Hide and Seek

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Hide and Seek
Eine All Cocks Geschichte (Band 6)

von TM Smith

Aus dem Amerikanischen von Lilienne Érié

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2022

http://www.deadsoft.de

© the author

Titel der Originalausgabe: Hide and Seek

Übersetzung: Lilienne Érié

Cover: Irene Repp

http://www.daylinartwebnode.com

Bildrechte:

© Kiselev Andrey Valerevich – shutterstock.com

© Man Hurt – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-510-7

ISBN 978-3-96089-511-4 (epub)

Inhalt:

Die Wahrheit kommt ans Licht und das Vertrauen wird auf eine harte Probe gestellt. Wird die „All Cocks“-Familie das Glück finden, das sie verdient?

Dusty Anderson hat seine Heimatstadt Justin in Texas kurz nach der Highschool verlassen und ist nach New York gezogen, um Schauspieler zu werden. Ein Jahr später, immer noch weit entfernt davon, seinen Traum zu verwirklichen, aber verdammt kurz davor, daran zu zerbrechen, fällt ihm der Flyer einer Schwulenbar in die Hand, der zur Lösung seiner Probleme werden soll. Sechs Jahre später hat Dusty seinen Traum, Schauspieler zu werden, fast vergessen. Die Familie, zu der er gehört, seit er für All Cocks arbeitet, und die Arbeit selbst sind ihm genug. Für den Moment jedenfalls.

David Thompson ist gerade erst einundzwanzig geworden, steht in der Blüte seines Lebens und beginnt gerade sein zweites Jahr als Kunststudent an der NYU. Nun, da er alt genug ist, am Nachtleben teilzunehmen, findet er seine erste Liebe in einem Szeneclub in Village: The Monster Bar. Der jungen Liebe wird jedoch ein vorzeitiges Ende gesetzt, als sich David gegenüber seiner Mutter und seinem älteren Bruder outet, mit katastrophalem Ergebnis.

Ein tragisches Ereignis, verschuldet durch Davids Bruder, stellt das Leben aller völlig auf den Kopf und führt die beiden zusammen. Ist das Zufall oder Schicksal? Trotz der widrigen Umstände fühlt Dusty sich auf unerklärliche Weise zu David hingezogen, der plötzlich ganz allein auf der Welt ist. Schon bald wird Dusty bewusst, dass seine Großfamilie bei All Cocks und sein bester Freund Kory ihre Beziehung nicht gutheißen werden. Er befürchtet das Schlimmste und stürzt sich in ein gefährliches Versteckspiel, bei dem er alles riskiert, um David zu beschützen.

Doch das Versteckspiel kann nicht ewig weitergehen und David und Dusty sind nicht die Einzigen, die mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Die Dimir-Männer finden heraus, dass die eine Sache, nach der sie sich so lange gesehnt haben, nun in greifbarer Nähe ist, und Dustys Vater Dean kommt zu Besuch und bringt dabei seine eigenen Geheimnisse mit.

Widmung

Ich widme diese Geschichte allen Seelen da oben im Himmel, die zu früh von uns gegangen sind. Es ist erschütternd, wie viele junge Männer und Frauen diskriminiert, geschlagen und sogar getötet werden, nur weil sie sich als schwul, bisexuell, lesbisch oder transgender verstehen oder ihre eigene geschlechtliche Identität hinterfragen. Als ich am 12. Juni 2016 aufwachte und meinen Computer einschaltete, war ich am Boden zerstört. So viele haben in Orlando ihr Leben gelassen und es tat mir danach noch viele Wochen im Herzen weh. Dieses Buch ist für euch, für all die Lebenslichter, die, ohne irgendetwas zu hinterfragen, aus Hass und Ignoranz ausgelöscht worden sind. Gott hat euch zurück nach Hause geholt, aber ihr werdet für immer in unseren Herzen und Erinnerungen weiterleben.

Dunkelheit kann Dunkelheit nicht vertreiben, das kann nur Licht.

Hass kann Hass nicht vertreiben, das kann nur die Liebe.

- Martin Luther King, Jr .

Prolog

Dusty saß auf dem Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite von Jons Krankenbett und las die New York Times. Sie war schon einige Tage alt und hatte im Papierkorb unter dem Waschbecken gelegen, aber die Schlagzeile auf der Titelseite hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Dusty hatte gewartet, bis Kory und Jons Bruder Tristan zum Essen gegangen waren und ihn mit dem schlafenden Jon zurückgelassen hatten, bevor er die Zeitung aus dem Papierkorb gezogen und begonnen hatte, den Artikel zu lesen. Es war ein Bericht über einen Angriff auf The Monster Bar, bei dem drei Menschen gestorben und zahllose weitere verletzt worden waren. Einer von ihnen war Jon Brennan, Korys fester Freund und Detective beim NYPD.

Die Ereignisse dieser Nacht hatten beinahe jeden in Dustys Umfeld hart getroffen. Wenige Stunden nach der Schießerei hatte Kory zusammen mit Jons Familie im Wartebereich des Krankenhauses gesessen und nervös auf Nachricht über Jons gesundheitlichen Zustand gewartet. Er hatte die Operation überstanden und es ging ihm Tag für Tag besser. Dasselbe konnte man leider nicht von Gio behaupten, der als Barkeeper in The Monster Bar gearbeitet hatte und als Gabes Partner zum harten Kern der Familie von All Cocks gehört hatte. Man hatte ihn am darauffolgenden Tag beerdigt und Gabe war am Boden zerstört gewesen.

Ein Foto von Gio hatte Dustys Aufmerksamkeit auf die Zeitung gelenkt. Darüber prangte die Schlagzeile Drei Tote und Dutzende Verletzte bei einer Schießerei in einem bekannten Szeneviertel in Village, daneben war das Foto eines Polizisten mit blondem Haar und kalten blauen Augen, der ebenfalls sein Leben gelassen hatte, und das von Dale Thompson, dem Schützen. Der Artikel erzählte die Geschichte eines ohnehin schon psychisch labilen Mannes, der seinen kleinen Bruder fast zu Tode geprügelt hatte, als er erfahren hatte, dass er schwul war. Danach war er in die Bar zurückgekehrt, in der er seinen Bruder und dessen Freund auf frischer Tat ertappt hatte, und hatte das Feuer eröffnet. Der Artikel endete damit, dass die Ärzte zum aktuellen Zeitpunkt nicht sagen konnten, ob der Bruder, David Thompson, die schweren Verletzungen überleben würde.

Dusty zerknüllte die Zeitung. Es machte ihn rasend, dass es da draußen Menschen gab, die so grausam mit der eigenen Familie umsprangen. Verdammt, wahrscheinlich war der junge Mann inzwischen seinen lebensbedrohlichen Verletzungen erlegen und dieser Psycho Dale Thompson hatte nun vier statt drei Leben auf dem Gewissen. Was musste ihre Mutter durchmachen? Der eine Sohn tot, der andere von ihm krankenhausreif geschlagen. Dusty übersah beinahe das Kleingedruckte am Ende des Artikels: Lesen Sie weiter auf Seite 23. Seine zitternden Hände strichen die Zeitung glatt und er blätterte langsam durch die Seiten.

Kunststudent David Thompson kämpft im New York Presbyterian Hospital um sein Leben. Der 21-jährige wurde vergangene Woche bewusstlos zu Hause aufgefunden, wo er mit seiner Mutter, Diane Thompson, und seinem älteren Bruder, Dale Thompson, lebte. Die Polizei geht davon aus, dass David von seinem älteren Bruder zusammengeschlagen wurde …

Dusty knurrte und überflog die nächsten Absätze, die noch einmal zusammenfassten, was in der Bar vorgefallen war, und genauer auf die möglicherweise labile Psyche des älteren Thompson-Bruders einging. Die Mutter, Diane, war eine streng gläubige Christin und nicht nur entsetzt über die Taten ihres älteren Sohnes, sondern auch über die sexuellen Vorlieben des jüngeren. »Fick dick, Schlampe«, murmelte Dusty, während sein Blick über die letzten Zeilen auf der Seite wanderte.

Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Artikels liegt David Thompson noch immer mit einer langen Liste an Verletzungen im Krankenhaus. Darunter eine gebrochene Nase, ein gebrochenes Bein sowie ein gebrochenes Schlüsselbein. Er leidet unter einer so starken Hirnschwellung, sodass er in ein künstliches Koma versetzt werden musste, bis die Schwellung abklingt oder er seinen Verletzungen erliegt.

Dusty atmete tief ein, um sich zu beruhigen, knüllte die Zeitung zu einer kleinen Kugel zusammen und warf sie zurück in den Papierkorb. Er widerstand dem Drang, den Raum zu verlassen und die Stationsschwester zu fragen, in welchem Zimmer David Thompson lag. Er geriet kurz in Panik, als er darüber nachdachte, wie Kory reagieren würde. Nicht nur, wenn er erfuhr, dass der Bruder des Mannes, der seinen Freund beinahe umgebracht hatte, im selben Krankenhaus lag, sondern auch, dass Dusty diesen … Drang verspürte, herauszufinden, wie es dem jungen Mann ging. Andererseits hatte sich David Thompson nicht ausgesucht, als Dale Thompsons Bruder geboren zu werden. Man konnte ihn nicht dafür verantwortlich machen, was Jon, Gio und den anderen in der Bar zugestoßen war. Und Dusty sollte sich nicht dafür schämen, sich für sein Schicksal zu interessieren, auch wenn er ein Wildfremder war.

Das leise Klicken der Türklinke verriet Dusty, dass Kory und Tristan zurück waren, bevor ihre Schritte einige Sekunden später durch den stillen Raum hallten. Kory setzte sich sofort auf den Stuhl an Jons Bett und Tristan ließ sich auf den Liegestuhl in der Ecke fallen.

»Ruft mich an, wenn ihr irgendwas braucht«, flüsterte Dusty, um Jon nicht zu wecken. Dann verabschiedete er sich, verließ das Zimmer und zog die Tür leise hinter sich zu. Er war erschöpft, und da er morgen einen Dreh hatte, entschied er, keine weitere Zeit zu verschwenden. Er wandte sich nach links statt nach rechts und sein Fehler wurde ihm erst bewusst, als er bemerkte, dass er nicht bei den Aufzügen ankam. Er gab ein genervtes Brummen von sich und folgte dem Gang, bis er am Stationszimmer angelangte, allerdings von der anderen Seite. Dusty seufzte erleichtert. Wenigstens wusste er, wie er von hier aus zu den Aufzügen kam.

Er blieb wie angewurzelt stehen, als ihm ein Name auf einer der Türen, die zu den Krankenzimmern führten, ins Auge fiel … David Thompson. Nun ja, das beantwortete zumindest die Frage, ob der Bruder noch am Leben war. Dusty sah sich nach beiden Seiten um. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, also drückte er die Tür auf und trat in das Zimmer.

 

Die Geräte, die sich neben dem Bett aufreihten, erfüllten den Raum mit ihren Geräuschen, und die einzige Lichtquelle war das Fenster, dessen Vorhänge zurückgezogen waren. Ein schmächtiger Körper lag im Bett, über Kabel und Schläuche mit den Geräten daneben verbunden. Ein Bein war vom Knie bis zu den Zehen eingegipst und lag in einer Schlinge, die an einer Stange am Fußende des Bettes befestigt war. Ein Auge war mit einem Stück Gaze bedeckt, das mit einem Verband um seinen Kopf befestigt war. Es erinnerte Dusty unwillkürlich an einen Piraten. Der schmächtige Körper des jungen Mannes war mit Bandagen, Schnittwunden und Blutergüssen übersät. Der Anblick löste Übelkeit in Dusty aus, auch wenn er nicht genau sagen konnte, wieso. Er hätte gar nicht erst herkommen sollen. Dieser Junge war der Bruder des Mannes, der versucht hatte, den Partner seines besten Freundes zu töten.

Doch statt sich umzudrehen und wieder zu gehen, verspürte er den unwiderstehlichen Drang, den Stuhl in der Ecke ans Bett zu ziehen und über den jungen Mann zu wachen, der zerbrochen, verletzt und geschunden vor ihm lag. Und wehe dem, der es wagte, ihm auch nur ein Haar zu krümmen. Und das tat er dann auch.

Dusty wusste nicht, wie viel Zeit verging, während er an Davids Seite saß und beobachtete, wie sein Brustkorb sich bei jedem seiner Atemzüge kaum merklich hob und senkte. Plötzlich zog ein erschrockenes Keuchen hinter ihm seine Aufmerksamkeit auf sich und er wandte sich um, nur um dem Blick einer kleinen Krankenschwester zu begegnen, die ihn mit großen Augen anstarrte. Als sie sich von ihrem Schreck erholt hatte, ging sie zur anderen Seite des Bettes und prüfte alle Schläuche, Monitore und Geräte, ohne Dusty dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

Dann schließlich sprach sie ihn an. »Sind Sie ein Freund der Familie?«

Dusty schüttelte den Kopf. »Nein.« Als er sah, wie ein Anflug von Misstrauen über ihr hübsches Gesicht huschte, fügte er rasch hinzu: »Ich bin ein Freund von David.«

Sie entspannte sich und schenkte Dusty ein Lächeln. »Na Gott sei Dank. Ich dachte schon, der arme Junge habe niemanden auf der Welt, der sich für ihn interessiert.«

Ich interessiere mich für ihn. Auch wenn ich nicht weiß, wieso, dachte Dusty, behielt diesen Teil der Geschichte aber besser für sich.

Als er wieder allein im Raum war, stellte er fest, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, zu bleiben. Er würde David den Rückhalt geben, den er ganz offensichtlich nicht hatte, aber dringender als alles andere brauchte.

Kapitel 1

Dornröschen

Dusty lenkte seinen Pick-up in eine freie Parkbucht in der dritten Etage der Parkgarage. Er stellte den Motor ab, doch er stieg nicht aus. Seine Finger klammerten sich an das Lenkrad, während er vor sich hin starrte und nachdachte. Er war in letzter Zeit beinahe jeden Tag ins Krankenhaus gefahren. Da Jon inzwischen entlassen war, musste er sich keine Sorgen machen, Kory oder jemandem aus der Brennan-Familie über den Weg zu laufen. Dusty wusste nicht genau, wie er es irgendjemandem hätte erklären sollen, dass er den kleinen Bruder des Mannes besuchte, der Jon beinahe umgebracht hätte. Was immer ihn beim ersten Mal dazu gebracht hatte, in David Thompsons Zimmer zu gehen, er hätte nie gedacht, dass er eine Art Beschützerinstinkt für den Jungen entwickeln würde.

Da er lebensgefährliche Verletzungen davongetragen hatte, war David noch in der Nacht seiner Einlieferung in ein künstliches Koma versetzt worden und hatte anschließend einige Tage auf der Intensivstation gelegen. In der Zeit, seit Dusty das erste Mal in Davids Zimmer gegangen war, hatte er herausgefunden, dass viele von Davids Verletzungen schwer waren, doch das, was die Ärzte und Schwestern am meisten beunruhigte, war sein Schädel-Hirn-Trauma. Beinahe zwei Monate später konnte Dusty noch immer nicht begreifen, wie ein Mensch jemanden, den er eigentlich lieben sollte, auf diese grausame Art und Weise zurichten konnte. Dusty war ein Einzelkind und wusste nicht, wie es sich anfühlte, Geschwister zu haben, aber die vier Brennan-Brüder waren das beste Beispiel dafür, wie Geschwisterbande funktionierten: Manchmal wollten sich die drei jüngeren ihren großen Bruder Sal zwar am liebsten vom Hals schaffen, doch wenn es hart auf hart kam, waren sie immer füreinander da.

»Reiß dich zusammen, Dusty«, murmelte er zu sich selbst, ehe er endlich die Schlüssel abzog und die Tür aufstieß.

Als er das Krankenhaus betrat, begrüßte er einige der Schwestern mit einem Lächeln und einem kurzen Nicken. Das Krankenhauspersonal hatte sich ihm gegenüber kulant gezeigt und ihm erlaubt, David weiterhin zu besuchen. Es tat Dusty in der Seele weh, dass sich außer ihm keine Menschenseele um David zu kümmern schien. Einmal hatte er die Schwestern im Stationszimmer belauscht, während er sich einen Kaffee geholt hatte. Scheinbar hatten sie versucht, Davids Mutter anzurufen, doch sie wollte ihren Sohn nicht sehen. Sie hatte sogar behauptet, sie hätte gar keinen Sohn, und dann einfach aufgelegt.

Dusty war so in Gedanken versunken, dass er beinahe mit der Schwester zusammenstieß, die aus Davids Zimmer kam. Er trat einen Schritt zur Seite und entschuldigte sich. »Sorry, Sheila.«

Sie lächelte Dusty an. »Hallo, Dusty. Alles gut bei Ihnen?«

»Kann mich nicht beklagen. Wie geht’s unserem Jungen?«, fragte er und nickte in Richtung von Davids Zimmer.

Ihr Lächeln wankte. »Seine Werte sind gut, aber er ist immer noch nicht aufgewacht.« Sheila warf einen kurzen Blick über die Schulter, und als sie sich wieder zu Dusty umdrehte, war das strahlende Lächeln auf ihre Lippen zurückgekehrt. »Aber er wird aufwachen. Wir müssen ihm nur etwas Zeit geben.«

Dusty nickte beinahe automatisch und versprach Sheila, beim Stationszimmer vorbeizuschauen und ihr Bescheid zu geben, wenn er sich auf den Heimweg machte.

In Davids Zimmer setzte er sich wie üblich auf den Stuhl neben dem Bett. Auch wenn er immer noch nicht aufgewacht war, machte der attraktive, weißblonde Mann einen deutlich besseren Eindruck als zu dem Zeitpunkt, als Dusty ihn das erste Mal gesehen hatte. Alle Verbände über seinem Gesicht und um seinen Kopf waren verschwunden. Der Großteil seiner Schnittwunden und Blutergüsse war verheilt, abgesehen von wenigen Narben und dem dunklen Schatten um sein linkes Auge, die ihn wahrscheinlich für immer daran erinnern würden, was er hatte durchmachen müssen.

Viele verschiedene Ärzte waren in den vergangenen Tagen und Wochen in Davids Zimmer ein- und ausgegangen. Der Chirurg, der Davids Bein operiert, die Brüche begradigt und das Bein eingegipst hatte, war der Meinung, dass David keine bleibenden Schäden zurückbehalten würde, wenn der Gips erst einmal ab war und er die Physiotherapie hinter sich gebracht hatte. So wie es aussah, hatte jeder Teil seines Körpers, der verletzt oder gebrochen war, einen eigenen Arzt. Einschließlich des Augenarztes, der Sheila gegenüber erwähnt hatte, er wäre sich sicher, dass David auf der linken Seite sein Augenlicht verloren hatte. Die Ärzte sprachen selten mit Dusty über die Verletzungen, doch er hatte inzwischen einige Übung darin, die Gespräche der Schwestern zu belauschen. Allerdings gab es für nichts eine Garantie, bis David aus dem Koma erwacht war und die weitreichenderen Verletzungen untersucht werden konnten. Das war der einzige Punkt, in dem sich alle einig waren.

Dusty rückte den Stuhl näher an das Bett heran, griff nach Davids Hand und drückte sie sanft. Hin und wieder würde David die Geste erwidern. Auch hier gab es keine Garantie, doch die Schwestern hatten einen zuversichtlichen Eindruck gemacht, als sie gesagt hatten, David könnte ihn hören, wenn er mit ihm sprach. Sie hatten Dusty dazu ermuntert, seine endlosen Monologe mit dem bewusstlosen David fortzusetzen, die vom Wetter über Sport und alles dazwischen reichten, einschließlich Jon und Kory, die sich gerade an ihre gemeinsame Wohnung gewöhnten.

Während er Davids Hand hielt, strich Dusty ihm eine Strähne seines blonden Haars aus dem Gesicht und lächelte. »Du musst dringend zum Friseur, wenn du aufwachst, D.« Er lachte leise in sich hinein. »Und wahrscheinlich auch eine Rasur.« Dieselben weißblonden Haare bedeckten auch Davids Wangen, Kinn und Hals, die allerdings einen leichten Farbstich hatten, der sie rotblond erscheinen ließ. »William ist jetzt komplett eingezogen, aber erst seit ein paar Wochen. Er hängt immer noch viel bei Vic rum. Seit letzter Woche haben wir am anderen Ende des Flurs einen neuen Nachbarn. Mann, der ist vielleicht heiß, D.« Dusty legte seinen Kopf schräg und beobachtete Davids Hand in seiner, während er gedankenverloren mit dem Daumen über Davids Finger strich. Er hoffte, betete, heute wäre der Tag, an dem er sich aufsetzen und ihm antworten würde.

Er fragte sich nicht zum ersten Mal, was passieren würde, wenn das Krankenhauspersonal herausfand, dass er überhaupt kein Freund von David war. Sicher, Dusty hatte die letzten zwei Monate damit verbracht, an Davids Bett zu sitzen und mit ihm zu reden, aber im Grunde genommen hatte er ihn nie kennengelernt. Dusty hatte sich ausgemalt, wie David sein würde, wenn er aufwachte. Welche Farbe würden seine Augen haben? Dusty stellte sich ein klares Blau vor, wie der Ozean nach einem Sturm. War seine Stimme dunkel und rau, angenehm melodisch oder eher hoch?

Melodisch, entschied Dusty.

Mit einem Seufzen lehnte sich Dusty auf dem Stuhl zurück und gähnte. Er war völlig am Ende. Der Dreh mit Ricardo gestern hatte sich bis spät in die Nacht gezogen und er war erst gegen drei Uhr nachts zu Hause gewesen. Danach war er um acht Uhr aufgestanden, hatte ein Work-out mit seinem Trainer hinter sich gebracht, im Fitnessstudio geduscht und war dann direkt ins Krankenhaus gefahren.

»Nur mal kurz die Augen zumachen«, murmelte er, lehnte seinen Kopf zurück und streckte die Beine aus.

Der Assistenzarzt, der kam, um Davids Infusionsbeutel auszutauschen, weckte Dusty etwa eine Stunde später und fragte, ob er etwas aus der Cafeteria im Erdgeschoss haben wollte.

»Nein, aber danke. Ich sollte langsam los.« Er stand auf, beugte sich, ohne nachzudenken, über David und küsste ihn auf die Stirn. Erst dann wurde ihm bewusst, was er gerade getan hatte. Es war nur eine einfache Geste, die seine Zuneigung ausdrückte, ein freundschaftlicher Kuss. Es fühlte sich natürlich und richtig an, also entschied er sich, die Sache nicht überzuinterpretieren. »Wir sehen uns morgen, D«, flüsterte er. Dusty griff nach der TV-Fernbedienung, die gleichzeitig auch als Notfallknopf diente, und legte sie neben Davids Hand, wie er es immer tat. Dann verließ er das Zimmer.

Er schlurfte zum Aufzug und drückte den Knopf, als ihm einfiel, dass er Sheila versprochen hatte, ihr Bescheid zu geben, wenn er sich auf den Heimweg machte. Also drehte er sich um und ging noch einmal zurück zum Stationszimmer am anderen Ende des Korridors. Er sah Sheila geradewegs auf sich zukommen, also blieb er stehen und wartete auf sie, bevor er sagte: »Ich werd dann mal gehen.«

»Dafür hätten Sie nicht extra den Notfallknopf drücken müssen, Dusty. Vor allem, wenn Sie dann trotzdem durch die ganze Station laufen, um es mir zu sagen«, tadelte sie ihn, die Hände in die Hüften gestemmt.

Dusty erstarrte und seine Augen weiteten sich. »Ich … Ich habe den Notfallknopf nicht gedrückt, Sheila.«

Sie wirbelten herum und rannten den Flur entlang zurück zu Davids Zimmer. Auf den ersten Blick schien alles ruhig. Dann zog ein schwaches »Hallo« Dusty weiter in den Raum hinein.

Sheila ging zur anderen Seite des Bettes und lächelte auf David herab. »Oh, hallo, Dornröschen.« Sie winkte Dusty zu sich.

Ganz langsam trat er an das Bett heran. Er grinste und griff nach Davids Hand, doch David schreckte vor ihm zurück. Seine Augen weiteten sich, als er zu ihm aufsah. Dusty hob entwaffnend die Hände und senkte die Stimme in der Hoffnung, David dadurch zu beruhigen. »Hey, alles ist gut, D. Du bist hier in Sicherheit. Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendjemand etwas antut. Versprochen.«

Sobald er Dustys Stimme hörte, schien sich David zu beruhigen. Er streckte eine zittrige Hand nach ihm aus. »Ich weiß, wer du bist. Du bist der Engel aus meinen Träumen. Ich erinnere mich an deine Stimme.« Die Worte klangen, als hätte David mit Glasscherben gegurgelt und seine Zähne danach mit Schmirgelpapier geputzt. Aber es war ganz eindeutig ein melodischer Ton in seiner Stimme zu erkennen, genau wie Dusty es sich vorgestellt hatte.

 

Er lachte und griff behutsam nach Davids ausgestreckter Hand, um sie zu schütteln. Mit den Füßen zog er den Stuhl näher zu sich heran, sodass er sich setzen konnte, ohne Davids Hand dabei loslassen zu müssen. Zu seinem Unmut musste er sich dann aber doch zumindest so lange zurückziehen, bis die Schwester Davids Vitalfunktionen überprüft hatte, aber er blieb ganz in der Nähe.

Sheila zog gerade die Manschette des Blutdruckmessgeräts von Davids Handgelenk, als einer von Davids vielen Ärzten in den Raum kam und ihn anlächelte. »Schön, dass Sie endlich zu uns stoßen, Mister Thompson«, scherzte er, bevor er zu seiner Untersuchung überging und David fragte, was das Letzte war, woran er sich erinnerte, während seine Hände Davids zahlreiche Verletzungen abtasteten.

»Es ist alles noch ein bisschen unscharf«, sagte er und zuckte zusammen, als der Doktor Druck auf seinen Bauch ausübte. »Ich erinnere mich daran, dass mein Bruder wegen irgendetwas wütend war. Alles danach ist verschwommen. Wieso? Hatte ich einen Autounfall oder so? Habe ich deshalb diesen Gips?«, fragte er und der Herzfrequenzmonitor neben dem Bett schlug immer heftiger aus. Dusty zuckte zusammen, als David seine linke Hand hob und vor seinen Augen hin und her bewegte. »Ich … Ich kann auf dem linken Auge nichts sehen und es fühlt sich seltsam an.«

»Ich sag Ihnen was, David. Lassen Sie mich noch ein paar Labortests und CTs machen und dann reden wir weiter. Okay?«, fragte der Doktor.

David nickte einmal und wandte dann den Kopf zur Seite, um noch einmal nach Dustys Blick zu suchen.

Der Doktor sagte Sheila, was zu tun war, während er etwas in Davids Akte schrieb. Dann verließen beide das Zimmer.

David starrte Dusty an. In seinem Gesicht spiegelte sich Misstrauen. »Wieso habe ich das Gefühl, dass ihr mir alle etwas verheimlicht?«

Dusty schüttelte den Kopf und schenkte David ein ergebenes Lächeln. Verdammt, der Junge war ein ziemlich helles Köpfchen. »Es geht nicht ums Verheimlichen, D, nur ums Warten. Du hast ziemlich lange im Koma gelegen. Es wäre zu viel für dich, wenn wir dir alles auf einmal erzählen. Kannst du dich noch ein bisschen gedulden? Ich werde es dir irgendwann sagen, versprochen.«

David schnaubte. »Du klingst schon wie Dale. Wo ist er überhaupt?«

Oh verdammt. Er kann sich wirklich an nichts erinnern.

Zu Dustys Glück kam Sheila in diesem Augenblick zurück und es gelang ihr, David erfolgreich abzulenken. Dusty sprach sie auf seine Sorgen bezüglich Davids Gedächtnisverlust an, doch sie versicherte ihm, dass es nicht unüblich war, sich nach einem Schädel-Hirn-Trauma an nichts zu erinnern. »Deshalb hat der Doktor die CT angefordert. Machen Sie sich nicht so viele Gedanken. Wir warten einfach auf die Ergebnisse, okay?«

Dusty nickte, doch er war nicht so recht überzeugt.

Die vielen Tage und Wochen, die er an Davids Bett verbracht und gehofft und gebetet hatte, er würde aufwachen, waren nichts gegen das, was Dusty in den zwei Stunden durchmachen musste, in denen er auf die CT-Bilder wartete. David war völlig erschöpft, als er zurück in sein Zimmer kam. Sobald er sich vergewissert hatte, dass Dusty immer noch da war, fiel er sofort ins Bett und schlief, bis der Doktor kam, um mit ihm über die Ergebnisse zu sprechen.

»Sie haben ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten, Mister Thompson. Auf den Bildern ist zu erkennen, dass einige Regionen immer noch geschwollen sind, das erklärt die Beeinträchtigung Ihres Erinnerungsvermögens. Die kognitiven Funktionen Ihres Gehirns sind allerdings sehr gut, also gehe ich davon aus, dass Sie keine bleibenden Schäden davontragen werden. Sobald die Schwellung weiter abnimmt, werden Sie den Großteil Ihrer Erinnerungen zurückerlangen. Vielleicht sogar alle«, gab der Doktor bekannt.

»Was denken Sie, wie lange ich noch hierbleiben muss?«, wollte David wissen.

Der ältere Herr im weißen Kittel gluckste, lehnte sich vor und klopfte behutsam auf Davids Bein. »Also wenn Sie weiter solche Fortschritte machen, denke ich, noch eine Woche, höchstens zwei. Ich ordne eine weitere CT für übermorgen an, sodass wir die Schwellung weiter beobachten können. Danach können wir über Ihre Entlassung sprechen. Wie klingt das?«

Dusty war froh, dass der Doktor so direkt war und nicht versuchte, irgendetwas schönzureden.

Als David nicht sofort antwortete, sprang Dusty für ihn ein. »Klingt gut, Doc.«

»Vergessen Sie nicht, den Papierkram zu erledigen, Mister Thompson, damit wir Ihren Freund hier auch weiterhin über Ihren Gesundheitszustand informieren dürfen«, sagte der Doktor, bevor er etwas in Davids Patientenakte schrieb und sie der Schwester reichte. Dann verabschiedete er sich mit einem weiteren Lächeln.

David nickte mit einem Gähnen und reckte sich.

Dusty lachte. »Wieso versuchst du nicht, ein bisschen zu schlafen?«

»Nur, wenn du mir versprichst, dass du immer noch hier sein wirst, wenn ich aufwache.«

Dusty nickte, und als sich ihre Blicke trafen, prüfte er unbewusst die Farbe seiner Augen. Sie waren blau, genau, wie er es sich vorgestellt hatte. Im Moment waren sie blutunterlaufen, aber Dusty war sich sicher, sobald das Rot verschwunden war, würden sie kristallklar sein wie ein Wasserfall in einem tropischen Inselparadies.

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