte die Türen schwungvoll auf.
Der – natürlich ebenfalls dunkel vertäfelte – Raum war ziemlich groß für einen einzigen Mann, einen Schreibtisch und ein paar unbequem aussehende Stühle.
»Herein, wenn’s kein Richter ist«, rief der Mann ihnen etwas zu laut entgegen. Er sprang auf und kam mit großen Schritten auf Tom zu. »Rufus T. Feuerflieg der Name. Und fragt mich bitte nicht, was das T in meinem Namen bedeutet; ich fand alles hinter dem T so bescheuert, dass ich die anderen Buchstaben verklagt habe.«
Der Anwalt grinste breit, was durch den schwarzen Schnurrbart noch breiter aussah, und ließ dabei die ebenso dichten Augenbrauen über dem runden Brillengestell hüpfen. Offensichtlich war das als eine Art Witz gemeint gewesen, aber Tom war viel zu überfordert, um zu lachen.
Herr Feuerflieg zuckte mit den Achseln: »Wenn du das nicht witzig fandest, was ist damit?« Und er zog eine wirklich selten dämliche Grimasse, die Tom so niemals an einem Anwalt vermutet hätte. Unwillkürlich prustete er los, und auch Oma musste bei dem Anblick kichern. Nur Welf blieb völlig regungslos, als wäre ihm schon das Konzept von »lachen« völlig fremd.
Herr Feuerflieg bemerkte das sehr wohl und verharrte einen etwas zu langen Moment mitsamt seiner Grimasse direkt vor Welf. Schließlich räusperte er sich und brummelte, während er sich wieder hinter seinen Schreibtisch zurückzog: »Entweder hat der keinen Humor, oder er bewegt sich nur, wenn man ihm einen Euro in den Hut wirft.«
Oma lachte: »Wir kennen Welf nun schon sehr, sehr lange, aber ich glaube, wir beide haben noch nie miterlebt, dass er über einen Witz lacht.«
Und wenn, dann bricht er einem fast die Schulter, dachte Tom, denn er spürte nach wie vor die Stelle, auf die der muskulöse Kerl zweimal wuchtig draufgehauen hatte.
Der Anwalt bedeutete ihnen, Platz zu nehmen, und drückte dann auf eine Taste, die vor ihm in die Tischplatte eingelassen war. Tom hörte, dass vor der Tür ein Summton ertönte, und sofort trat der Assistent wieder ein.
»Will jemand vielleicht einen Kaffee? Tee? Limo, Wasser, Cola? Nein? Gut, dann holen Sie uns vier Cheeseburger und werfen sie bitte direkt in den Müll, ich vertrag den Käse nicht.«
Der Assistent nickte, als hätte der Anwalt gerade tatsächlich etwas Sinnvolles gesagt, und zog sich durch die Doppeltür zurück. Kaum war die leise ins Schloss gefallen, zog der Anwalt einen Stapel Papier aus einer der Schubladen.
»Na, dann wollen wir mal …«, sagte er und begann, das oberste Blatt mehrfach zu falten. Im Nullkommanichts hatte er einen Papierflieger gebastelt, selbigen geworfen und dabei zugesehen, wie dieser sofort einen Bogen nach unten beschrieb und nur dreißig Zentimeter weiter neben dem Papierkorb landete. »Gestern hab ich reingetroffen, bitte glaubt mir – wo waren wir? Ach ja, das Testament, wo hab ich nur mein Hirn.«
Vermutlich beim Naseputzen ins Taschentuch geblasen, dachte Tom und sah dem quirligen Mann dabei zu, wie er suchend verschiedene Akten und Schubladen öffnete und sich dann mit der flachen Hand gegen die Stirn schlug.
»Ich Dummerchen«, sagte er, bückte sich, hob das Papierflugzeug auf, entfaltete es, strich es glatt und begann zu lesen: »Ich, Heinrich Balthasar Röschenberg, versichere kraft dieses Dokuments, dass ich die nun folgenden Zeilen im vollständigen Besitz meiner geistigen Kräfte verfasst und unterzeichnet habe. Als Zeuge fungiert mein langjähriger Anwalt und Freund Rufus T. Feuerflieg, der alles Mögliche bezeugen würde, wenn ich ihm dafür mehr als fünf Euro biete.«
Der Anwalt sah kurz auf: »Fünf Euro? Das waren noch Zeiten, heute bezeuge ich alles für drei fünfzig.«
Doch bevor irgendwer lachen – oder Welf genervt schnauben – konnte, fuhr Herr Feuerflieg bereits fort: »So vermache ich nun, im Falle meines Ablebens, die gesamten Ersparnisse dem Ziehsohn meiner über alles geliebten Schwester Käthe, Tom Röschenberg. Zum Zeitpunkt, da ich dieses Testament verfasse, beträgt die Summe auf dem Schweizer Bankkonto …«
Der Anwalt schluckte. Dann sah er noch einmal genauer hin, als hätte er Schwierigkeiten, die Zahl zu entziffern. Schließlich legte er das Blatt vor sich hin und nahm einen Finger zu Hilfe, um die Nullen einer langen Zahl nachzuzählen. Tom blickte zu seiner Oma, die schaute aber nur gebannt auf den Finger des Anwalts, welcher nicht aufhören wollte, Stelle für Stelle nach rechts über das Papier zu wandern.
Was ist das für eine Zahl! Oh Mann, was geht hier ab!, schrie Tom innerlich, während er sich bemühte, äußerlich halbwegs ruhig zu wirken. Kurz dachte er, er bekäme das ganz gut hin. Doch dann bemerkte er, wie sein linkes Bein hektisch auf und ab federte. Tom versuchte krampfhaft, die Beinmuskulatur zu entspannen, erreichte damit aber nur einen noch höheren Verkrampfungsgrad. Sein Bein wippte nun wie wild rauf und runter. Und gerade als er dachte, er würde jede Sekunde zitternd vom Stuhl fallen, meldete sich der Anwalt mit einem weiteren Räuspern.
»So, bitte anschnallen und die Gurte festziehen, wir starten. Und hier noch ein Sicherheitshinweis: Die Schwimmwesten unter den Sitzen taugen auch in aufgeblasenem Zustand nur begrenzt als Fallschirm. Liebe anwesende Angehörige und Freunde von Heinrich Balthasar Röschenberg, der hier anwesende Tom Röschenberg wird an seinem 18. Geburtstag erben: zehn Millionen achthunderteinundreißig … äh … tausendfünfhundertsechsundsiebzig Euro und vierundachtzig Cent.«
Oma juchzte laut, und sogar Welf sog hörbar Luft durch die Zähne. Dafür war Toms Mund schlagartig so trocken wie eine Tüte abgelaufene Haferflocken.
»W… was?«, war das einzige Wort, das Tom herausbrachte.
Der Anwalt verdrehte die Augen und machte sich noch einmal daran, die lange Zahl zu entziffern. »Ähm, sagte ich eben zehn Millionen achthunderteinundreißigtausendfünfhundertsechsundsiebzig Euro und vierundachtzig Cent?«, fragte er schließlich in die Runde, und die anderen drei nickten langsam. Sogar Onkel Welf. »Tja, tut mir leid, euch das sagen zu müssen, aber ich habe mich vertan.« Der Anwalt schüttelte den Kopf, und Tom rutschte das Herz in die Hose und runter bis zum großen Zeh, wo es aufgrund des Platzmangels ganz besonders heftig pochte. »Es sind nur … ähm … zehn Millionen achthunderteinundreißigtausendfünfhundertsechsundsiebzig Euro und achtundvierzig Cent. Zahlendreher im Centbetrag, ich bin untröstlich.«
Alle atmeten tief durch, und Oma flüsterte: »Meine Nerven, meine Nerven …«
Da ließ sich Onkel Welf vernehmen, zunächst durch ein seltsam hustendes Grummeln, das für Tom klang, als würde sich ein Braunbär räuspern. Dann sprach Welf mit seiner Sandpapierstimme: »Das war aber nicht alles, oder? Da steht noch mehr.«
Der Anwalt nickte eifrig: »Oh ja, natürlich steht da noch mehr. Das wäre ja ein ziemlich langweiliges Testament, wenn es damit schon erledigt wäre, nicht wahr? Ich lese mal weiter vor, wenn’s recht ist.«
Toms Herz war gerade wieder auf dem Weg nach oben gewesen, um entspannt dort weiterzupochen, wo es hingehörte. Doch als der Anwalt nun weiterlas, fühlte es sich für Tom so an, als hätten sich Herz und Hirn zusammen in eine Achterbahn gesetzt und im Voraus bezahlt für fünfzig Runden ohne Notstopp.
»Ich verfüge außerdem, dass Tom Röschenberg der vorher benannte Betrag nur dann ausgezahlt wird, wenn er auch den Rest meines Erbes annimmt und die Bedingungen erfüllt, die daran geknüpft sind.«
BedingungenBedingBedingDingDingDing, hallte es in Toms Kopf, als wäre er ein Glockenturm.
»Tom muss bis zu seinem achtzehnten Geburtstag als Besitzer und Direktor der Schreckensfahrt durch die Lande ziehen und sich so des Erbes würdig erweisen. Nur wenn die Schreckensfahrt danach noch besteht und erfolgreich weiter betrieben werden kann, darf Tom einen Nachfolger bestimmen, und das Erbe wird an ihn ausbezahlt.«
Tom saß da und fühlte sich wie ein lebendig gewordenes Fragezeichen. Oma, der Anwalt und Welf sahen ihn an, als erwarteten sie irgendeine Form von Reaktion. Na, die hatte er parat.
»Ähm … Schreckensfahrt!?«, stieß Tom hervor und starrte ziemlich erfolgreich zu allen dreien zurück, obwohl sie in verschiedenen Richtungen saßen.
»Ach so«, lachte Oma. »Entschuldige bitte, das konntest du ja nicht wissen. Schreckensfahrt ist der Name von Onkel Heinrichs Geisterbahn.«