Crow Kingdom

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»Einer hat seinen Hund mit reingeschmuggelt«, sagt Sonja mit Blick auf die Bildschirme um sich herum. Dann scheinen beide Kundschaft zu sehen, in der Ferne, außerhalb meines Sichtfelds. Sie lächeln. Aus den Lautsprechern ertönt die dritte Strophe der Parkhymne.

Im hellen Schein, da liegt das Glück!

Sagst du Lebwohl, komm bald zurück!

Im Herzen trägst auch du ein Stück

Vom Königreich Corona!

»Ich hasse diesen Ort«, sagt Donnie leise.

»Das tun wir alle«, flüstert Sonja, auf dem Gesicht dasselbe falsche Lächeln wie bei unserem Mechaniker. Wie auf dem ewig fröhlichen Raben­kopf, den ich trage.

Und dabei sind wir es, die all das am Laufen halten. Ohne uns würde der ganze Park eingehen, sage ich. Wir sind die Raben im Tower.

»Wir sind die Zahnräder im Getriebe von Bellmores Monstrum«, sagt Donnie. »Wenn wir aufhören, uns zu drehen, ist hier alles dem Untergang geweiht.«

Ich sage, dass wir den bereits angerichteten Schaden damit auch nicht repariert kriegen.

»Immerhin würde man der nächsten Generation einen Gefallen tun, wenn man den ganzen Laden hochgehen lässt«, sagt Sonja. »Spricht irgendeine der Parkregeln gegen Sprengstoff?«

»Wir brauchen keinen Sprengstoff«, sagt Donnie. »Alles, was wir brauchen, ist schon hier. Wenn man ein paar Schrauben entfernt, bricht Lunaphobia in sich zusammen. Wenn die Fritteusen zu heiß laufen, brennen früher oder später alle Restaurants. Weißt du, wie viele brennbare Materialien es in diesem Park gibt?«

Bevor einer von uns reagieren kann, öffnet sich der Ausgang der Achterbahn. Die Parkgäste schreien, dass sie noch mal fahren wollen, dass sie sich kurz setzen müssen, dass sie unbedingt das Foto von sich nach dem ersten Looping kaufen möchten. Irgendwo jault ein kleiner Hund. Donnie nimmt seinen Werkzeugkasten, nickt uns zu und verschwindet in der Menge. Sonja versucht, herauszufinden, wessen Finger auf welchen Bildschirm zeigt.

Ich sehe unserem Mechaniker hinterher. Und zum ersten Mal, seitdem ich am Morgen das Kostüm angelegt habe, kann auch ich mir ein Lächeln nicht verkneifen.

5

Noch am Vormittag habe ich dabei geholfen, einen alten Spielplatz wieder aufzubauen, jetzt stehe ich zitternd vor dem Haus meiner Eltern und traue mich nicht, die Tür zu öffnen. Ich könnte mich natürlich genauso gut woanders erhängen, aber außer dem Park fällt mir kein geeigneter Ort ein. Und ich besuche doch nicht an einem freien Tag meinen Arbeitsplatz.

Heute darf Pernille die Plastikarmbänder am Eingang verteilen. Alexandra und Hamza geben die Sicherheitsanweisungen an der Wild­wasserbahn Froschs Floßvergnügen.

Ich habe indessen den größten Teil des Tages im Wald verbracht. Am Rand des Dorfs befindet sich eine kleine Lichtung, an der vor drei Jahrzehnten ein kleiner Spielplatz errichtet wurde. Neben den Picknickbänken und Spielgeräten führt ein schmaler Weg in den Wald. Ein Lehrpfad mit Schaukästen und Infotafeln, entworfen und angelegt von Arne Guðmundsson, dem Autor der Rabe-Trilogie. Die Idee war es, spielerisch etwas über den Wald und seine Bewohner zu lernen. Eine Ergänzung zum nahen Park mit seinen lauten und schnellen Attraktionen. Als Kind bin auch ich ein paar Mal dort gewesen, doch inzwischen ist der Spielplatz verlassen und verfallen.

Die einzigen Besucherinnen sind ein Dutzend Mädchen, das beim Wiederaufbau von Guðmundssons kleinem Herzensprojekt helfen soll, um Geldstrafen oder Jugendarrest zu entgehen. Und ich. Unter den strengen Blicken eines Sozialarbeiters begutachten wir die heruntergekommenen Spielgeräte. An den Lehrpfad erinnern nur noch ein paar herumliegende Hinweisschilder.

Das Haus meiner Eltern wurde genauso vernachlässigt. Als ich es endlich betrete, schlägt mir die abgestandene Luft vieler Monate entgegen. Genau genommen ist es inzwischen wohl mein Haus, doch es fühlt sich noch immer nicht so an. Am Kühlschrank hängen keine Bilder meiner Kinder, sondern noch immer die Zeichnungen aus meiner Kindheit und die alten Fotos von Noah und mir.

Abwärts rasend auf Fledermaus-Furore.

Im Kreis schwingend auf Wirbelnder Weber.

Mit den Jahren wurden in fast allen Attraktionen Foto-Points eingeführt.

Eigentlich will ich direkt auf den Dachboden gehen, das Seil um einen der Balken dort binden und all dem ein Ende machen. Stattdessen führen mich meine Schritte in den Keller. Alles ist mit Staub bedeckt. Auf der Lehne des Ausklappsofas liegt noch immer die Brille meines Vaters. Auf dem Tisch daneben eine Tablettenschachtel meiner Mutter. Ich habe nichts im Haus verändert, seitdem sie gestorben sind.

»Und wen hast du umgebracht, um hier zu landen?«, fragte eines der Mädchen in die Runde, bevor wir den verschiedenen Spielgeräten zugeteilt wurden.

»Ach, alle Möglichen«, antwortete eine der anderen. »Aber langsam bereu ichʼs. Hat mir keiner gesagt, dass lebenslänglich oder Todesstrafe durch gemeinnützige Arbeit ersetzt wurden.«

Ein paar der Mädchen lachten, sofort wurden sie ermahnt. Der Aufseher betonte noch einmal, dass sie nicht zum Spaß da waren. Sie sollten einen Beitrag für die Gemeinschaft leisten und damit den Schaden wiedergutmachen, den sie angerichtet haben. Die Mädchen wurden aus Städten in der Umgebung hergeschickt, keines stammte aus meinem Dorf.

Während sie einander ausfragten, was sie getan hatten, um hier zu landen, ging ich zum Rand des Spielplatzes, wo früher der Naturlehrpfad anfing. Der Weg war überwuchert, die verschiedenen Bodenbeläge wie Kies, Moos und Sand unter neu gewachsenen Gräsern kaum zu sehen. Halb versunkene Schilder ragten aus dem feuchten Waldboden. »Entdecke die Wunder des Waldes«, hieß es auf einem. »Genieße die Idylle der Natur«, stand auf einem anderen.

Natürlich ist der Park auch von dort aus zu hören. Zwischen Corona Kingdom und dem Dorf liegt nur eine halbe Stunde Autofahrt. Zehn Minuten, wenn man die Straßen ignoriert und einfach in direkter Linie über die angrenzenden Getreidefelder rast. Wie der Rabe fliegt.

Von meinem alten Kinderzimmer aus sieht man noch immer die gewaltigen Stahlkonstruktionen, die Bellmore vor 27 Jahren aus dem Boden gestampft hat. Meine Mutter arbeitete damals in einem Supermarkt. Mein Vater war Koch in einer kleinen Gaststätte. Beide freuten sich auf den anstehenden Tourismusboom, auf all die Leute, die vor oder nach dem Ausflug in den Park unser Dorf besuchen würden. Das war, bevor Bellmore eine Straße bauen ließ, die Anreisende direkt zum Park führte. Bevor außerhalb des Parkgeländes Hotels und Restaurants errichtet wurden, die dafür sorgten, dass es keinen Grund mehr gab, das Dorf zu besuchen.

Ich war zu jung, um zu merken, welche Folgen diese Maßnahmen für meine Eltern hatten. Jetzt knie ich vor dem Sofa, auf dem sie damals gefunden wurden, und kralle mich weinend in das verstaubte Polster. Ich presse mein Gesicht in eines der Kissen und schreie.

»Schrecken aus dem Schatten!«, rief eines der Mädchen, kurz nachdem wir heute Vormittag mit den Arbeiten begonnen hatten. Wir ersetzten Ketten an der Schaukel und Schrauben am Klettergerüst, der Rutsche, der Wippe. Wir entfernten Unkraut und mähten den Rasen. Am Ende sollten alle Spielgeräte neu gestrichen werden.

»Doppelter Schaden!«, fielen andere in das Geschrei mit ein. »100 Sonnenpunkte!«

Sie zitierten Corona Rescue, das Videospiel zum Rabe-Franchise, und erst, als die ersten Steine flogen, merkte ich, wieso. Hinter den Eimern mit frischer Farbe war ein Fuchs aufgetaucht. In dem Spiel muss Rabe seine Freunde finden, die im Wald verschwunden sind. Er sammelt Münzen und muss gefährliche Pfade navigieren. Im Dunkeln unter Wurzeln und in Erdlöchern tauchen dabei feindliche Tiere auf, die man mit Steinen bewerfen und so verjagen kann.

»Für Corona!«, riefen die Mädchen und taten genau das, was das Spiel ihnen beigebracht hatte. Dutzende Steine prasselten auf die Farbeimer nieder. Bis der Aufseher den Aufruhr beendet hatte, war der Fuchs schon längst hinter einem der Schilder verschwunden.

Genieße die Idylle der Natur.

Welche Auswirkungen der Park auf meine Eltern hatte, wurde mir erst bewusst, als es schon zu spät war. Je länger ich dort arbeitete, umso seltener sah ich sie. Ich bekam nur am Rande mit, dass mein Vater seine Gaststätte schließen musste. Dass meine Mutter entlassen wurde, weil nur noch die wenigen Leute im Dorf zum Einkaufen zu ihr kamen. Schließlich taten sie, was alle in der Nachbarschaft taten, die nicht bereits weggezogen waren. Sie vermieteten Schlafplätze für die Kundschaft des Parks. Auf einem Schild vor dem Haus steht noch heute »Pension«, darüber ist ein schwarzer Vogel zu sehen. Natürlich nicht der markenrechtlich geschützte Rabe vom Parklogo. Trotzdem wurden schon bald erste Übernachtungen gebucht.

Ich verkaufte Royal Raven-Sparmenüs an dieselben Familien, für die meine Mutter morgens Frühstück gemacht hatte. Ich wischte abends das Erbrochene der Leute auf, für die mein Vater die Betten frisch bezog. Ich kann nur vermuten, dass meine Eltern daran ähnlich wenig Spaß hatten. Teilweise vergingen Wochen zwischen zwei Besuchen zu Hause. Es gibt keine Kühlschrankfotos, die zeigen, wie die beiden älter wurden.

Irgendwann hatten sie graues Haar und eröffneten all ihre Mahlzeiten mit Medikamenten. Mein Vater begann, mir immer wieder die gleichen Geschichten zu erzählen. Meine Mutter begann, ihm jedes Mal, wenn er von der Toilette kam, dieselbe Frage zu stellen.

»Hagel oder Regen?«

Wie Bellmore glaubten sie, ihre Geheimsprache wäre clever, doch immer, wenn mein Vater »Hagel« antwortete, verließ meine Mutter den Raum. Das Geräusch der Spülung aus dem Bad bestätigte, was sich hinter dem Codewort verbarg.

 

»Kacke!«, rief eines der Mädchen auf dem Spielplatz, stieg von der Leiter und bewegte sich auf den Aufseher zu. Sie hatte sich am Holzgerüst der Schaukeln einen Splitter eingefangen. Während ihr Finger verarztet wurde, schnappte ich mir die Leiter. Schon bei der Ankunft war mir das Nest auf dem Baum neben der Rutsche aufgefallen, jetzt konnte ich die Gelegenheit nutzen, kurz reinzuschauen. Für manche Vogelarten war bereits Brutzeit. Der Neststandort ließ mehrere Möglichkeiten zu, was ich dort finden würde.

Himmelblaue Eier von früh brütenden Singdrosseln.

Grünliche Spatzeneier mit grauen oder braunen Punkten.

Auch im Park müssen wir hin und wieder auf Bäume klettern. Wir bringen Deko für Halloween oder Weihnachten an. Wir sammeln verlorene Luftballons ein oder machen Fotos für die Homepage. Natürlich muss ich jedes Mal daran denken, wie ich als Kind von dem Baum sprang. Erst später konnte ich wertschätzen, wie aufopferungsvoll sich meine Eltern damals um mich gekümmert hatten. Es tut mir leid, dass ich später nicht dasselbe für sie tun konnte.

Als sie starben, war ich seit fast zwei Monaten nicht zu Hause gewesen. In der Zwischenzeit hatten sie ihr Schlafzimmer geräumt, um mehr Buchungen zu ermöglichen. Sie selbst schliefen auf einem ausklappbaren Sofa, im Keller ihres eigenen Hauses. Sie hatten keine Fenster, aber ein kleines Bad und einen alten Gasofen.

Die Übernachtenden rochen nichts, als sie sich morgens zum Park aufmachten. Die nächste Gruppe fand nur verschlossene Türen vor, und schließlich rief jemand die Polizei. Wie sich herausstellte, war Kohlenmonoxid aus dem Ofen ausgetreten. Meine Eltern hatten die ganze Nacht über giftiges Gas eingeatmet.

Auf die gleiche Art ist auch Walt Disneys Mutter gestorben.

Die beiden lagen im Bett, Hand in Hand, offenbar friedlich eingeschlafen. Ich war nicht dabei, als sie gefunden wurden. Mein Handy lag in unserem Pausenraum. Privatgespräche während der Arbeitszeit sind verboten. Erst später bemerkte ich die vielen verpassten Anrufe, fuhr ins Krankenhaus einer Nachbarstadt und identifizierte die Leichen.

Ich kehrte in das alte Haus zurück und öffnete alle Fenster. Ich ging in den Kellerraum, in dem sie gestorben waren. Ich ging ins kleine Bad daneben und öffnete den Klodeckel.

Es gibt Fälle, in denen sich Neugier einfach nicht lohnt. Trotzdem kletterte ich auf dem Spielplatz im Wald die Leiter hoch. Langsam, leise, darauf bedacht, ja keine Jungtiere zu verschrecken, lugte ich über den Rand des Nests. Ich fand weder Eier noch Küken. Das Nest war voll mit bunten Strohhalmen und Armbändern. Ich zählte genug Münzen der Parkwährung, um sich ein T-Shirt kaufen zu können.

Entdecke die Wunder des Waldes.

Inzwischen bin ich eine weitere Leiter hinaufgestiegen und sehe mich auf dem Dachboden um. Das Seil in meiner Hand stammt aus Vincents Villa. In dem Geisterhaus liegen mehr als genug Seile und Kabel von früheren Dekorationen. Schluchzend knüpfe ich eine Schlinge und werfe sie über einen der Dachbalken. Neben der offenen Falltür mit der Leiter nach unten steht ein mitgebrachter Stuhl. Meine Tränen auf dem Sofa im Keller sind noch nicht getrocknet, da steige ich auf den Stuhl und lege den Kopf in die Schlinge.

Nachdem ich von dem verlassenen Nest zu den Spielgeräten zurückgekehrt war, machte ich mich wieder daran, die Wippe zu streichen. Wenn der Wind günstig stand, konnte ich dabei immer wieder Geräusche aus dem Park hören. Das Rattern der Achterbahnen, die Schreie, pausenlos Musik. Egal, was ich tue, der Park ist immer präsent und erinnert mich an alles, was ich seinetwegen durchmachen musste.

Corona Kingdom hat meine Eltern getötet.

Hätte Guðmundsson ahnen können, was aus seinen Büchern wachsen würde, er hätte sie vermutlich gar nicht erst geschrieben. Sein alter Naturlehrpfad ist zu überwuchert, als dass wir ihn hätten wieder aufbauen können. Ich bezweifle, dass der Fuchs sich noch einmal dem Spielplatz nähern wird. Und das einzige andere Tier, das ich zu Gesicht bekam, bevor wir unsere Arbeit beendet haben, war ein Rabe, vielleicht auch eine Krähe, schwarz mit bunten Flecken, mit einem Pommes im Schnabel.

Ich schließe die Augen und ziehe mein Haar aus der Schlinge. Mein Gesicht ist nass, von meiner Nase tropft es bis auf den Boden. Rotz und Tränen laufen über meine Lippen. Ich habe schon oft um die Toten geweint, die ich nicht zurückbringen kann. Heute ist es hoffentlich das letzte Mal.

Der Spielplatz im Wald befindet sich wieder in perfektem Zustand. Abgesandte von Lokalzeitungen haben Fotos vom Ergebnis unserer Arbeit gemacht. Doch es ist zu spät.

Von meinem Schluchzen abgesehen herrscht absolute Stille. Keine Schreie. Keine Musik.

Ich trete den Stuhl beiseite.

Und ich falle.

6

Als ich Sonja das erste Mal hörte, versuchte sie, mir Zahnpasta zu verkaufen. Als wir das erste Mal miteinander sprachen, drohte sie damit, mich verhaften zu lassen, wenn ich sie weiter belästigen würde. Jetzt knie ich vor ihr, den Kopf zwischen ihren Beinen, und versuche, sie zum Schreien zu bringen, bevor ich weiterfahren muss.

Wir haben vier Minuten.

Um uns herum stehen Hunderte Menschen und jubeln, lachen, machen Fotos, doch sie können uns nicht sehen. Niemand weiß, was in den Paradewagen vor sich geht. Die Leute interessiert nur, dass die Parkhymne läuft, alle drei Strophen, immer wieder, und dass die Schaumstofftiere dazu tanzen. Die Kostümierten laufen zwischen den bunt gestalteten Wagen hin und her und beweisen, wie viel von der Choreografie sie sich gemerkt haben. Ich bin diese Woche Fahrerin und muss nur dafür sorgen, dass Wagen zwei sich alle paar Minuten ein paar Meter vorwärts bewegt und dabei niemanden umfährt. Sonja steuert die mechanischen Puppen, die aus dem Fahrzeug ragen, hebt und senkt ihre Arme, dreht ihre Augen und öffnet ihre Münder.

Von innen ist der Wagen nur ein fahrendes Metallgerüst mit Plastikmantel. Vom Innenraum des alten Minibusses ist bis auf einen einzelnen Fahrersitz am Steuer nichts geblieben. Von außen sieht der Wagen aus wie ein riesiges Feuer – das Lagerfeuer beim Fest, das die Tiere am Ende von Rabe im Wald veranstalten. Rabe und der sechsköpfige Freundeskreis, den er im Verlauf des ersten Buches gefunden hat, sitzen im Kreis und halten Stöcke mit Nüssen und Beeren ins Feuer. Normalerweise sollen die mechanischen Tiere leicht hin- und herschwanken und ihre Stöcke auf- und abbewegen. Sonja weiß genau, welche Knöpfe sie drücken muss, damit Frosch und Fuchs hin und wieder aneinanderlehnen wie auf der Illustration im Buch. Oder damit Rabe vor Freude beide Flügel hebt und den Schnabel aufreißt. Natürlich tut sie nichts davon, solange ich sie gegen die Konsole drücke und meine Zunge in sie gleiten lasse.

»Nicht so stürmisch!«, ertönt eine Stimme per Funk. »Das Feuer hat euch nichts getan!«

Unsere Spotterin heute ist Zeynep. Sie behält den Wagen im Auge und gibt uns Bescheid, falls wir von der Strecke abweichen. Sie warnt uns, wenn Kinder in die Parade laufen oder eines der tanzenden Schaumstofftiere stolpert und wir sofort bremsen müssen. Oder wenn die Puppen sich nicht so verhalten, wie sie sollen.

»Nicht wundern, falls ihr ein Trommeln hört«, teilt Zeynep uns mit. »Das ist nur das Geräusch von einem halben Dutzend Robotern, die wild auf ein Plastikfeuer einprügeln.«

Sonja nimmt die Hand von dem Knopf, der die Stöcke hebt und senkt, und presst meinen Kopf fester in ihren Schoß. Ein schwarzer Kussmund drückt sich gegen meine linke Wange, ein Leuchtturm gegen meine rechte. Wer Sonjas Haut spüren darf, hat unweigerlich Kontakt mit jeder Menge Tätowierungen. Und inzwischen kenne ich sie alle.

Auf ihrem linken Schulterblatt prangt das Parklogo. Ihr erstes Tattoo, denn wie alle in unserer Generation war sie in ihrer Jugend riesiger Fan der Abenteuer des Raben. Ihr zweites Tattoo war der Rechnungsbeleg des ersten, auf dem Oberarm daneben, denn alles hat seinen Preis. Sonja weiß, auf schöne Zeiten folgen zwangsläufig irgendwann wieder schlechtere. Auf jedes Auf folgt ein Ab. Wie bei einer Achterbahn. Oder Stöcken über dem Lagerfeuer.

»Ihr wisst, dass es auch ein Mittelding zwischen Auspeitschen und Schockstarre gibt, oder?«, meldet sich Zeynep durch die Lautsprecher im Wagen. »Ein bisschen bewegen dürfen die Figuren sich schon.«

Als würde irgendwer sich beschweren, wenn auf einem von acht Paradewagen ein paar Minuten lang nichts zappelt und schwankt. Die Musik läuft trotzdem, und die Angestellten tanzen unbeirrt weiter. Ein kleiner Bildschirm neben dem Lenkrad zeigt uns die Kostümierten direkt vor dem Wagen, doch sobald er steht, kann ich ohnehin niemanden überfahren. Und sobald Sonja sich in mein Haar krallt und mich an sich zieht, achtet keiner von uns noch auf den Bildschirm.

Es ist wie nach jedem meiner Suizidversuche. Die Erkenntnis, doch noch am Leben zu sein, macht mir umso deutlicher, was ich alles zurückgelassen hätte. Und Sonja genießt, dass ich jede Chance nutzen will, mit ihr so lebendig wie möglich zu sein. Auch auf die Gefahr hin, dass sie eine meiner Prellungen berührt.

Ihr Stöhnen wird nur von Zeyneps Funksprüchen unterbrochen.

»Apropos Bewegung«, teilt sie uns mit. »In einer Minute geht’s weiter.«

Ich küsse mich an Sonja hinauf, vorbei an ihrem Bauchnabel und in Richtung Hals. Über ihre rechte Bauchseite erstreckt sich eine Weinrebe, daran einzelne Trauben mit kleinen Gesichtern. Um ihre rechte Brustwarze krümmt sich eine Mondsichel. Die linke ist von einer Sonne mit zwölf Strahlen umrahmt. Die über dem Herzen.

»Wir müssen aufhören«, sagt sie.

Bring mich dazu, sage ich und nehme den Sonnennippel in den Mund. Natürlich hat sie recht. Es könnte ein Unfall passieren, wenn die Wagen nicht alle synchron fahren. Doch jede Sekunde am Steuer ist eine weniger, die ich sie zwischen den Lippen habe.

»Beim nächsten Piepton«, sagt Sonja, »ist es 11:55 Uhr.«

Ich weiß, was sie versucht, und küsse sie weiter.

»Sie wollen Ihre Umsätze steigern und neue Ertragskanäle erschließen?«, sagt sie. »Wir erweitern Ihre Marktpräsenz mit Business-Solutions, die Ihre Schlüsselqualifikationen in den Fokus rücken!«

Sie sagt: »Zu den Nebenwirkungen gehören Rötungen, Juckreiz und Hautausschlag.«

Wir müssen lachen, und ich lasse von ihr ab. Wann immer Sonja will, dass ich aufhöre, sie zu küssen, fängt sie an, von ihrer alten Arbeit zu zitieren. Bevor wir uns kannten, vor ihrer Zeit im Park, war sie als Sprecherin tätig.

Sie stellte Produkte in Fernseh- und Radiowerbung vor. Sie synchronisierte Trickfilmfiguren und führte durch Dokumentationen. Es ist kein Wunder, dass Bellmore sie dazu verpflichtet hat, die Hymne des Parks zu singen und die Stationen des Eichhörnchen-Express anzusagen, der am gesamten Rand des Parkgeländes entlangfährt.

»20 Sekunden!«, sagt Zeynep über Funk. Vorsichtig nehme ich wieder auf dem Sitz am Lenkrad Platz. Sonja zieht ihre Hose hoch und hebt ihr Shirt vom Boden auf. Wenn man sie halb nackt sieht, merkt man erst, wie dünn sie inzwischen ist. Wie eine Drahtfigur, mit zu wenig Gips umwickelt. Oder eines der Metallgestelle in den Figuren für Stop-Motion-Filme, die von Kunststoff ummantelt sind und pausenlos fotografiert werden. Eine Beschreibung, die für uns genauso gilt, wenn wir kostümiert im Park rumlaufen.

»Tut mir leid«, sagt sie, während sie sich wieder vollständig anzieht. »Wir können das gern bald fortsetzen. Hast du heute Abend schon was vor?«

Ich muss einen gebrochenen Dachbalken und ein Treppengeländer reparieren. Ich muss das Blut von den alten Holzstufen kriegen, das dort eingetrocknet ist, seitdem ich durch die Falltür vom Dachboden gestürzt und bis ins Erdgeschoss gerollt bin. Natürlich kann ich ihr das nicht sagen. Wahrscheinlich der größte Unterschied zwischen ihr und mir.

Nicht alle von Sonjas Tätowierungen haben eine tiefere Bedeutung, doch die meisten sind kleine Erinnerungen an ihr bisheriges Leben. Die Gesichter auf den Weintrauben sind die ihrer Familie. Der schwarze Lippenabdruck sitzt da, wo ihr letzter Freund sie am liebsten geküsst hat. Um ihr rechtes Bein schlängelt sich eine violette Achterbahn, weil sie es zu Beginn geliebt hat, hier zu arbeiten, wie wir alle. Wen Sonja so nah an sich lässt, dass er all diese Motive hautnah betrachten kann, vor dem hat sie keine Geheimnisse.

Doch auf ihrem Körper sind nicht nur schöne Momente verewigt. Auf ihrer linken Fußsohle steht »Allesfickerin«, die letzten Worte einer Ex-Freundin, die nicht damit zurechtkam, dass Sonja auf Männer genauso steht wie auf Frauen. Über ihr rechtes Handgelenk zieht sich eine gestrichelte Linie mit einer kleinen Schere daran, aus Teenagerzeiten, wo das Ende einer Beziehung für sie dem Ende der Welt gleichkam. Darüber zieht sich ein Knochen vom Ellenbogen bis zur Schulter, anatomisch korrekt und in der Mitte zersplittert, als Erinnerung an ihren ersten Bruch.

 

Beim Sturz vom Dachboden habe ich mir zum Glück nichts gebrochen, doch was genau an meinem freien Tag passiert ist, behalte ich für mich. Sonja weiß nur, dass ich die Treppe runtergefallen bin. Bellmore habe ich dasselbe gesagt. Deshalb fahre ich diese Woche Zeyneps Paradewagen, statt wie sonst im Rabenkostüm daneben herzulaufen.

»Wir nähern uns der Kurve vor dem Flugsimulator«, ertönt ihre Stimme durch die Lautsprecher. Für einen Moment sehe ich sie auf dem kleinen Bildschirm, in der schwarz-gelben Uniform, die wir alle ständig tragen.

»Fahr mir ja keine Schramme in mein Baby!«, sagt Zeynep. »Als ich das letzte Mal das Steuer abgeben musste, hat Nestor es fast geschafft, Wagen eins zu rammen! Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir unfallfrei bleiben! Du weißt, was Donnie immer sagt!«

Natürlich weiß ich es. Im Magic Kingdom in Florida wurde 2004 ein Mitarbeiter während der Share A Dream Come True-Parade überrollt. Er war als Pluto der Hund verkleidet und geriet unter einen Wagen, auf dem Arielle und Prinz Eric in einer Schneekugel dem Publikum zuwinkten. Niemand will, dass sich hier eine ähnliche Tragödie ereignet.

»Da fällt mir ein«, ruft Sonja von der Konsole hinter mir. »Wenn Donnie fragt – ich war diese Woche jeden Abend bei dir, okay?«

Ich wünschte, sie wäre es gewesen, aber ich musste allein meine Wunden lecken. Ich frage, wieso Donnie sich nach ihr erkundigen sollte, doch sie ist zu beschäftigt damit, die mechanischen Tiere an ihrem Lagerfeuer zu bewegen. Also fahre ich weiter den Tanzenden hinterher. Zeyneps Angst, dass der Wagen Schaden nimmt, ist völlig unbegründet. In meiner Akte ist nicht ein Autounfall zu finden.

»Falls du heute schon verplant bist, kannst du mich auch morgen anrufen, wenn deine Schicht vorbei ist«, ruft Sonja. »Ich verspreche auch, dich nicht anzubrüllen.«

Hinter ihrem rechten Ohr, unter strohblondem Haar versteckt, kann man einen kleinen Telefonhörer entdecken. Ein Andenken an die Nacht, in der wir uns kennengelernt haben.

»Du wagst es allen Ernstes, um diese Uhrzeit anzurufen?«, schrie sie damals durch die Leitung.

Offenbar hatte ich im Halbschlaf ihre Nummer gewählt. Und irgendwie hatte ich Sonja schon davor gehört, abwärts rasend in einem Leichenwagen, wie meist am Ende meiner Albträume. Natürlich kannte ich ihre Stimme schon lange.

»Ein guter Grund, mehr zu lächeln!«, sagte sie stets in der bekannten Zahnpastawerbung.

»Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben!«, schrie sie stattdessen, während ich langsam feststellte, dass ich nur schlecht geträumt und mitten in der Nacht eine fremde Frau aus dem Bett geklingelt hatte.

»Wenn du mich nicht verdammt noch mal in Ruhe lässt, rufe ich die Polizei!«

Warte, sagte ich. Kenne ich deine Stimme nicht irgendwoher?

»Sag dem Mistkerl, ich will nichts mit ihm zu tun haben!«, schrie sie, und ich gab zurück, dass ich keine Ahnung hätte, wen sie meint. Ich habe mich verwählt. Aber ich kenne ihre Stimme. Sie musste lachen.

»Wer nicht?«, sagte sie. »Lethadent – Der Frischekick für die Zähne! Das war mein erster Job. Hätte wohl keiner gedacht, dass der Spot auch zwei Jahrzehnte später noch so gut ankommt.«

Die Werbung war mir bekannt, aber das war nicht, was ich meinte.

»Sorry, dass ich dich angebrüllt hab. Mein Ex ruft ständig an, um meine Stimme zu hören.«

Verständlich, dachte ich. Trotzdem entschuldigte ich mich für die Störung und wollte auflegen.

»Brauchst du Hilfe oder so?«, sagte sie, und ich hielt inne. Das war ein Jahr, nachdem meine Eltern gestorben waren. Ein halbes Jahr seit dem Beginn der Albträume. Erst an diesem Punkt merkte ich, dass ich zitterte. Also erzählte ich ihr, dass ich in einer schäbigen 10-m²-Personalwohnung in einem Vergnügungspark lebte, weil ich nicht in mein altes Elternhaus zurückkehren konnte, und dass ich seit Monaten keine Nacht durchgeschlafen hatte. Sie hörte zu und erzählte von den Anrufen ihres Ex-Freundes, von ihrer Arbeit als Sprecherin und schließlich von ihren Tattoos – all den guten und schlechten Erinnerungen an ihr bisheriges Leben, die sie an den Punkt gebracht hatten, an dem sie heute war. Wir sprachen, bis die Sonne aufging, und ich gab ihr meine Nummer, damit wir am nächsten Abend weiterreden konnten, ohne dass sie fürchten musste, von jemandem belästigt zu werden, den sie nicht hören wollte.

Ich habe ihre Zahnpasta nie gekauft. Trotzdem fand ich bald wieder Gründe, mehr zu lächeln. Keinen Monat später bewarb sie sich im Park.

Und so habe ich Sonja kennengelernt.

»1A Kurvenführung, Jessica«, sagt Zeynep über Funk. »Nächster Stopp in 30 Sekunden.«

Die Parade ist fast vorbei, es folgt nur noch eine Tanzeinlage und zum Abschluss ein langes Feuerwerk. Dann kehrt das Publikum zurück in die Hotels oder die vielen Pensionen im Dorf, und wir sammeln die verlorenen Gegenstände unter den Attraktionen auf, die schon bald vermisst werden. Doch vorerst sitzen wir unter einer Metallkuppel im Innern eines Plastiklagerfeuers und warten.

Ich spüre einen Kuss auf dem Hinterkopf, dann setzt Sonja sich auf meinen Schoß. Ich umarme sie, damit mein Gesicht nicht meine Schmerzen verrät.

Als ich mich wieder gefasst habe, frage ich noch mal, was Donnie von ihr will.

»Nicht jetzt«, sagt sie. »Wie lang haben wir, bis die Show vorbei ist? Zehn Minuten? Willst du die Chance nicht nutzen?«

Was ich will, ist, dass ich keine blauen Flecken mehr überschminken muss und mich endlich wieder trauen kann, bei ihr zu übernachten. Seitdem wir uns kennen, hat nichts anderes dafür gesorgt, dass ich komplette Nächte durchschlafen kann. Auch wenn wir vermutlich nicht viel schlafen würden.

Sie küsst meinen Hals, dann mein Ohr. Und für den Moment ist das völlig ausreichend. Die Parade ist egal, die Kundschaft ebenso. Wenn Bellmore fragt, wieso die Figuren sich nicht bewegt haben, geben wir technische Probleme an.

»Entspann dich einfach«, sagt Sonja und rutscht an mir hinab, bis sie zwischen Sitz und Lenkrad hockt. Sie zieht mir die Hose zwischen die Knöchel und wandert mit den Lippen von meinen Knien aufwärts. Ich streiche ihr Haar beiseite, da fällt mir etwas über ihrem Nacken auf. Hinten auf ihrem Hals prangt ein Tattoo, das ich noch nie gesehen habe. Es sieht aus wie ein gläserner Schraubenschlüssel, und ich habe keine Ahnung, was es bedeuten soll.

Bevor ich fragen kann, spüre ich ihre Zunge.

»Los geht’s«, ertönt es aus den Lautsprechern. »Zeit für das Feuerwerk!«

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