Kleiner Glaube - großer Gott

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

2
Er gibt dem Müden Kraft

WIR SIND NUN IN DER Lage, das zentrale Thema des Buches näher in den Blick zu nehmen, das uns dann im dritten Kapitel beschäftigen wird. Wenn wir einmal dem vorgreifen, was wir dort sagen werden, dann können wir es folgendermaßen ausdrücken: Glaube ist in der Bibel immer von seinem Gegenstand bestimmt. Anders ausgedrückt: Es zählt weniger der Glaube als solcher, sondern vielmehr das, woran man glaubt. Wir werden sehen, dass der Glaube wie ein Fenster ist. Ein Fenster existiert nicht, weil wir in einem Zimmer gerne eine Wand aus Glas haben wollten. Es existiert um der Dinge willen, die wir durch das Fenster sehen können – und auch, damit Licht in das Zimmer einfallen kann.

Im ersten Kapitel haben wir über Gott nachgedacht, über denjenigen, der die Welt ursprünglich erschaffen hat und der nun mit der Erneuerung der Schöpfung begonnen hat. Wir werden uns nun die Passage ansehen, in der diese Wahrheit über Gott als Grundlage für den Glauben seiner Leute genommen wird. Es geht dabei allerdings nicht um diese Leute und ihren ganz bestimmten Glauben. Sie sind eine eher bedauernswerte Truppe. Der Punkt ist schlicht der: sie sind das Volk des großartigen Gottes.

Die fragliche Passage ist den meisten von uns so vertraut, dass wir nicht mehr scharf über sie nachdenken. Es ist eine Passage, die wohl zu den Lieblingsversen vieler Christen gehört. Wenn wir sie wieder einmal lesen, ist sie wenig überraschend:

Die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft,

dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler,

dass sie laufen und nicht matt werden,

dass sie wandeln und nicht müde werden.

(Jesaja 40,31)

Ein herrlicher Text, ob wir ihn nun als poetisches oder als theologisches Zeugnis lesen. Das ist genau das, was wir alle von Zeit zu Zeit brauchen. Doch Augenblick mal: Der Vers bildet das Ende des Kapitels. Und das ist kein Zufall: Dieser herrlich ermutigende Vers baut vollständig auf dem auf, was der Prophet davor gesagt hat. Zu den charakteristischsten Fallgruben eines Großteils der modernen Christenheit gehört der Versuch, ohne Anstrengung zu den Ergebnissen zu kommen – man versucht, direkt an die hilfreiche Stelle am Ende zu springen, ohne zu erkennen, dass man diesen Punkt nur dann angemessen erreichen kann, wenn man dem folgt, was vorher gesagt wurde. Die Bibel ist nicht bloß eine Sammlung hilfreicher Texte. Sie ist ein echtes Buch, oder besser eine Sammlung echter Bücher, und die Gedankengänge, die durch ganze Kapitel oder Bücher verlaufen, sind oft viel wichtiger als irgendein einzelner Vers. In diesem Fall ist das mit Sicherheit so. Der einzige Weg, auf dem wir sicherstellen können, dass wir auffahren auf Flügeln wie Adler, besteht darin, dass wir sicherstellen, dass wir wirklich auf den Herrn harren. Das geschieht allerdings nicht automatisch. Und darum wurde dieser Teil des Jesajabuches geschrieben.

Jesaja schrieb für Menschen, die versuchten, mit dem Exil zurechtzukommen, das Gott als Strafe für die Sünde und den Götzendienst des Volkes angedroht hatte. Und zu den vielen Dingen, die er dem Volk über ihren wahren Gott erzählt, den Gott, der so ganz anders ist als die imaginären Gottheiten, die sie damals angebetet haben, gehört genau dies: Jahwe, der Herr, der Gott Israels, ist der souveräne Schöpfergott. Er ist einzigartig. Es gibt keinen Gott wie ihn. Das Bild ist ein ganz einfaches, aber schauen Sie sich die Farben an, in denen es gemalt ist. Lesen Sie Jesaja 40,12–26. Jahwe, der Gott des Alten Testamentes, hält die Erde in seiner Hand, thront über allen Herrschern der Welt und kontrolliert den höchsten Himmel. Er ist unvergleichlich. Aus diesem Grund ergibt es überhaupt keinen Sinn, irgendeiner anderen Gottheit zu vertrauen. Die Verse 18–20 vergleichen Israels mächtigen Gott mit den sogenannten „Göttern“ der Heiden, ob sie reich sind (dann machen sie sich Götter aus Gold und Silber), oder arm (dann muss man sich mit Holz begnügen). Der Gegensatz ist ein schmerzhaft scharfer. Wir schauen uns in der Welt und in den Königreichen der Welt um und erkennen, dass Gott dies alles gemacht hat und beherrscht. Dann blicken wir einen Moment auf die Schatten der Erde, und ausgerechnet dort sehen wir Menschen, die versuchen, sich ihre eigenen Götter zu erschaffen. Das ist lächerlich, aber wahr.

Leider ist das heute immer noch so. Zugegeben: Nicht auf dieselbe Weise. Wir machen uns normalerweise keine kleinen Statuen aus Gold und Silber und beten sie dann an. Götzendienst kennt jedoch keine kulturellen oder zeitlichen Grenzen. Wir haben Götzen mit vier Rädern. Die Anbeter dieser Götzen verwenden ihre Anstrengungen und ihr Geld darauf, sie zu polieren und immer schneller zu fahren. Wir haben Götzen aus drei Zimmern; deren Anhänger halten diese Zimmer makellos sauber, für den Fall, es könnte überraschend Besuch kommen. Wir haben viereckige Götzen, unsere heimischen Kinoleinwände. Einige von uns haben schöne gebundene Götzen mit Seiten und Schutzumschlägen. Auch wir beten unsere Götzen an, weil sie uns stolz machen. Wir versetzen uns in sie hinein, tatsächlich oder in unserer Einbildung, und dann beten wir an, was wir sehen. Vor einigen Jahren gab es ein Buch mit dem Titel The God I Want (Der Gott, den ich will). Wenn es je ein Rezept für Götzendienst gab: hier ist es. Der Gott der Bibel ist nicht unbedingt der Gott, den ich will: Meine konfusen Begierden passen mit großer Sicherheit nicht mit dem zusammen, wer er wirklich ist, und das ist auch gut so. Was wirklich zählt, ist der Gott, der mich erschaffen hat, der Gott, mit dem ich mich befassen muss (ob ich will oder nicht). Er ist so viel größer und großartiger als alles andere, was ich mir vorstellen könnte, dass ich mir niemals erträumen sollte, ich hätte ihn erfasst und eingeordnet. Wir müssen den Gott der Bibel ständig schärfer in den Blick bekommen. Andernfalls werden wir entdecken, dass unser Bild von ihm allmählich gezähmt und auf das reduziert wird, was wir in unserem Leben handhaben können. Und Gottheiten, die wir bequem handhaben können, sind Götzen.

Im Buch Jesaja sehen wir also den wahren Gott und die falschen Gottheiten – den lebendigen Gott und die toten Götter – den redenden Gott und die stummen Götter – den allmächtigen Gott und die machtlosen, von Menschenhand erschaffenen Imitationen, die Götzen. Wir kommen nicht an der Frage vorbei: Wen beten wir an?

Hier geht es nicht um eine Frage, auf die es die richtige Antwort zu finden gilt, es geht nicht um ein Problem der akademischen Genauigkeit. Es geht um eine ganz praktische Angelegenheit. Der Prophet schrieb an Menschen, die sich von ihrem Gott im Stich gelassen fühlten – die das Gefühl hatten, das angedrohte Exil bedeutete, dass Gott sie vergessen hatte oder machtlos war, ihnen in dem Moment zu helfen, als sie es am meisten brauchten. In Wahrheit war das genaue Gegenteil der Fall. Sie hatten vergessen, wie ihr Gott war. Ihr Gott war zu klein – das war der Grund, warum Jesaja ihnen die gewaltige Vision von Gott als dem Schöpfer und Herrscher des Himmels und der Erde vermittelte. Denn dieser Gott ist nicht nur der souveräne Herrscher: Er ist der Gott, der seinem Volk Anteil an seinem eigenen Charakter gibt.

An dieser Stelle sind wir zurück, wo wir begannen. Es wird uns gezeigt, warum diejenigen, die auf den Herrn harren, neue Kraft bekommen. Er wird nicht müde (Vers 28); er gibt den Müden Kraft (Vers 29); er ermüdet nicht (noch einmal Vers 28); diejenigen, die müde und erschöpft sind, können neue Kraft bekommen, indem sie diese Kraft von ihm beziehen (Verse 29–31). Gott gibt denen, die auf ihn harren, Anteil an ihm selbst, an seiner Allmacht. Glaube ist nutzlos – besonders wenn es sich um Glauben an eine Gottheit handelt, die machtlos wie ein Stück Holz ist! Der Schöpfergott als Gegenstand des Glaubens – der zählt!

Wir könnten dieses Bild erweitern und zeigen, dass uns auch andere Eigenschaften Gottes zu Hilfe kommen, wenn wir sie brauchen. Wenn wir mit Verzweiflung ringen, müssen wir auf den Gott aller Liebe und Barmherzigkeit harren; wenn wir dem Tod ins Auge sehen, müssen wir uns erinnern, dass unser Gott der Gott ist, der Jesus von den Toten auferweckt hat. Das Leben des Christen ist kein Leben, das auf eigenen Füßen steht oder das sich auf den eigenen Glauben stützt. Es ist an jedem Punkt auf den Charakter Gottes gegründet, darauf, wie Gott ist. Und der Höhepunkt des Kapitels spricht zum gewöhnlichen Christen im Alltagsleben. Darauf ist oft hingewiesen worden. Auffahren auf Flügeln wie Adler ist schön und gut. Es ist oft einfacher, weiterzumachen, wenn wir etwas Aufregendes tun. Wenn unser Leben aus den immer gleichen alten Dingen besteht, nur Schritt für Schritt vorwärts geht und aus einem langsamen Spaziergang ohne überraschende Wendungen oder interessante Aspekte besteht, dann ist es nicht immer so leicht. In diesen Momenten müssen wir etwas von dem Gott wissen, der niemals müde wird. Bei Beerdigungen und in Neujahrsgottesdiensten wird oft über die Zeit nachgedacht und dass letztlich uns alle der Tod ereilen wird. Das ist eine Wahrheit, die der Betrachtung wert ist, besonders in einer Ära, in der kaum über den Tod gesprochen wird. Wir müssen dieser Wahrheit jedoch die andere Wahrheit beiseite stellen, die der Hymnus erwähnt: die Wahrheit, dass Gott wie ein unumstößlicher Felsen seine Söhne und Töchter zur Herrlichkeit führt. Seine Fürsorge steht im Hintergrund unserer Beharrlichkeit.

An dieser Stelle möchte ich eine Passage aus Kolosser 1 einbringen, in welcher der Apostel Paulus das, was Jesaja sagt, geschickt aufgreift und verstärkt. In Vers 11 betet Paulus, die Kolosser mögen „gestärkt werden mit aller Kraft durch seine herrliche Macht zu aller Geduld und Langmut“. Paulus zögert nicht zu sagen: Christ zu sein ist keine leichte Sache, sondern erfordert kontinuierliche Arbeit und Wachsamkeit. Das ist jedoch kein Grund zur Verzweiflung. Im nächsten Vers heißt es: „Mit Freuden sagt Dank dem Vater, der euch tüchtig gemacht hat zu dem Erbteil der Heiligen im Licht.“ Gott selbst macht uns also tüchtig, befähigt uns, gibt uns die Kraft, die uns zu Heiligen macht. Dies Geheimnis steckt schon in Vers 11: gestärkt mit aller Kraft durch seine herrliche Macht. Es heißt nicht: Gestärkt durch unsere Gefühle oder dadurch, dass wir fröhlich die bestimmte Aufgabe erfüllen, die uns momentan anvertraut ist. Das griechische Wort, das in der Lutherbibel mit „durch“ wiedergegeben ist, kann das Phänomen bezeichnen, wenn man von etwas im positiven Sinne mitgerissen wird – wenn man z. B. in einem Fluss stromabwärts schwimmt. Die Strömung nimmt den Schwimmer mit. Er oder sie muss natürlich auch selbst schwimmen, doch aufgrund der Strömung kann man weiter und schneller schwimmen und mit weniger Anstrengung, eben nicht alleine mit eigener Kraft. So ist es auch, wenn unsere Schwachheit im Strom der Allmacht Gottes schwimmt. Unser Gott ist der Gott, der den Müden Kraft gibt.

 

Das bringt mich zum Anfang zurück. Der Glaube ist kein allgemeines Vertrauen in irgendetwas oder irgendjemanden. Glauben heißt: unsere Situation und unsere Schwäche im Lichte dessen anschauen, wer Gott ist und was er für uns getan hat. So ist auch unsere Hoffnung kein vager Optimismus. Hoffnung heißt: Die Zukunft im Lichte desselben Gottes zu sehen und im Lichte dessen, was er verheißen hat, für uns zu tun. Er verfolgt seine Absichten, und das wirkt sich aus, Jahr um Jahr. Dieser Glaube und diese Hoffnung ermöglichen uns, „des Herrn würdig zu leben“ (Kolosser 1,10). Zwei Haltungen gilt es zu vermeiden: Auf der einen Seite die Vorstellung, Gott würde uns „alles abnehmen“, sodass wir uns zurücklehnen und alles ihm überlassen können. Auf der anderen Seite die götzendienerische Vorstellung, unser Gott sei nicht wirklich in der Lage, sich um uns zu kümmern und uns die Kraft zu geben, die wir in der Arbeit für ihn brauchen. Wenn wir auf den wahren Gott schauen und auf ihn harren, werden wir entdecken: Wenn es gilt aufzufahren, dann können wir es auf den Flügeln des Adlers tun; wenn es gilt zu laufen, können wir es tun, ohne matt zu werden; und wenn es gilt zu wandeln, können wir das tun – des Herrn würdig und ohne müde zu werden.

3
Nicht im Schauen

WIR KÖNNEN UNS NUN EINE ganz zentrale Passage in der Bibel anschauen, die den Glauben behandelt. Es handelt sich um Hebräer 11. Dort sagt der Autor: „Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott zu gefallen“ (Vers 6).

Wenn wir nicht aufpassen, entsteht in unserem Kopf das Bild von Gott als einer Art himmlischem Prüfer. Dieser hat ziemlich willkürlich entschieden: Es gibt nur einen einzigen Maßstab, an dem sich entscheidet, ob man die Prüfung besteht oder durchfällt. Wer Glauben hat, besteht; wer keinen Glauben hat, fällt durch. Das scheint jedoch nicht nur willkürlich zu sein. Wenn wir davon ausgehen, dass die Allgemeinheit unter „Glaube“ nicht viel mehr als „Gutgläubigkeit“ versteht, dann ist das auch noch ausgesprochen unfair. Warum sollen einige Menschen bevorzugt behandelt werden, nur weil sie zufällig fähig sind, bestimmte Vorstellungen mit Haut und Haaren zu schlucken, die andere Menschen, vielleicht die Mehrheit, um keinen Preis akzeptieren kann?

Nach allem, was bisher gesagt wurde, wird es keine Überraschung sein, dass ich mich gegen diese Auffassung vom Glauben wenden werde. Ich werde dafür sorgen, dass der Autor des Hebräerbriefes seine eigene Verteidigung übernehmen kann.

Das erste, was es zu registrieren gilt, richtet sich besonders an diejenigen, die sich vorstellen, der Glaube sei eine vollkommene Gewissheit über den Sinn des Lebens, eine vollständige und klare Gotteserkenntnis, die den glaubenden Menschen befähigt, ruhig durch das Leben zu marschieren, ohne mit der Wimper zu zucken angesichts all der Probleme und Schwierigkeiten, mit denen es die meisten von uns zu tun haben. Wer meint, dass der Glaube so ist wie gerade beschrieben, wird gewöhnlich entweder in krasser Selbsttäuschung enden oder sich verwundert fragen, warum der Glaube scheinbar so schwierig ist – und das gilt für Christen wie für Nichtchristen. All diesen Leuten sagt der Hebräerbrief rundheraus: Nein, ihr liegt falsch. Glaube ist das Gegenteil von Schauen. „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“ (Hebräer 11,1). Daher der Titel dieses Kapitels, mit einem Seitenblick auf 2. Korinther 5,7. Der Glaube ist keine mysteriöse Fähigkeit, mit einem geheimen Schlüssel durch das Leben zu schweben, der alle Türen öffnet. Der Glaube ist die Bereitschaft, auf der Basis dessen zu denken und zu handeln, was wir von Gott wissen (was sehr wenig sein kann), und ihm zu vertrauen, dass er uns nicht im Stich lässt. Das trifft gleichermaßen auf Menschen zu, die jahrelang an Gott geglaubt haben, aber den Glauben brauchen, um den nächsten Tag zu überstehen, und auf Menschen, die sich nie sicher waren, ob sie an Gott glauben oder nicht, also auf Menschen, die diesen Glauben wirklich zum ersten Mal brauchen.

Der Autor von Hebräer 11 veranschaulicht, was er meint. Gott sagt: „Noah, es wird eine Flut geben; geh hin und bau eine Arche.“ Und Noah geht hin und baut sie, wobei er vermutlich den Spott der örtlichen Wetterpropheten ertragen muss. Gott sagt: „Abraham, ich möchte, dass du den Ort verlässt, an dem du geboren und aufgewachsen bist, und woanders hingehst – und kümmere dich im Moment nicht darum, wo das sein wird. Ich habe Pläne mit dir.“ Abraham gibt seine Sicherheit auf und geht im Glauben, nicht im Schauen, in das Land, das Gott seinen Nachkommen geben wollte. Gott sagt: „Sarah, du wirst einen Sohn zur Welt bringen.“ Menschlich gesehen war das unmöglich. Doch Sarah glaubt das und Isaak wird geboren – sie glaubt trotz ihres nervösen Gekichers, das ihre Unsicherheit kaschiert.

In jedem dieser Fälle handelt es sich bei den betreffenden Personen nicht um Supermystiker, die im Vergleich zu uns in anderen Sphären leben. Auch ihnen wird kein Blick auf eine himmlische Landkarte gewährt, auf der die kommenden Weltereignisse eingezeichnet sind. Sie bekommen allerdings Verheißungen: Wenn sie in diese oder jene Sackgasse laufen, wird Gott vor ihnen eine Tür auftun, die sie sich nie erträumt hätten. Das ist auch heute noch so für die Christen, die das Gefühl haben, Gott ruft sie auf einen neuen Weg oder weist sie an, irgendwelche liebgewonnenen Besitztümer, Beziehungen oder Gewohnheiten aus ihrem Leben zu streichen. Gott scheint zu sagen: „Mach dich zum Narren. Geh in die Wüste, verlass deine gegenwärtige sichere Existenz, verlass die Dinge, auf die du dich verlässt.“ In gewissem Sinne sagt er das natürlich auch. Doch diejenigen, die ihn beim Wort nehmen, wissen, dass die Sache nicht so einfach funktioniert. „Gott hat wunderbare Dinge für diejenigen vorbereitet, die ihn lieben“ – stimmt, doch dieselbe Passage sagt auch: „Kein Auge hat gesehen, kein Ohr gehört und keines Menschen Herz erdacht“, worin diese Dinge genau bestehen (1. Korinther 2,9). Das gilt auch für denjenigen, für den die Aufforderung: „Du musst an Jesus Christus glauben“, genauso sinnvoll klingt wie der Befehl: „Bau eine Arche!“ Der Glaube ist das Gegenteil von Schauen. In Sprüche 3,5 lesen wir:

Verlass dich auf den HERRN von ganzem Herzen,

und verlass dich nicht auf deinen Verstand,

sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen,

so wird er dich recht führen.

Nun gut: Der Glaube ist also kein magischer Reisepass, mit dem man in ein bequemes, problemloses Leben kommt. Er ist nicht für diejenigen reserviert, die auf dieselbe Weise an Gott glauben wie die Menschen, die glauben, die Erde sei flach. Es gibt jedoch auch einige, die diesen Punkt beinahe zu gut begreifen, die einen Schritt weiter gehen, die Konsequenzen ziehen und auch einen fast vollständigen Agnostizismus für eine Tugend halten. Es gibt heute eine Art falsche Demut in Glaubensfragen, eine Demut, die stolz ist auf die vielen Dinge, derer man sich nicht sicher ist. In dieser Demut läuft man im Nebel herum und sagt sich selbst und allen anderen, dass sowieso niemand diese Dinge klar sieht. Wir treffen diese Demut manchmal in der Form von Menschen, die sagen: „Ich kann mit all dieser Theologie nichts anfangen“ – wobei sie damit meinen: „Wenn du nichts dagegen hast: Ich möchte lieber nicht zu scharf über Gott und die Forderungen nachdenken, die er an mich stellen könnte.“ Das ist allerdings kein Glaube.

Glaube ist aber nicht nur das Gegenteil von Schauen, sondern auch das Gegenteil von Zweifel. Glaube ist die Zusicherung der Dinge, die man nicht sieht; aber eben die Zusicherung der Dinge, die man nicht sieht. Luther drückt es so aus: „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“ Natürlich gibt es viel Platz für ehrlichen Zweifel im Blick auf Dinge, die wir noch nicht wissen können. Abraham wusste nicht, wo er landen würde. Doch durch seinen Gehorsam zeigte er, dass er voller Zuversicht war, dass Gott sein Wort halten würde. Es ist so, wie es der Autor ein paar Verse später sagt: Diese Menschen starben im Glauben. Sie hatten die Erfüllung der Verheißungen noch nicht erlebt, doch sie sahen sie von ferne, waren von ihnen überzeugt und machten sie sich zu eigen. Menschen, die im Glauben leben, mögen zwar nicht wissen, wo sie hingehen. Dennoch kennen sie Gewissheit – die Gewissheit in der Beziehung zu dem Gott, der sie berufen hat und führt.

Wenn wir verstehen wollen, wie der Glaube sowohl das Gegenteil von Schauen als auch von Zweifel sein kann, dann müssen wir aufhören, abstrakt vom Glauben zu reden, und beginnen, konkreter zu werden. Der Glaube ist ja als solcher nicht nützlich oder wertvoll. Glaube ist wie ein Fenster (unser Vergleich aus dem zweiten Kapitel), das nicht um seiner selbst willen existiert, sondern damit wir etwas durch das Fenster sehen können – und damit Licht ins Zimmer einfallen kann. Glaube ist sinnlos und nutzlos, bis er einen Ausblick auf etwas Bestimmtes gewährt.

Das Wort etwas ist allerdings irreführend. Der Glaube ist keine Frage von abstrakten Theorien. Es geht beim Glauben auch nicht darum, sich noch vor dem Frühstück dazu aufzuschwingen, sechs unmögliche Dinge zu glauben (wie die Königin in Alice im Wunderland sagt). Christlicher Glaube besteht nicht bloß darin, einer Reihe von Lehrsätzen gedanklich zuzustimmen, auch wenn er das früher oder später umfassen wird. Es geht auch nicht darum, dass es jedes Objekt irgendeines Glaubens tut, solange nur ein Glaube vorhanden ist. Glaube bedeutet, sich völlig auf Gott zu verlassen und sich Gott für Zeit und Ewigkeit hinzugeben, seine Gebote zu befolgen, nicht zu versuchen, sich selbst als guten Menschen Gott zu empfehlen, sondern der Tatsache zu vertrauen, dass er uns annimmt, wie wir sind, und zwar aufgrund dessen, was Jesus Christus für uns erwirkt hat. Paulus fasste es zusammen, als er aus dem Gefängnis schrieb: „Ich bin eingesetzt als Prediger und Apostel und Lehrer. Aus diesem Grund leide ich dies alles [Glaube als Gegensatz zum Schauen]; aber ich schäme mich dessen nicht [Glaube als Gegensatz zu Zweifel]; denn ich weiß, an wen ich glaube [Glaube definiert durch seinen Inhalt], und bin gewiss, er kann mir bewahren, was mir anvertraut ist, bis an jenen Tag.“ Ich weiß, an wen ich glaube. Der Glaube mag manchmal wie ein Sprung ins Dunkel aussehen, aber er ist immer ein Sprung, zu dem man im Gehorsam gegenüber einer Stimme ansetzt, die aus dem Dunkel kommt und sagt: „Spring, ich fange dich auf.“

Der christliche Glaube ist also kein vager Optimismus und keine allgemeine religiöse Herangehensweise an das Leben. Christlicher Glaube heißt, dem Gott zu glauben und zu vertrauen, der in Jesus von Nazareth gezeigt hat, wie er ist. Was heißt das? Es heißt erstens, dass wir wissen, dass Gott ein heiliger und allmächtiger Gott ist: Daran lässt das Leben Jesu keinen Zweifel. Es heißt zweitens, dass er ein liebender und barmherziger Gott ist: Daran lässt der Tod Jesu keinen Zweifel. Es heißt drittens, dass er ein Gott ist, der neues Leben schenkt: Daran lässt die Auferstehung Jesu keinen Zweifel. Wir können Gott nicht sehen; aber Jesus hat uns gezeigt, wie er ist. Und Gott verlangt von uns (in erster Linie) keinen großen Glauben. Als die Jünger zu Jesus sagten: „Herr, mehre unseren Glauben“, sagte Jesus ihnen, dass nur ein Glaube nötig ist, der so groß wie ein Senfkorn ist. Wir brauchen keinen großen Glauben. Wir brauchen Glauben an einen großen Gott. Daher der Titel dieses Buches. Und dieser Glaube entsteht im Hören auf die Verheißungen Gottes, wie es Abraham vormacht: Man hört die Verheißungen, glaubt ihnen und handelt auf ihrer Grundlage.

 

Wie sehen diese Verheißungen aus, und für wen sind sie? Sie sind für uns alle: für diejenigen, die schon sehr lange Christen sind und die wieder einmal die Leben spendenden Worte hören müssen, die Gott spricht; für diejenigen, die als Christen vor sich hin wursteln und die dringend aus der Macht und Liebe Gottes Kraft für die nächsten Tage und Wochen ziehen müssen; bis hin zu jenen, die bisher noch nie Gott ihr Vertrauen gegeben haben und die dies vielleicht dringender tun müssten, als sie meinen. Uns allen gelten die Verheißungen: „Wer mein Wort hört“, sagt Jesus, „und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben.“ Oder auch: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch Ruhe geben.“ Und wiederum: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben.“

Eine der erstaunlichsten Verheißungen ist genau in der Passage zu finden, die wir untersucht haben. Nachdem der Autor den Glauben beschrieben hat, der sowohl das Gegenteil von Schauen als auch von Zweifel ist, sagt er über die Männer und Frauen des Glaubens: „Darum schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott zu heißen“ (Hebräer 11,16). Dieses kleine Possessivpronomen, ihr Gott, fasst alles zusammen. Gott will für sein Volk kein ferner Gott sein, und er wird das auch nicht sein. Der christliche Glaube ist eine Beziehung – eine persönliche Beziehung – in der Gott sein Volk liebt und sich um sie kümmert, und in der sein Volk Gott kennt, ihn liebt und ihm gehorcht.

Man ist versucht zu sagen: „Mach damit, was du willst!“ Doch ich möchte gerne sagen: „Greif zu!“

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?