Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 3 – Showdown in Kroatien

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Leipzig
17. August

»Du hast es aber versprochen!« Fedor protestierte vehement, fuchtelte mit den Armen herum und klang, als wollte er jeden Moment zu heulen beginnen. »Und jetzt hältst du dein Versprechen nicht!«

Vorsichtig fing Sorokin eine der fuchtelnden Hände ein und hielt sie mit beiden Händen fest. »He, Großer. Ich weiß, dass ich dir versprochen habe, dass du ein paar Tage bei Stefan übernachten darfst. Aber manchmal läuft es im Leben eben anders als gedacht. Die Reise wäre verdammt teuer, wenn wir sie selbst bezahlen müssten.«

»Das ist mir aber scheißegal!«

Sorokin schnappte sich Fedors linkes Ohr. »Fedor! Nicht in diesem Ton, hörst du! Die Ferienanlage Borik ist eine der schönsten in ganz Kroatien.«

»Na und? Ich wollte bei Stefan nicht nur schlafen, wir haben alles wochenlang geplant. Wir wollten …«

Sorokin resignierte. »Es tut mir leid. Was willst du noch hören?«

»Es tut dir nicht wirklich leid«, widersprach der Junge, entriss dem Vater seine Hand, streckte die Arme ein wenig aus und lief los. Dabei trat er auf ein Spielzeugauto, das unter seinem linken Fuß zerbarst.

Im gleichen Moment setzte Antons Sirene ein: »Auto! Du chrast Auto puttmacht!« Der Kleine heulte unablässig.

»Dann lass deine Autos nicht einfach rumstehen!«, brüllte Fedor zurück. »Dämlack!«

Anton kreischte nun noch lauter. »Auto ist nicht rumstanden, Auto ist fahren!« Er rannte zu Sorokin, umklammerte dessen rechtes Bein und wischte die Nase daran ab.

»Fedor!«, dröhnte Sorokins Bass, der selbst Anton für Sekunden schweigen ließ. »Entschuldige dich augenblicklich bei deinem kleinen Bruder! Jetzt und sofort!«

»Vergiss es! Du hast dich auch nicht richtig bei mir entschuldigt!« Fedors Zimmertür krachte zu.

Vorsichtig setzte Sorokin einen Fuß vor den anderen, was nicht einfach war, denn Anton hing noch immer kreischend an seinem rechten Bein. »Fedor, ich …!«

Genau in diesem Moment tauchte Jekaterina auf. »Das sind die besten Voraussetzungen für einen harmonischen Urlaub zu fünft.« Ihr gutmütiges Lächeln bedeutete Sorokin, dass er sich um Antons Auto-Problem kümmern sollte, während sie durch die Kinderzimmertür in Fedors Reich schlüpfte und die Tür von innen zudrückte.

Der blinde Junge lag auf dem Bett, das Gesicht zwischen den Armen vergraben, und er schluchzte herzerweichend.

Nun setzte sich Jekaterina auf den Bettrand und begann, sanft den Hals des Fünfzehnjährigen zu kraulen. »Zuckernäschen, denkst du, mit uns zusammen am Meer, das wird dir nicht gefallen?«

»Doch, aber …«

»Aber was? Hast du etwa Angst, dass dir Stefan die Freundschaft kündigt?«

Fedor drehte sich zwar um, schwieg jedoch.

»Ich rufe bei Stefans Mutti an und kläre das. Okay?«

»Wir haben schon Zeug gekauft.«

Wahrscheinlich Software und Elektronikbauteile. Jekaterina lächelte, denn Fedor saß nun dicht neben ihr und kuschelte sich an die Stiefmutter heran. Er hielt ihre rechte Hand fest und fuhr unablässig mit den Fingerkuppen über den Handrücken. »Zeug?«, fragte sie.

»Software und Elektronikbauteile. Wir wollen an unserem neuen Computer bauen.«

»An deinem neuen Computer«, verbesserte Jekaterina Sorokin. »Das Zeug wird dir nicht weglaufen.«

»Aber nach dem Urlaub sind die Ferien vorbei.«

»Es gibt immer Zeit und Möglichkeiten. Glaub das mir.«

»Glaub mir das«, verbesserte Fedor.

Die Mutter fuhr über den Hinterkopf durch Fedors Haare. »Du kleiner Besserwisser!«

»Trotzdem ist es gemein von Papa.«

»Von Papa?« Jekaterina sprach flüsternd und mit einer geheimnisvollen Stimme. »Glaubst du Dummkopf tatsächlich, dein Papa hätte sich für unseren Urlaub entschieden? So ganz plötzlich?«

Fedors Fingerspitzen berührten das Gesicht der Frau, als wollte er an ihrer Mimik erkennen, was sie gerade dachte. »Wie meinst du das?«, hauchte er.

Jekaterina Sorokin spürte Fedors Fingerkuppen auf den Lippen, während sie ebenso leise antwortete: »Ich will doch wetten, dass dein Papa einen Auftrag in Kroatien hat. Er kann mich nicht gut anlügen. Genauso wenig, wie du mich gut anlügen kannst.«

Gedanken surrten durch Fedors Kopf. Noch immer fuhren seine Fingerkuppen über das Gesicht der Mutter, die sich an diese Form von Fedors »Sehen« längst gewöhnt hatte. »Du meinst, Papa hat einen Geheimauftrag in unserem angeblichen Urlaub?«

»Hast du etwa nicht seinen neuen Aktenkoffer bemerkt?«, flüsterte Jekaterina.

»Doch. Ich habe den Koffer gerochen.« Nun ließ Fedor die Hände sinken.

»Den hatte dein Papa heute Morgen jedenfalls noch nicht, als er nach Dresden gefahren ist.« Sie beugte sich zu Fedors rechtem Ohr und hauchte: »Und er lässt auch niemanden an diesen Koffer ran. Er ist mit einem Zahlenschloss … Wie sagt man zu ›zablokirovannyy‹?«

»Verschlossen oder verriegelt«, antwortete Fedor sogleich. »Mama! Hast du es etwa ausprobiert?«

»Aber natürlich habe ich das. Jedenfalls wird dein Papa gute Gründe haben, uns nichts davon zu erzählen.«

Sekundenlang schwieg der Junge. Dann nahm er flink und geschickt das Handy aus der Halterung.

»Was hast du vor?«, fragte die Mutter. Sie lächelte, denn sie kannte Fedors Antwort bereits.

»Ich muss Stefan anrufen.«

»Und dann entschuldigst du dich bei Anton. Okay?«

»Okay.« Fedor legte das Handy rasch zurück und erhob sich. »Das mach ich zuerst.«

Jekaterina hielt den Jungen, der bereits das Zimmer verlassen wollte, noch zurück. »Ich habe eine Frage, Fedor. Was ist ein Dämlack?«

»Ein Dämlack?« Nun kicherte Fedor. »Das ist so was wie im Russischen ein Glupets. Eben ein Dussel oder ein Trottel.«

»Antoschka ist doch aber noch so klein.«

Fedor spürte die Traurigkeit im Gesicht der Mutter, die er über alles mochte. »Es tut mir ja auch leid.« Er umarmte und drückte sie. »Wirklich.«

*

Hans Rattner blickte ungläubig drein. »Wie? Was? Urlaub? Du?«

Ohne zu zögern, antwortete der ungleich jüngere und größere Sorokin: »Ja, Hans. Gewissermaßen ein verordneter Urlaub. Eine Auszeichnungsreise.«

Die Blicke des Hauptkommissars der Leipziger Mordkommission, einem humanoiden Oldtimer der Polizei, wanderten zunächst zu seinem Kaffee schlürfenden Kollegen Kriminalobermeister Paul Meisner und dann zurück zu Sorokin. »Deine Gewerkschaft will ich auch mal haben.« Er schüttelte den Kopf. »Meine letzte Auszeichnung habe ich als siebzehnjähriger Stift in Empfang genommen. Fünf Tage Ukraine, delegiert von der Berufsfachschule, gereist im FDJ-Hemd und im Domizil als Nazi beschimpft. Und heute wollen sie zur EU gehören.« Meisner grinste, worauf Rattner ihn in ruhigem Ton belehrte: »Da musst du nicht drüber lachen, Paul. Die Kiewer hatten einfach noch nicht kapiert, dass die DDR ihre sozialistische Schwester war.« Er setzte sich. »Wohin geht’s denn?«

»Kroatien«, antwortete Sorokin, wie aus der Pistole geschossen. »Ich wollte nur Auf Wiedersehen sagen. Und schau bitte mal nach dem Haus. Und falls was mit mir passiert, dann …« Sorokin stockte.

»Mit dir?« Der alte Rattner lachte auf. »Erwartest du einen Atomkrieg? Ich wüsste nicht, was dich sonst aus den Schuhen hebeln sollte. Mit dir was passieren? Jetzt verarschst du mich aber.« Nach vier Sekunden setzte er hinzu: »Oder?«

»Man kann nie wissen, was solch eine Reise mit sich bringt.« Es klang wieder selbstsicher, was Sorokin zuletzt gesagt hatte.

»Mensch, mal den Teufel nicht an die Wand! Das wird bestimmt ein prima Urlaub. So lange warst du noch nie an einem Stück mit deiner ganzen Familie zusammen, Tolik. Genieß es einfach und vergiss deinen Job für ein paar Tage.«

»Weißt du, Hans …« Sorokin schaute Rattner von oben herab in die Augen. »Ich wollte noch … Was sehr Privates … Mit dir …«

Meisner trank den restlichen Kaffee aus seiner Tasse, erhob sich ruckartig und raunte: »Hab schon verstanden. Ich bin in der Waffenkammer, Hans.« Kurz darauf hatte der Obermeister den Raum verlassen.

Sorokin setzte sich auf dessen Stuhl, der für ihn viel zu niedrig eingestellt war.

Rattner schwieg und wartete. Er wusste nur zu gut, dass Anatolij Sorokin eine tonnenschwere Sache belastete. Sonst hätte das Gespräch niemals in eine solch intime Richtung geführt. »Was ist los, Tolik? Stimmt irgendwas nicht?«

Sorokin flüsterte. »Der ganze Urlaub ist ein Fake.«

»So, so«, hauchte Rattner. »Ein Fake. Und was ist ein Fake?«

»Ein Schwindel. Ich will, dass wenigstens du es weißt. Nur für deine Ohren: Ich wurde kommandiert. Jemand plant vielleicht in Sachsen einen verheerenden Anschlag. Und ich soll rausbekommen, ob was dahintersteckt.«

Es dauerte eine geraume Weile, bis der alte Kommissar die Ansprache verdaut hatte. »Du also. Und da können die dich nicht allein hinschicken?«

»Mir gefällt das auch nicht. Doch sie sagen, ich wäre dadurch unauffälliger, ein unbedeutender Pauschaltourist, verstehst du?«

»Wer sind ›sie‹?«

»Das darf ich dir nicht sagen.« Sorokin zog einen einzelnen Schlüssel aus seiner Hosentasche. »Nimm ihn an dich. Damit kommst du in mein Haus. Geh einfach durch die Garage. Okay?«

»Kannst du nicht wenigstens eine Andeutung machen?«

Sorokin bewegte den Kopf einmal hin und her.

Der Kommissar schnaufte. »Glücklich macht mich das nicht, Tolik. Du kennst die nicht zu bändigende Neugier deines Großen. Lieber wäre es mir, ihr würdet gemeinsam den Urlaub genießen. Das Leben zieht dermaßen schnell an einem vorüber. Gerade war mein Hund noch ein niedlicher Welpe, schon muss ich ihn begraben. Verstehst du?«

»Dein Hund ist tot?«, fragte Sorokin erstaunt.

 

»Du russischer Dummkopf! Ich hab doch gar keinen Hund. Ich meine das nur so. Die Zeit vergeht wie im Flug. Jetzt sind deine Kinder noch klein und niedlich. Und schon bald musst du entscheiden, was du ihnen zur Hochzeit schenkst. Ich werde dich dran erinnern, wenn du mich fragst, was du ihnen schenken sollst.«

Sorokin dachte angestrengt nach. »Wenn ich den Auftrag nicht hätte, wären wir doch gar nicht in den Urlaub geflogen.«

»Du verstehst mich schon.« Rattner stand auf und klopfte Sorokin auf die rechte Schulter. »Pass gut auf. Auf dich, auf Kati und auf die Kinder. Okay?«

»Versprochen.«

»Falls ich dir helfen kann, ruf mich an. Okay?« Rattner wartete ein paar Sekunden auf die Antwort.

»Okay. Versprochen.«

Der Kriminalkommissar runzelte die Stirn. »Hast du dein Auto wieder irgendwem zum Testfahren gegeben?« Er spielte auf die unschöne Sache an, als er Sorokins Auto während dessen Abwesenheit im Straßenverkehr sah und deshalb jagen und beschlagnahmen ließ.

»Nein. Habe ich nicht. Außerdem stelle ich den Kombi am Flughafen ab. Also wundere dich nicht, wenn die Garage leer ist.« Sorokin erhob sich und überragte Rattner um einen Kopf. Dann drückte er den alten Kommissar an sich, täuschte zwei Wangenküsse vor und verabschiedete sich. »Pass du auch gut auf dich auf, Hans. Drück deine Frau von mir.«

»Mach’s gut, Tolik. Und grüß Kati und deine Plagegeister von mir.«

»Ich muss los. Kati wird schon mit Anton auf mich warten.«

Das moderne Telefon auf Rattners Schreibtisch klingelte aufdringlich. Sorokin verließ mit einem letzten Gruß das Büro.

»Hauptkommissar Rattner«, meldete sich der Kriminalist und lauschte. »Ja, wir kommen. Bringen Sie nichts durcheinander und fassen Sie nichts an. Das darf nur die Spurensicherung. Verstanden?« Er knallte den Hörer hin, ging zur Tür und brüllte auf den Flur hinaus: »Paul? Wo steckst du schon wieder? Wir haben zu tun!«

*

Fedor saß am großen Esstisch im Wohnzimmer. Jekaterina Sorokin war mit Anton wichtige Dinge einkaufen, von deren dringlicher Notwendigkeit sie bis vor wenigen Stunden nichts geahnt hatte. Sonnenmilch, Schwimmflügel, Medikamente … Auch der Vater hatte noch unaufschiebbare Sachen zu erledigen und deswegen die Mutter samt Anton am Einkaufszentrum abgesetzt. Deshalb waren Fedor und Natascha ganz allein zu Haus.

Der blinde Junge streckte die Arme aus und fast unauffällig berührten die Finger beider Hände den Aktenkoffer, der noch unheimlich neu roch. Allmählich näherten sich die Fingerkuppen dem linken Zahlenschloss. Es war auf 7 8 4 3 eingestellt, Fedors Fingerkuppen konnten die eingravierten Ziffern lesen. Mit einem Fingernagel versuchte Fedor den Riegel zu öffnen, doch der bewegte sich nicht. Also begann er, das erste Rädchen zu bewegen, stellte es rückwärts von der 7 bis zur 1.

»Was machst du denn da?«, fragte die altkluge Stimme der kleinen Natascha in unmittelbarer Nähe.

»Nichts«, antwortete Fedor. »Was ist, willst du fernsehen?«

»Geht nicht.«

»Du meinst wegen der Kindersicherung?« Fedor grinste. »Das ist ein Klacks. Warte, ich mach dir den Fernseher an.« Er streckte die rechte Hand aus, denn er wusste, dass Natascha ihm die Fernbedienung hinhalten würde, zeigte in die Richtung des Fernsehers, drückte auf den Bereitschaftsknopf und wartete fünf Sekunden. Dann gab er über die Tastatur der Fernbedienung die Ziffern 1 2 3 4 ein. Einen anderen Code hätte sich die Mutter wohl niemals merken können. Geräuschvoll meldete sich ein Fernsehprogramm. Fedor schaltete zu einem Kinderkanal um und legte die Fernbedienung auf den flachen Beistelltisch, der vor dem Sofa stand. »Okay?«

Natascha nickte, was Fedor nur ahnen konnte, und saß bereits erwartungsfroh und die Zöpfe zwirbelnd auf dem Sofa.

Fedor atmete auf, schlich zurück zum Esstisch und erfühlte erneut das linke Zahlenschloss des Koffers. Das zweite Rädchen drehte er von der 8 auf die 2, das dritte von der 4 auf die 0 und das rechte Rädchen von der 3 auf die 4. – Klick! Der linke Verschluss des Koffers sprang von ganz allein auf. Fedor kannte bestimmte Gewohnheiten des Vaters recht gut. Bei Zahlenkombinationen benutzte Sorokin fast ausschließlich die 1204. Am 12. April wurde Fedors Mama ermordet. Drei Monate nach Fedors Geburt.

Jetzt lauschte er zunächst, ob Natascha von seiner Aktion etwas mitbekommen hatte. Die kicherte heftig über den Schwammkopf und zappelte auf dem Sofa, das dabei leichte Quietschgeräusche von sich gab, die ein Sehender wahrscheinlich nicht wahrnehmen würde. Er widmete sich wieder dem geheimnisvollen, väterlichen Aktenkoffer.

Das rechte Zahlenschloss stand auf 6 4 4 4. Fedor stellte auch hier die 1 2 0 4 ein, doch der Mechanismus öffnete sich nicht. ›Wie klug von Papa! Zwei unterschiedliche Kombinationen! Auch das noch …‹ Im Gehirn des Jungen begann es zu arbeiten. Vielleicht hatte der Vater seinen Lieblingscode rückwärts eingegeben? Fedor ließ es nicht unversucht, hielt die Luft an und drehte fleißig an den Rädchen: 4 0 2 1. Doch der Verschluss blieb zu. Allerdings nicht mehr lange, denn Fedors Erleuchtung folgte sogleich. Das Zahlenschloss hatte auf 6 4 4 4 gestanden! Somit hatte der Vater nach dem Schließen des Koffers alle vier Rädchen gleichzeig mit dem Daumen verstellt! Und zwar um jeweils vier Ziffern! Sofort drehte Fedor die kleinen Rädchen auf 2 0 0 0. ›Logisch. Der Mord geschah genau am 12. April 2000.‹ Der zweite Riegel sprang auf. Einen Augenblick lang lauschte Fedor. Natascha kicherte noch immer über den Trickfilm, also stellte sie im Moment keine Gefahr dar.

Rasch hob Fedor den oberen Teil des Koffers an, gerade so weit, dass seine rechte Hand hineinkrauchen und alles abtasten konnte. Es waren Papiere darin. Die könnte er zwar einscannen und sich anschließend vorlesen lassen, doch das würde viel zu lange dauern. Später vielleicht. Dann fand Fedor ein Handy. Es schien ein sehr modernes Smartphone zu sein. Auch das ließ er in Ruhe. Doch den winzigen USB-Stick, der in einer schmalen Seitentasche steckte, den nahm er an sich, schloss dann leise den Koffer, ohne die Rädchen zu drehen, und schlich in sein Zimmer.

Der eigene Rechner lief ohnehin. Er war fast immer eingeschaltet. Geschickt steckte Fedor den Stick in einen USB-Anschluss und setzte sich das Headset auf. »Wollen Sie …«, fragte eine generierte Stimme, doch sie brach ab, denn Fedor hatte bereits die Enter-Taste gedrückt – Ordner öffnen!

»Eine Onlineverbindung ist notwendig«, krächzte die Computerstimme.

Fedor ging online.

Kurz darauf meldete sich der Computer erneut: »Code eingeben!«

Fedors Finger schwirrten über die Blindentastatur: »ameise1204«. Diesen Code benutzte der Vater praktisch immer, wenn es um Computer ging.

»Code angenommen. Sie sind jetzt auf der geschützten Seite https Doppelpunkt slash slash smi Punkt Sachsen Punkt gd172189 slash Ameise1204 Punkt htm slash …«

»Sächsisches Innenministerium«, flüsterte Fedor und lauschte weiter der ungeschickt und monoton sprechenden Stimme.

»Ihnen stehen folgende Ordner zur Verfügung: Erstens: DOC001. Wollen Sie …?«

Riesig war die Auswahl nicht gerade. Wieder drückte Fedor auf die Enter-Taste.

»Ihnen stehen im Ordner DOC001 folgende Dokumente zur Verfügung: Erstens: MAP001 Punkt PDF. Zweitens: MAP002 Punkt PDF. – Bitte wählen Sie das Dokument aus.«

»MAP001 Punkt PDF!«, raunte Fedor in das Mikrofon.

»Soll die Texterkennung durchgeführt werden?«

»Ja!«

Der Computer surrte kaum hörbar.

»Texterkennung nicht möglich.«

Fedors Stirn schlug ein paar unbedeutende Falten. Dann waren in diesem Dokument wahrscheinlich nur Bilder enthalten. Und die konnte ihm beim besten Willen niemand übersetzen. Er berührte die Zurück-Taste und sagte: »MAP002 Punkt PDF.«

»Soll die Texterkennung durchgeführt werden?«

»Ja, verdammt!«

»Texterkennung durchgeführt. Zielobjekt Doppelpunkt männlich Komma ce a Punkt 29 Komma benutztes Pseudonym Doppelpunkt Pilot112194 Komma ethnische Herkunft Doppelpunkt kroatischer Serbe Komma Gefahrenpotential Doppelpunkt sehr hoch Kontaktperson Doppelpunkt Božidar Seitenende Neue Seite Pilot112194 Mögliche BM Doppelpunkt Planungsunterlagen Anschlag Komma Kartenmaterial BRD Komma Sachsen Komma Hard Minus Software Schrägstrich MANPADS Klammer auf RBS 70 o Punkt RBS 90 u Punkt f Punkt …«

Ein Fahrzeuggeräusch! Fedor riss sich das Headset vom Kopf. »Mist!« Er suchte auf der Tastatur, überhastet, drückte erst die falsche Taste, dann gelang es ihm, die Onlineverbindung zu unterbrechen und die Ordner auf dem eigenen Rechner zu schließen. Er zerrte den Stick regelrecht aus dem USB-Anschluss und ging zur angelehnten Tür seines Zimmers.

»Hallo! Wir sind wieder da!« Die Stimme der Mutter bohrte sich in Fedors Ohren. Er spürte Natascha an sich vorbeilaufen, machte vier feste Schritte, öffnete den Koffer, steckte den USB-Stick in die kleine Tasche im Koffer, schloss ihn, verstellte beide Nummernschlösser, ging zwei Schritte nach rechts und einen schräg nach vorn und ließ sich – ohne die Sitzfläche vorher abzufühlen – auf das Sofa fallen. Das Bein irgendeiner Barbiepuppe von Natascha stach Fedor derb in den Oberschenkel. Im gleichen Moment fühlte er eine Hand auf seinem Kopf.

»Na Großer, alles okay bei dir?« – Papa!

Sorokin schenkte dem rötlich gefärbten Gesicht seines Sohnes keine Beachtung.

»Klar doch. Und bei euch?«

»Auch alles okay.«

Fedor ließ die angesammelte Luft aus der Lunge. Dann zog er die Puppe unter sich hervor und warf sie mit Wucht auf den flachen Tisch neben die Fernbedienung.

Anton schwang sich neben Fedor auf das Sofa und rief: »Kuck, Auto neu!«

Fedor streckte die rechte Hand aus, um das neue Spielzeugauto zu erfühlen. Doch Anton traute ihm nicht.

»Mein Auto«, sagte er stattdessen.

»Dann lass es eben sein.« Fedor erhob sich.

Pilot112194 … kroatischer Serbe … MANPADS … RBS 70 … Božidar – das waren genau die Begriffe, die sich in sein Gehirn eingebrannt hatten. Er würde viel recherchieren müssen.

»Heute geht es früh ins Bett!«, legte Jekaterina laut und deutlich fest. »Gleich nach dem … ähm Uzhin …«

»Abendessen«, half Fedor nach. »Wann genau gibt es das?«

Die Mutter berührte seine Schulter. »Du hast schon Hunger?«

»Nein«, antwortete Fedor. »Aber wenn es noch ein bisschen dauert, dann packe ich inzwischen mein Handgepäck zusammen.«

»In dreißig Minuten. Khorosho? Denk an das Gewicht, Fedor.«

»So viel wiegt mein iPad nicht.«

»Nimmst du nur dein iPad mit?« Mehr konnte die Mutter nicht sagen, denn Fedor hatte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange gegeben und war bereits in seinem Zimmer verschwunden.

Im Grunde genommen war sein Reisegepäck wahrscheinlich ähnlich zusammengesetzt wie das eines durchschnittlichen sehenden Jugendlichen in seinem Alter. Das Smartphone wurde wegen des blindenfreundlichen Apple-Tablets mehr und mehr vernachlässigt, denn mit dem iPad konnte Fedor ebenso telefonieren wie enorm wichtige Dinge aus dem Netz laden und Mitteilungen versenden. Natürlich war seine elektronische Ausrüstung etwas komfortabler als die eines durchschnittlichen reisenden Jugendlichen.

Fedor benutzte eine hochwertige Bluetooth-Braillezeile. Dieses schmale, einer Tastatur gleichende Bauteil ersetzte ihm die Monitoroberfläche, denn über ein kompliziertes Verfahren wurde die Schrift vom Monitor auf der Braillezeile in Brailleschrift wiedergegeben, die er mit den Fingern lesen konnte. Die Informationsaufnahme über das Lesen war aufwendiger als die über das Hören, wenn ihm die Computerstimme etwas vorlas. Jedoch konnte Fedor mit der Braillezeile selbst geschriebene Mitteilungen prüfen und natürlich die Schreibweise ihm wenig bekannter Wörter nachvollziehen. Die Stimme des Screenreader-Programms verlieh seinem iPad sogar einen Namen, denn Fedor nannte es Alex. Das kam daher, dass Alex die Stimme von VoiceOver war. Nach seinem Empfinden war es eine der besten synthetischen Stimmen. Nicht vollendet gut, aber immerhin befriedigend, mitunter fast etwas menschlich. VoiceOver war ein Programm, das auf dem iPad lief und dafür sorgte, dass dieser künstliche Alex alles erklärte, was zu sehen oder zu lesen war. Es sorgte auch dafür, dass Fedor sein iPad über Handgesten steuern konnte. Aktivierte Fedor durch einen Dreifachklick auf die Hometaste die VoiceOver-Steuerung und berührte das Display, so erklärte ihm Alex, was sich auf dem Display befand. Jede beliebige Taste konnte er dann mit einer Doppelberührung aktivieren. Mit bestimmten Fingerbewegungen, den sogenannten »Gesten«, konnte der blinde Junge problemlos das iPad bedienen. Noch genialer war für ihn die »Rotor-Funktion«. Bewegte er zwei Finger auf dem Display, als wollte er eine Cola-Flasche öffnen, dann aktivierte er die Rotor-Funktion, mit der er rasch durch Dokumente wandern konnte. Sehr wichtig war diese Funktion für Fedor, wenn er im Internet unterwegs war. Er arbeitete sich schneller durch die verschiedensten Seiten als viele seiner nichtblinden Freunde. Durch die Berührungsoberflächen der neuen mobilen Gerätegenerationen musste Fedor sich völlig umgewöhnen und eine zweite Art der Bedienung lernen, denn eine Tastatur gab es am iPad nicht. In der Schule hatte er das Zehnfingerschreiben an der Blindentastatur annähernd perfekt gelernt, doch das half ihm bei einem Touchscreen leider nicht weiter. Inzwischen kam Fedor mit den Gesten jedoch so gut zurecht, dass Stefan stets staunte, wenn Fedor mit dem iPad arbeitete oder im Netz surfte.

 

Nachdem Fedor den Ladezustand aller elektronischen Geräte pedantisch geprüft hatte und endlich davon überzeugt war, dass er eine Speicherkarte mit genügend MP3-Musik und Hörbüchern gefüllt hatte, packte er alles ordentlich und vorsichtig in seinen Rucksack und stellte diesen neben die Zimmertür. Dokumente und Geld trug er gewöhnlich in einem Brustbeutel. Anschließend prüfte Fedor seinen Langstock und stellte ihn neben den Rucksack.

In diesem Moment rief es: »Uzhin!« Die Mutter verbesserte sich sofort: »Ich meine Abendessen!«

*

Ein paar Stunden zuvor, etwa zwanzig Kilometer von Fedors Zuhause entfernt: Hans Rattner, Hauptkommissar der Mordkommission Leipzig, stieg zu seinem immerhin um ein Jahr jüngeren Untergebenen Kriminalobermeister Paul Meisner in den Einsatzwagen und schlug derb die Beifahrertür zu.

»Der Tag fing so gut an«, stellte Meisner fest.

Rattner zuckte mit den Schultern. »Ausgerechnet in der Eisenbahnstraße«, raunte er. »Was ist denn da wieder los?«

Meisner stöhnte. »Schnall dich lieber an, nicht dass uns noch die Polizei erwischt.«

Es dauerte eine geraume Weile, bis Rattner mit dem Gurt zurechtkam. Wahrscheinlich dachten die beiden Beamten in diesem Augenblick des Beginns einer neuen Ermittlung das Gleiche. Vor einigen Tagen glaubten zwei Kollegen ihren Augen nicht zu trauen, als sie nach einer Routinekontrolle in Zivil die Leipziger Multi-Kulti-Meile Eisenbahnstraße abliefen und dabei notgedrungen einen Iraner beobachteten, der es sich gerade mit einem Teppich auf dem Gehsteig bequem machte. Als sie genauer hinschauten, entdeckten die beiden Beamten ein buntes Sortiment an Drogen und Zubehör. So etwas hatten selbst die Drogenfahnder noch nicht gesehen. Als sie den Iraner zur Rede stellen wollten, zückte er sofort ein Teppichmesser. Zum Glück verstanden die Beamten ihr Handwerk besser als der Drogendealer und konnten ihn daher blitzschnell entwaffnen. Später stellte sich heraus, dass die Tütchen, die der Mann in seinem kleinen Freiluft-Lädchen feilbot, mengengerechte Portionen Heroin und Cannabis enthielten. Der Mann wurde festgenommen und wegen illegalen Drogenhandels angeklagt. So ernst die Geschichte auch war, in den Polizeidienststellen sorgte sie für sehr viel Gelächter.

Rattner brachte es damals auf den Punkt: »Unsere Gesellschaft verdummt zusehends. Warum sollte die Verdummung ausgerechnet einen Bogen um die Kriminellen machen?«

Der Hauptkommissar öffnete die Mappe auf seinem Schoß, entnahm ihr das einzige Blatt Papier und versuchte, die Schrift darauf zu lesen. »Wackle nicht so rum!«

Der arme Paul Meisner umfuhr bereits nahezu jedes der unzähligen Schlaglöcher. »Das bin nicht ich, das ist die Straße«, sagte er zu seiner Entschuldigung. »Und, was sagst du dazu?«

»Scheint Arbeit zu geben. Hier steht wortwörtlich: ›Notarzt wurde 11:16 Uhr über Notruf zu Hinterhaus gerufen. Er fand einen Toten vor, der nicht mehr wiederbelebt werden wollte. Männliche Leiche, südländisch, zirka vierzig Jahre. Tötungsdelikt durchaus möglich.‹ Welch primitiver Idiot hat denn so etwas geschrieben?« Rattner packte den Zettel zurück und Meisners Gesicht färbte sich rosa.

»Ich. Das war eine Telefonmitschrift. Entschuldige bitte!« Dann schwieg er beharrlich.

»Bist du jetzt eingeschnappt oder was?«, fragte Rattner drei Ampeln später.

»Natürlich nicht«, erwiderte der Kriminalobermeister. »Du kannst einen aber auch manchmal schwächen.«

»Schwächen?« Rattner grinste. »Merkwürdig. Das sagt meine Frau seit ein paar Jahren auch ständig.«

»Volltrottel!«, rief Meisner und meinte damit einen Autofahrer, welcher schlagartig von der rechten in die linke Spur gewechselt hatte. Und zwei Spuren lagen noch dazwischen. Sie ließen den Vorplatz des Leipziger Hauptbahnhofs hinter sich und fuhren durch eine kurvenreiche Straße, die in die Eisenbahnstraße münden würde. »Der Satz ›Du kannst einen aber auch schwächen‹ umschreibt lediglich mit netten Worten, dass die Senilität bei dir heftig zugenommen hat. Jetzt weißt du auch seit wann.« Nun grinste Meisner. Er versuchte, irgendwelche Hausnummern zu erkennen. »Das mit dem Häusernummerieren haben die hier noch nicht richtig verstanden.« Abrupt trat er auf die Bremse, lenkte scharf links ein und wendete fast auf der Stelle. Das geschah etwas sprunghaft, denn die Straßenbahntrasse hatte man hier leicht erhöht, um die freie Fahrt der Tram zu gewährleisten. Einige Sekunden später stand der Wagen zur einen Hälfte auf dem Fußweg und zur anderen Hälfte zwischen zwei Einsatzfahrzeugen der Polizei. »Lass bloß nichts im Auto liegen, sonst kann ich gleich einen neuen Satz Scheiben bestellen.«

»Du und deine Vorurteile gegenüber fremdländischen Mitbürgern.« Rattner schüttelte den Kopf und schaute bedächtig an der Fassade hinauf. Unmittelbar über einem Laden im Erdgeschoss hing ein buntes Schild mit zwei Wörtern in kyrillischer Schrift: »Cрпски специалитети«. Weil Rattner aus früheren DDR-Zeiten noch halbwegs russisch beherrschte, buchstabierte er: »Srpski Specijaliteti. – Sag mal, was ist denn Srpski nun wieder für ein Land?«

Meisner beendete soeben die Kontrolle der Sicherheit seines Fahrzeuges. »Srpski? Sag mal, weißt du denn überhaupt irgendetwas? Srpski! In diesem Laden gibt es Serbische Spezialitäten. Außerdem siehst du das auch auf dem Schild da: Pasulj, Sarma, Bela, Vesalica, Proja und Slivovic.«

Rattner öffnete die Haustür. »Immerhin: Slivovic kenne ich ganz gut. Brennt im Hals und wärmt von innen.«

»Mir war völlig klar, dass du nur den Pflaumenschnaps kennst.«

»Ich dachte immer, der wäre tschechisch.«

»Da hast du falsch gedacht. Die meisten Sachen gibt es überall im slawischen Raum.«

Im düsteren Hausflur wurden Rattner und Meisner von einer Streifenpolizistin begrüßt. »Morgen, die Herren. Der Tatort befindet sich vierzehn Schritte geradeaus auf dem Hinterhof.«

Beide knurrten gleichzeitig ein »Danke!« und verließen den Hausflur durch den Hintereingang.

Auf dem Hinterhof herrschte reges Treiben.

Einer der Herren in Blau begrüßte die Kriminalisten mit den Worten: »Den Weg hätten Sie sich praktisch sparen können.« Er zeigte auf einen Mann, welcher unmittelbar neben der Hauswand in einer Blutlache lag. »Das Opfer. Nebojša Suker, 49, deutsche Staatsbürgerschaft seit acht Jahren, der Vater des Ladeninhabers.« Und dann auf eine Frau, die am anderen Ende des Hofes auf einer umgedrehten Holzkiste saß und mit Handschellen an den Handgelenken versuchte, eine Zigarette zu rauchen. »Der Täter – oder besser die Täterin. Kristina Krajic, 28, hat dem Opfer mehrmals ein Filetiermesser in den Hals gerammt. Sie hat keine Aufenthaltsgenehmigung.«

Zwei Leute in modernen Weltraumanzügen betraten den Hof. Die Spurensicherung. Beide grüßten Rattner, indem sie kurz winkten, und gingen sofort zu der Leiche, um die sich niemand wirklich kümmerte.

»Eine Frage noch: War diese Kristina hier, als Sie am Tatort eintrafen?«

Der Polizist verneinte. »Niemand hatte was gesehen, wir haben ringsherum fast alle Leute gefragt. Wer hier wohnt und arbeitet, ist wie die drei berühmten Affen. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Als wir mit dem Absperren beschäftigt waren, kam Kristina Krajic auf den Hof getaumelt, setzte sich und erzählte irgendwas Unverständliches. Irgendwann sagte sie dann in gebrochenem Deutsch: ›Ja. Ich habe das getan. Sorry.‹ Das war alles. Seitdem schweigt sie.«