Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen: Serial Teil 5

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Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen: Serial Teil 5
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Tobias Fischer

Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen: Serial Teil 5

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Inhaltsverzeichnis

Titel

20. Kapitel: Der Aufmarsch

21. Kapitel: Unten, oben und darüber

22. Kapitel: Entscheidungsschlacht

23. Kapitel: Konklusion

Anhang A: Chronologie der Ereignisse

Impressum neobooks

20. Kapitel: Der Aufmarsch

Der Sieg ist schon zum Greifen nah, dachte Ernie erregt, als er früh am Morgen aus seinem Zelt trat. Vor ihm breitete sich die karge Landschaft Chardonians aus, die nördlichste Provinz Neoperseuons. Sein Blick glitt über die hohen Berge im Westen, deren schneebedeckte Gipfel wie Zuckerhüte hinter dem Lager der Schwarzen Horde aufragten. Im Osten, mehr oder weniger direkt zu seinen Füßen, lief das Land dagegen flach dem Horizont entgegen. In der Ferne konnte er die Sanddünen der angrenzenden Wüste erkennen, die nahtlos an die einstmals fruchtbare Ebene anschloss. Weiter im Norden erhob sich das Land zu einer Kette niedrigerer Berge, die zugleich die Grenze zu Hatti markierte. Ernie ballte die Fäuste. Dort gab es viele Stützpunkte und Verstecke der Chardoni, die sich auf diese Weise einer Invasion aus Hatti erwehrten. Dass sie jedoch von Süden, wo es nichts gab als Wüste, angegriffen werden könnten, damit hatte dieses sture und unbeugsame Volk nicht gerechnet.

Der Fürst Kishons war der Xatrapavan, der Provinzgouverneur, traditionell aus dem Adel der Chardoni erwählt. Anders als die übrigen Provinzregenten genoss der Xatrapavan Chardonians weitgehende Unabhängigkeit. Seit jeher garantierten die Großkönige Neoperseuons die Freiheit der Chardoni. Von Natur aus eigenwillig und freiheitsliebend waren einzig die Chardoni von der Pflicht befreit, Soldaten für die Armee des Großkönigs zu stellen, ebenso durften sie ihre eigene Sprache sprechen und Bücher in ihrer eigenen Schrift verfassen. Ein Staat im Staate, aber damit war jetzt Schluss! Auch sie mussten sich dem Schwarzen Manifest beugen, sie hatten auch gar keine andere Wahl. Er wäre sogar bereit, das gesamte Volk niederzumetzeln, wenn sie die Wahrheit nicht anerkennen wollten.

Auf halben Weg zwischen dem Gebirge im Osten und der Wüste im Westen lag Kishon. Umgeben von einer vier Meter dicken und fünfzehn Meter hohen Mauer galt die Stadt als nahezu uneinnehmbar. Von hier aus kontrollierten die Chardoni die Handelsrouten in alle vier Himmelsrichtungen. Ihre Krieger konnten Karawanen den Zugang zu den Wasserquellen des Gebirges gewähren oder abschneiden.

Seit drei Monaten belagerte die Horde die Stadt jetzt schon. Mordkommandant Pratzgul hatte den Chardoni den Weg zu ihren Schlupfwinkeln im westlichen und nördlichen Gebirge abgeschnitten. Mordkommandant Faran Tilesck blockierte mit seinen Einheiten alle Fluchtwege im Süden und Osten. Alle Sturmversuche auf die Stadtmauer waren jedoch kläglich gescheitert. In den vergangenen neunzig Tagen war die Stadt Nacht für Nacht mit Brandladungen bombardiert worden, sodass hinter der mit Narben und Kratern überzogenen Mauer kaum mehr ein Stein auf dem anderen stand. Trotz dieser Zerstörung und aller Entbehrungen hatte die Horde den Widerstand der Chardoni nicht brechen können. Männer wie Frauen kämpften Seite an Seite auf den Mauern, mit Mistgabeln und Küchenmessern, wenn es nötig war.

Die Schwarze Horde hatte sogar die Wasserleitungen, die aus den Bergen in die Stadt führten, zerstört, doch die Einwohner Kishons gaben nicht auf. Durch geheime Tunnel schafften sie weiter Wasser in die Stadt und stellten so die Versorgung sicher. Pratzguls Männer hatten zwar etliche von ihnen entdeckt und zerstört, doch während des schon so lang andauernden Kampfes gegen Hatti hatten die Chardoni offenbar Hunderte angelegt. Pratzgul schätzte, dass sie Monate brauchen würden, um sie alle aufzuspüren. So weit reichten die konkreten Pläne des Achten jedoch nicht. Mit dem sicheren Sieg in Ergian vor Augen schickte er nun Brigade für Brigade in den Norden. Der Sturm auf Kishon war nur noch eine Frage von Stunden, die Niederlage dieser unbelehrbaren Sturköpfe würde vollkommen sein.

Die Aussicht auf den Sieg zauberte ein breites Lächeln auf Ernies Lippen. Es hielt an, bis ein schäbig aussehender Schrat zu ihm trat.

»Der Achte verlangt nach Euch, Mordkommandant«, bellte der hässliche Strolch.

Ernie nickte. Vor knapp einem Jahr hatte er mit diesen Unholden erstmals Bekanntschaft gemacht, und noch immer waren sie ihm zuwider. Es ließ sich jedoch nicht leugnen, dass sie gnadenlose Krieger waren, unter dem richtigen Kommando sogar ausgesprochen effizient und todesmutig. Sie besaßen eine angeborene – oder anerzogene – Wildheit, die sie zu wahren Bestien im Kampf machten. Wie Raubtiere stürzten sie sich auf ihre Feinde, hackten, stachen, bohrten, bissen und kratzten alles nieder, das ihnen in die Quere kam. Viele der Krieger Neoperseuons hatten schon die Flucht ergriffen, wenn ihre ersten Schlachtreihen von Schraten zerfleischt wurden.

Während Ernie durch das Lager der Schwarzen Horde marschierte, versuchte er, die Zelte zu zählen. Es mussten Hunderte sein. Seine Todesbrigade hatte sich inzwischen mit der Dolchbrigade Pratzguls und der Blutbrigade Faran Tilescks vereinigt. Zusammen neuntausend Menschen und Schrate, die zu allem entschlossen waren. Hinzu kamen noch einmal rund zweitausend Krieger und Spezialtruppen, die der Achte hierher verlegt hatte. Sie bildeten die Mannschaften der Katapult-Bataillone und Bergbaupioniere.

Ernie fand den Achten vor dessen riesigen Kommandozelt zusammen mit Faran Tilesck und Pratzgul. Letzterer war ein korpulenter, verwegen aussehender Schrat, dem nicht nur sämtliche Haare und das rechte Auge fehlten, sondern obendrein noch Nase und Oberlippe. Meist gab er lediglich Grunzlaute von sich, wie ein mordgieriges Wildschwein, besonders wenn Blut floss. Er hatte seine helle Freude an Hinrichtungen aller Art. Ernie fand Pratzgul abstoßend.

Faran Tilesck war das genaue Gegenteil. Als Mann aus dem Adel von Neoperseuon achtete er sehr auf sein Äußeres, zeigte sich stets gewaschen und geschminkt, den schwarzen Bart und das lange Haar wohl frisiert und gepflegt. Soweit Ernie wusste, hatte Tilesck früher als General unter dem Großkönig gedient, doch nach den ersten Siegen der Schwarzen Horde die Seiten gewechselt. Er war auf seine Art ebenso abstoßend wie der Schrat, denn er war unerträglich eitel. Selbst jetzt zeigte er vor dem Achten ungeniert seinen entblößten Oberkörper, dessen wohldefinierte Muskeln unter einem dünnen Ölfilm schimmerten. So zog er auch in die Schlacht, als würden Speere oder Pfeile von seiner Herrlichkeit abprallen. Und so einer war Mordkommandant! In Ernies Augen war Tilesck nichts als ein Aufschneider wie die Jungs in seiner Schule. Noch dazu ein Weiberheld, der seine Leidenschaft nicht unter Kontrolle hatte. Dutzende Kriegerinnen aus den Reihen der Horde hatte er schon geschwängert, trieb es sogar mit Schrat-Weibchen. Gerüchteweise vergewaltigte er ohne jede Hemmung Gefangene in den eroberten Städten. Ernie begriff nicht, wie der Achte ihn gewähren lassen konnte. So ein Verhalten war ein Verstoß gegen das Schwarze Manifest.

Der Achte schätzte jedoch alle seine Mordkommandanten gleichermaßen, und Tilesck war zu Ernies Ärger der Einzige von ihnen, der noch keine größere Niederlage kassiert hatte. Ein Angeber und Schurke mochte er sein, doch immerhin verstand Faran Tilesck sein Kriegshandwerk.

»Schön, dass Ihr gekommen seid, Mordkommandant Fraud«, grüßte ihn der Achte. Wie immer trug er sein Gesicht hinter einem Schleier verborgen und stand wie ein fleischgewordener Schatten zwischen seinen Kommandanten, anonym und mystisch. Ernie verbeugte sich gehorsam vor ihm.

»Ich habe Neuigkeiten und Befehle des Dunklen Meisters. Der Goldkaiser ist tot, und in Kadingira greift Panik um sich. Die Königin ist verschwunden und die Allianz der Verlorenen vernichtet, was hoffentlich auch Eure Sorgen wegen dieses vermaledeiten Luftschiffs beseitigt«, verkündete der Achte.

Ein wenig bedauerte Ernie diese Neuigkeiten. Zu gern wäre er es gewesen, der Tom Packard und Vanessa vernichtet hätte. Doch zuerst kam der Dienst am Schwarzen Manifest, dann das Vergnügen. Erneut verbeugte er sich gehorsam vor seinem Gebieter. »Und Euer Aufstieg?«, fragte er halblaut.

Der Achte schwieg einen Moment. Ernie glaubte, Zorn und Enttäuschung hinter dem Schleier zu spüren. Dann sprach er: »Eins nach dem anderen, Mordkommandant. Zuerst der Sieg über Kishon. Erinnert Euch an die Prophezeiungen des Schwarzen Manifests. Die Vollkommenheit ist nicht ohne Blut und Schmerz zu erkaufen. Doch unser Triumph ist nahe. Die verräterische Seelenkönigin befindet sich in der Gewalt des Dunklen Meisters. Zu gegebener Zeit wird er über sie Gericht halten. Die Prophezeiung wird sich erfüllen, daran habe ich keinen Zweifel.« Er klang gelassen, fast schon gut gelaunt.

»Wann greifen wir an?«, wollte Pratzgul wissen. Ernie sah dem mächtigen Schrat an, wie es ihm in den Fingern juckte, das Blut der Stadtbevölkerung zu vergießen.

 

»Heute Abend ist es so weit. Pratzgul und Tilesck, Ihr werdet die Stadt attackieren. Für Euch, Fraud, habe ich eine andere Aufgabe. Unsere Geheimwaffe ist vollendet, alle Vorbereitungsarbeiten sind abgeschlossen. Diesmal wird Kishon fallen. Wir werden die Stadt vollständig vernichten«, verkündete der Achte.

Endlich! Auf diese Entscheidung hatte Ernie gewartet. Endlich durften sie losschlagen und dem Schwarzen Manifest zu einem weiteren Schritt auf seinem Siegeszug verhelfen.

Als hätte das ganze Lager die Befehle des Achten vernommen, erklang plötzlich das aufgeregte Geschrei der Krieger. Befehle wurden gebrüllt, Melder eilten hin und her. Pratzgul und Tilesck wandten sich überrascht um. Selbst der Achte wirkte für einen Moment verwirrt. Ernie begriff, dass der Tumult keineswegs mit den Befehlen seines Anführers zu hatte. Im Westen hinter den fernen Dünen tauchte etwas auf, das ihn ebenso erstaunte wie maßlos entsetzte.

Als würde er aus dem Sand herauswachsen, schob sich dort ein gewaltiger, silberner Körper über den Horizont, immer höher. Der Sonnenaufgang spiegelte sich in goldenen, roten und violetten Farben auf der riesigen Hülle wider. Es war ein Zeppelin, keine krumme und unausgegorene Konstruktion wie die Allianz der Verlorenen, sondern ein wahrhaftiges Luftschiff aus den zwanziger Jahren. Jetzt erreichte auch das Brummen der Propellermotoren Ernies Ohren. Vier vom Rumpf abstehende Gondeln trieben das titanenhafte Ding vorwärts, und es war schnell, Teufel, war es schnell! Am Bug stand etwas mit schwarzen Lettern geschrieben. Mühsam entzifferte Ernie: USS Los Angeles ZR-3. Dann erstarrte er. An den Heckflossen prangte das Hoheitszeichen Talassairs: drei silberne Gipfel vor einem orangefarbenen Sonnenaufgang auf grünem Grund.

»Die Allianz«, keuchte Pratzgul ungläubig. »Die Allianz der Verlorenen ist gekommen!«

Auf Tom wirkte die ganze Situation so unwirklich, wie sie nur sein konnte. Er saß in einem luxuriösen Ledersessel an Bord der Reisegondel eines Zeppelins, während neben ihm Brokaris und Morga ihre Waffen und Ausrüstung überprüften. Die Hexe und der Schrat wirkten in dieser Umgebung, als hätten sich Figuren aus einem Märchenbuch in die moderne Welt verirrt. Morgas Waffen waren eine Reihe scharfer Dolche, während Brokaris mit ihrem Besen als Kampfstab auskam.

Teile des Luftschiffs waren in einen großen Frachtraum umgebaut worden, in dem Floyd sein Arsenal transportierte, und als würde das noch nicht genügen, hing an einem externen Greifarm die Blue Tiger, das zweite von Floyds P-51D Mustang-Rennflugzeugen.

»Ich sagte doch, dass ich alles überbieten kann. Ich bin der König der Lüfte«, meinte Floyd, der im Führerhaus des Zeppelins auf und ab ging, an dessen Steuerrad ein uniformierter Offizier stand.

Dort vorn befanden sich auch Veyron und Wimille und der Rest der Crew. Veyrons Bruder zeigte ein reges Interesse an der, wie er sich ausdrückte, primitiven Steuertechnik und den zahlreichen Instrumenten. Pausenlos machte er Verbesserungsvorschläge.

»Immerhin sind die Auftriebtanks nicht mit Wasserstoff, sondern Helium gefüllt und bei Weitem nicht so entzündlich. Dennoch: Auch ein Zeppelin ist kein Kriegsschiff und für direkte Angriffe ungeeignet«, ließ er Floyd wissen.

Der König Talassairs, der standesgemäß seine Wüstenuniform angelegt hatte – goldene Schärpe und die Brust voll sinnloser, klimpernder Orden – winkte ab. »Ach was! Wir setzen ja nur die ›Allianz der Verlorenen‹ ab, zusammen mit den Amazonen und Puff, dem Zauberdrachen«, erwiderte der König.

Toink, der neben seinem Herrscher saß, knurrte zustimmend. Der Zwerg; an dessen Stuhl seine Baker-Muskete lehnte, stopfte gerade seine Pistolen.

Die ›Allianz der Verlorenen‹, dachte Tom. Das war nicht länger ein provisorisches Luftschiff, sondern eine verschworene kleine Schar furchtloser und verrückter Krieger. Noch in Teyrnas Annoth hatte ihnen Veyron seinen Plan erläutert, von dem Brokaris und Morga gleich Feuer und Flamme waren. Tom musste die beiden nicht einmal bitten, genauso wenig wie Wimille. Es kam ihm fast so vor, als würde Veyrons Bruder ihn inzwischen fast schon … ja was? Verehren, das traf es wohl, und bei allem mitmachen, das Tom unternahm. Nagamoto und Danny wollten sich ebenfalls nach Kishon begeben. Für sie gab es auf der Konferenzinsel nichts mehr zu tun.

»Da die Schwarze Horde für alle Unbilden der letzten Zeit verantwortlich zeichnet, sollten sich die Simanui die Bande einmal genauer ansehen«, entschied Nagamoto.

Tom konnte Danny ansehen, wie erleichtert und glücklich er über den Beschluss seines Meisters war. »Wurde auch allerhöchste Zeit, Tatsyu!«

»Und ich bin auch dabei«, meldete sich Vanessa.

Das überraschte Tom, doch er wagte es nicht, ihre Entscheidung zu kommentieren. Zu seiner noch größeren Verblüffung schlossen sich ihnen Owain, Sarah, Jordi und Ellen an, die vier jungen Hordlinge. Als sie erfuhren, dass sich Morga, ein ehemaliger Hauptmann der Schrate, von der Horde abgewandt hatte, sahen auch sie keinen Grund mehr, länger an den Aussagen des Schwarzen Manifests festzuhalten. Zuguterletzt traten dann auch noch Toink, Jane und Floyd der ›Allianz der Verlorenen‹ bei, genau wie Veyron.

»So eine Unternehmung braucht ja auch Leute mit Verstand«, brachte der Zwerg als Argument vor.

Nachdem sich bereits alle Mann an Bord Los Angeles befanden, meldeten sich die Amazonen bei Floyd.

Weißes Mädchen, die junge und furchtlose Königin, bestand darauf, zusammen mit ihren Kriegerinnen nach Kishon gebracht zu werden. »Wenn Ihr der Jadekaiserin und dem Großkönig schon Eure Wundermaschinen für die Heimreise zur Verfügung stellt, so verlange ich, dass Ihr mich und meine Begleiterinnen zu einem Ort unserer Wahl bringt. Wir wollen nach Kishon, wo es vielleicht Ruhm zu ernten gibt, wenn schon sonst nichts auf der Welt existiert, das für uns Amazonen eine Herausforderung wäre.«

Dem Begehren der jungen Königin gab Floyd sofort statt. Für ein Dutzend Pferde sei durchaus noch Platz im Frachtraum der Los Angeles. Er bestand nur auf einer Sache: »Finger weg von Puff! Er ist sehr empfindlich. Und die Pferdeäpfel werden alle aufgesammelt.«

Nachdem nun alle für den Flug nach Kishon an Bord waren, wandte sich Veyron an die ungewöhnlichen Passagiere. »Ladys und Gentlemen, wir alle sind jetzt die ›Allianz der Verlorenen‹. Jeder von uns hat seine eigene Geschichte, die ihn zu einem Verlorenen macht. Einige wurden verstoßen und kämpften einsam für ihre Ziele, andere haben sich in der Tat verloren und gehören eigentlich ganz woandershin. Aber alle haben wir das gleiche Ziel: Wir stehen gegen die Schwarze Horde und die Barbarei, die sie verkörpert. Unser Ziel ist Kishon, eine belagerte und dem Untergang geweihte Stadt. Es wird zweifellos zum Kampf kommen, und es gibt keine Garantie für unsere Rettung. Wer also die Allianz lieber wieder verlassen will, der soll sich jetzt melden.«

Niemand hob die Hand, keiner sagte etwas.

»Dann übergebe ich das Kommando an Tom Packard«, sagte Veyron und setzte sich.

Tom schluckte kurz, als ihm die Bedeutung dieser Worte bewusst wurde. »Commander Eckener, setzen Sie Kurs auf Kishon. Starten Sie, sowie Sie bereit sind«, befahl er.

Mit einem »Aye, aye, Sir«, kam der Offizier der Talassair-Marine den Anweisungen nach. Die Motoren der Los Angeles liefen auf Hochtouren, und der Zeppelin verließ Teyrnas Annoth.

Den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch flogen sie, von Teyrnas Annoth über das Salzmeer und die Länder Hattis. An Bord unterhielten sich die einen angeregt, andere schwiegen oder meditierten. Floyds Dienstpersonal servierte köstliche Snacks und Getränke aller Art. Die Ruhe vor dem Sturm, dachte Tom. Was sie bei Kishon erwartete, wusste niemand genau, nicht einmal die Simanui …

Nun war sie hier, die gesamte Allianz der Verlorenen. Im Tiefflug hatte sich die Los Angeles der Gegend um Kishon angenähert, durch die Schwärze der Nacht vor vorzeitiger Entdeckung geschützt. Jetzt, im Schein der aufgehenden Sonne wusste gewiss jeder in ganz Chardonian Bescheid. Durch die Fenster konnte Tom das entfernte Lager der Schwarzen Horde sehen, eine Stadt aus schwarzen Zelten, Käfigen und Zäunen. Rauch stieg aus einem gemauerten Kamin auf, der am weitesten von der Stadt entfernten Bereich des Lagers stand. Eine dunkle Rauchfahne stieg von dort in den Himmel, doch einen Kraftwerksbau wie bei Seramak vermochte Tom nicht zu entdecken. Er vermutete stark, dass es sich um eine unterirdische Anlage handelte, von der ZTC errichtet.

»Noch ein künstlicher Durchgang«, raunte er.

Veyron bestätigte das. Nichts anderes habe er vermutet. Er deutete auf die Berge, die sich hinter dem Lager der Schwarzen Horde erhoben. »Massives Granitgestein. Spuren davon habe ich zwischen den Rüstungsteilen des Schwarzen Schlächters entdeckt. Nachdem ich letzte Nacht Landkarten und Bücher studierte, konnte ich den Ursprungsort des Schwarzen Schlächters auf diese Gegend eingrenzen. Die Schwarze Horde führt hier unterirdische Operationen durch. Seht ihr diese dunklen Hügel hinter dem Lager? Es sind keine natürlichen Formationen«, berichtete er an Tom und Wimille gewandt.

Sein Bruder warf einen kurzen Blick auf die Hügelreihe. »Der Aushub«, stimmte er zu. »Aber zu wenig, um damit ein Loch zu füllen, welches groß genug wäre, um ein ZTC-Kraftwerk darin zu platzieren.«

»Eine zutreffende Feststellung. Sobald man jedoch einen Torapparat installiert hat, kann man den Aushub auf gänzlich andere Weise entsorgen. Nämlich so, dass der Feind nichts mehr davon mitbekommt und Mutmaßungen anstellen kann, was die Horde vorhat.«

Wimille brauchte darüber nicht lange nachzudenken. »Sie schaffen es auf einen ZTC-Frachter, mutmaßlich die Zaltic Asp, und schütten das Gestein einfach in den Ozean.«

»Erneut zutreffend, Wim.«

»Auf diese Weise konnten sie einen Schacht vom Lager bis zur Stadt graben, und niemand hat es mitbekommen. Sie haben womöglich die ganze Stadt untertunnelt.«

»Unnötig. Das Stadtzentrum Kishons verfügt über ein Kanalisationsnetzwerk, das direkt unter den Straßen verläuft. Die Horde braucht nur bis dorthin zu graben.«

»Demnach befindet sich dort die Bombe.«

»Heute bist du sehr scharfsinnig, Wim.«

»Ich bin stets scharfsinnig, Vey.«

Tom sprang auf, als er den kurzen Wortwechsel der beiden Swifts mitbekam. »Was für eine Bombe?«, fragte er überrascht.

»Die, welche die Schwarzen Schlächter nach Kishon geschafft haben, beziehungsweise darunter. Ich entdeckte an den Fingerkuppen des toten Schlächters Spuren von Schweißarbeiten sowie Salpeter- und Schwefel-Rückstände, dazu noch eine Reihe weiterer Chemikalien. Die Schwarze Horde befindet sich im Besitz einer Bombe. Vermutlich wurden die Einzelteile von der Zaltianna Trading Company hierher geschickt, und die Schlächter haben die Bombe zusammengebaut. Zweifellos will der Achte sie einsetzen, um Kishon zum Einsturz zu bringen, zumindest weite Teile davon. Wenn die Stadt einstürzt, kann man sie durch den offen gelegten Untergrund erstürmen«, erklärte Veyron gelassen.

»Und jeden töten, der in der Stadt noch lebt. Das dürften nach der Explosion und vor allem nach dem Einsturz der Häuser nicht mehr allzu viele sein«, ergänzte Wimille nüchtern.

Für einen Moment hatte Tom den Verdacht, die Swift-Brüder versuchten sich in ihrer emotionslosen Art gegenseitig zu überbieten. Dadurch wirkten die Schilderungen des möglichen Geschehens umso schrecklicher, und vor seinem geistigen Auge baute sich ein wahres Horrorszenario auf. Tausende Menschen, die in die Tiefe stürzten, von den Trümmern ihrer eigenen Häuser erschlagen oder lebendig begraben. »Das müssen wir verhindern!«, entschied er und schlug die linke Faust entschlossen in die offene Rechte.

Veyron nickte zustimmend. »Genau das ist der Plan, Tom.«

Die Los Angeles drehte eine Runde über Kishon, ehe sie zur Landung vor den Toren der Stadt ansetzte. Durch die Fenster konnte Jane neben bewaffneten Kriegern auch zahllose Zivilisten auf die Mauern der Stadt kommen sehen. Sie schwenkten grüne, gelbe und rote Fahnen, die traditionellen Farben der Chardoni. Drei eiserne Gitter wurden hochgezogen, ehe die Torflügel der Stadt geöffnet werden konnten. Heraus strömten drei Männer zu Pferde und eine Schar bewaffneter Krieger mit dunkelroten Baskenmützen auf dem Kopf. Die Hosen ihrer grauen Uniform-Einteiler bauschten sich ballonartig, und unter ihrem breiten Halsausschnitt blitzten Kettenhemden auf weißen Tuniken hervor. Ineinander verschlungene Tücher in den Nationalfarben, die sie sich um den Hals geknotet hatten, flatterten munter im Wind. Jane hatte gehört, dass die Chardoni meisterhafte Bogenschützen waren, die seit Jahrhunderten in den Bergen jagten. Tatsächlich führten die Männer Krummsäbel, Lanzen oder Pfeil und Bogen mit.

 

Endlich setzte die Los Angeles mit der Hauptgondel auf dem Boden auf, vollkommen lautlos und kaum spürbar. Die Besatzung öffnete die Türen und klappte die Leitern aus. Nacheinander verließen die Mitglieder der Allianz und der König das Luftschiff, als Letzte gingen Veyron und Wimille.

Einer der vier Reiter galoppierte ihnen entgegen und warf ihnen mit der Hand einen Gruß zu. »Ich bin Ardaschir, Xatrapavan Chardonians und der Fürst von Kishon«, stellte er sich vor. Mit seinen grimmig dreinblickenden dunklen Augen und dem grauen Oberlippenbart machte er auf Jane den Eindruck eines alten Haudegens, der seine Haut teuer zu verkaufen wusste. Der Xatrapavan verbeugte sich vor Tom und den anderen jungen Leuten. »Ich grüße die ›Allianz der Verlorenen‹, die bei Seramak und Gentrash der Schwarzen Horde – mit Verlaub – in den Arsch getreten hat.«

Augenblicklich brachen Ardaschirs Krieger, junge Männer und Frauen, in lauten Jubel aus.

Toms trat vor, verlegene Röte auf den Wangen. »Wir sind hier, um zu helfen, Xatrapavan. Natürlich nur, wenn Ihr es gestattet«, erwiderte er und verbeugte sich vor dem Fürsten der Chardoni.

Der Mann begann zu grinsen. »Na, na. Lass das mal, mein junger Freund. Den Bückling musst du nur vor dem Großkönig machen. Wir alle hier sind Krieger und sozusagen unter uns. Hilfe ist immer willkommen. Man kann dieser Tage gar nicht genug davon bekommen. Die Ankunft eures Luftschiffs wurde schon angekündigt. Eine riesige Sache ist das. Und was für ein Titan der Lüfte! Ich habe die Größe dieses Dings total unterschätzt. Es hieß, es wäre über Kadingira verbrannt. War wohl übertrieben, was? Typisch für die Wein schlürfenden Hosenscheißer aus der grünen Ecke Neoperseuons«, bellte Ardaschir.

Seine Leute begannen lauthals zu lachen.

Jane fand den Trotz in ihren Gesichtern bewundernswert. Sie entdeckte bei den Menschen Kishons eingefallene Wangen, müde, leere Augen, Narben und entzündete Wunden. Mangelernährung, Dehydrierung und schlechte Hygiene – nichts davon vermochte den Widerstandswillen der Chardoni zu brechen. Selbst jetzt spotteten sie noch über Freund und Feind.

»Wer hat Euch unsere Ankunft gemeldet?«, fragte Veyron. Mit skeptischem Blick trat er vor den Anführer der Chardoni.

»Ich war das, Meister Swift«, erklang die Antwort aus den hinteren Reihen der Krieger. Sofort wurde der Urheberin der Stimme Platz gemacht.

Jane staunte nicht schlecht, als sie die junge Jadekaiserin erkannte, nun nicht mehr in majestätischer Aufmachung, sondern im Panzerhemd aus versilberten, rechteckigen Plättchen und mit langem Schwert an ihrem Waffengurt.

»Li Su«, rief Tom überrascht und grinste von einem Ohr zum anderen. »Solltest du dich nicht auf dem Weg nach Quin befinden?«

Die junge Kaiserin lächelte etwas verlegen. »Es war sehr freundlich, von König Floyd, mir seine Flugmaschine auszuleihen. Ich hatte Zeit, nachzudenken, und schließlich entschied ich mich, Kishon zu helfen. Captain Beall war so freundlich, den Kurs zu ändern, nachdem ich ihm mein Anliegen erklärte, und vorige Nacht erreichten wir Hangmatana. Wir machten auch die Anzac-Clipper startklar, die zuvor Großkönig Kurasch bei seiner Festung abgesetzt hatte, und gestern Mittag erreichten beide Maschinen die Grenzen Quins. Wir luden eine Armee meiner besten Truppen an Bord und flogen hierher. Die beiden Flugschiffe warten unten am Fluss«, erklärte sie und deutete nach Norden. »Zwanzig Kilometer von hier. Wir verbrachten die halbe Nacht damit, meine Leute durch die Reihen der Schwarzen Horde zu schmuggeln. Dank der geheimen Tunnel der Chardoni gelang uns das ohne Zwischenfälle.«

Jane blickte hinauf zu den Zinnen der angeschlagenen Stadtmauer. Alle Gesichter dort oben waren von relativ dunkler Hautfarbe, einige alt, andere junge, manche vernarbt, andere glatt und hübsch. Nirgendwo machte sie auch nur einen Krieger aus, den sie Li Sus Reich zuordnen konnte.

»Und wo sind deine Leute?«, fragte auch Tom sie verwirrt.

Li Su lächelte listig und deutete in die Stadt. »Folgt mir. Ich werde es euch zeigen.«

Als die Allianz der Verlorenen in die Stadt einzog, schlug ihnen statt Jubel wie in Kadingira nur verhaltene Hoffnung aus den müden und angespannten Gesichtern entgegen. Die anfängliche Neugier und Euphorie war verflogen, und nur da, wo Ardaschir seinen Leuten ein Zeichen gab, wurde gejubelt oder erhob sich Gesang. Jane merkte sofort, wie niedergeschlagen und erschöpft die Menschen dieser Stadt waren. Die rebellischen Chardoni, sie standen kurz vor dem Ende.

Ardaschirs Lächeln war verschwunden. »Früher, da war die Gegend um Kishon ein grünes Land, saftiges Gras und Strauchwerk. Dann kam die Schwarze Horde und brannte alles nieder, machte die Luft heiß und stickig, als wollten sie uns ausräuchern. Nach wenigen Tagen blieb nichts zurück als Wüste. Spreng- und Feuerbomben schleuderten sie mit ihren Katapulten auf uns, monatelang, Nacht für Nacht. Sie bombardieren uns immer nur nachts. Vielleicht, weil sie sich am Schein der Feuer erfreuen. Wer weiß das schon bei den Dreckskerlen der Schwarzen Horde. Kein einziges Haus blieb von der Zerstörung verschont. Wir hocken nur noch auf Ruinen, unter denen unsere Liebsten begraben liegen. Doch am Schlimmsten war es, als sie uns die Toten über die Mauern schleuderten, Tausende verstümmelter, halb verwester Körper. Nicht nur getötete Chardoni, auch die Leichen ihrer eigenen Krieger und die Kadaver verendeter Tiere. Krankheiten breiteten sich aus, Ratten und Fliegen feierten ein Fest. Früher hatte Kishon zehntausend Einwohner, jetzt sind es nur noch dreitausend. Sämtliche Leichen mussten wir verbrennen, um die Seuchen einzudämmen. Wer Anzeichen von Krankheit zeigte, wurde eingemauert. Die Horde zwang uns, an unserem eigenen Volk Grausamkeiten zu begehen, um die Gesunden zu retten. Viele Menschen flohen deshalb aus der Stadt. Doch wohin? In die Arme der Schwarzen Horde. Und tags darauf kamen sie alle wieder. Im hohen Bogen über die Mauern geflogen, erdrosselt, enthauptet oder bei lebendigem Leib verbrannt. Das, was ihr hier seht, ist von uns Verteidigern noch übrig, viele mit den Kräften am Ende«, erklärte der Xatrapavan. Jetzt schwangen Resignation und Verzweiflung in seiner Stimme mit. »Die Horde will uns gründlicher ausrotten als unser Erzfeind Hatti.«

Li Su führte die ›Allianz der Verlorenen‹ die Stadtmauer hinauf. Von den Zinnen hatte man einen hervorragenden Blick auf das Lager der Schwarzen Horde, hinter deren schwarzen Zelten eine Reihe titanenhafter Katapulte stand, die viele hundert Kilo schwere Ladungen über weite Distanzen schleudern konnten. Oben auf den Mauern hatten die Chardoni eine ganze Reihe hölzerner Kisten aufgestellt, an die vierhundert Stück, überschlug Jane. Jede maß etwa einen Meter auf einen Meter, perfekte Würfel. Jane fiel auf, dass sie den Boden gar nicht berührten, sondern wie von Magie gehoben einige Millimeter über dem Boden schwebten. Die Kisten trugen Schriftzeichen aus Quin; keine zwei dieselbe Beschriftung. Verwirrt wandte sich Jane an Veyron, in der Hoffnung er habe ein paar Antworten parat.

»Das ist eigentlich vollkommen unmöglich«, fasste allerdings Wimille Janes Gedanken zusammen. »Wie können diese Kisten schweben? Ich sehe weder Energiegeneratoren noch irgendeine Form von Magnetismus am Werk.«

»Uralte Drachenmagie, Mr. Swift«, sagte Nagamoto. »Die Drachenkaiser hatten früher stets solche Kisten in ihrem Reisetross dabei. Sie können mit vielen Tonnen Gewicht beladen werden, das sich durch den Schwebezauber relativiert. Reicht Ihnen das vorerst als Erklärung?«

Wimille verzog das Gesicht. »Natürlich nicht, Sir! Ich wünsche, eine dieser Kisten genau zu untersuchen, sobald das hier vorbei ist. Immer diese hanebüchenen Erklärungen von Zauberei und magischen Tricks! So kommt man doch nicht weiter«, beschwerte er sich.

Seine Haltung entlockte Jane ein amüsiertes Lächeln. Wer hätte gedacht, dass es noch einen pedantischeren Menschen gab als Veyron?

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