Crow Kingdom

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3

Noch bevor das erste Rabe-Buch mir zum besten Freund meiner Kindheit verhalf, sorgte es dafür, dass ich mir beide Beine brach.

Das Cover des Buchs zeigt den Vogel auf einem Ast, am rechten Rand ist noch der Baum dazu zu sehen. Hinter dem Raben, kreisrund in der Mitte des Covers, strahlt die Sonne. Rabes Flügel sind gespreizt. Er sieht glücklich aus.

Als ich Rabe im Wald kennenlernte, gab es noch keine Fortsetzungen. Kein internationales Franchise mit Vergnügungspark, Filmen und Tausenden von Spielzeugen. Alles, was die Kinder aus der Nachbarschaft und ich hatten, war die eine Geschichte des kleinen Raben, der durch Zufall die Stadt Corona findet und sich mit den Waldtieren anfreundet, die dort leben.

Wir bastelten Kostüme aus Pappkartons und erfanden neue Abenteuer für die Tiere, die bereits im ersten Band auftauchen. Fuchs und Frosch, Bär und Specht, Hase und Eichhörnchen. Und Rabe natürlich. Dass im Buch nichts Spannendes passiert, hielt uns nicht davon ab, uns Geschichten auszudenken und sie immer wieder nachzustellen. Tagsüber im Kindergarten, abends dann in den heimischen Gärten, bis es dunkel wurde und unsere Eltern uns nach Hause zurückholten. Wir malten die Bilder ab und bettelten jeden Abend darum, dass uns die Geschichte noch mal vorgelesen wird.

Wir waren ein Fanclub, ohne es zu wissen. Ein Kult, ohne überhaupt daran zu denken, dass es jemanden gab, der all das geschrieben hatte. Unsere heilige Schrift war 28 Seiten lang und durchgehend vierfarbig illustriert.

In dem Jahr, in dem der Bau des Parks begann, verbrachten wir den Sommer damit, im Wald über Bäche zu springen, nach echten Exemplaren der Tiere aus dem Buch Ausschau zu halten und auf Bäume zu klettern, um wie der Rabe auf dem Cover vor der Sonne die Schwingen auszubreiten. Meine Mutter half mir, Flügel aus Karton auszuschneiden und Griffe für meine Arme anzukleben. Mein Vater besorgte die Farbe, um das Gebastelte schwarz anzumalen. Keiner von ihnen hatte damit gerechnet, dass ich wirklich versuchen würde zu fliegen, doch das nächste Mal, dass ich mit den anderen Kindern unterwegs war, suchten wir gemeinsam den höchsten Baum in der Nachbarschaft.

Noah war zu diesem Zeitpunkt noch einer unter vielen, nur eines von Dutzenden Kindern, die manchmal beim Spielen dabei waren und manchmal nicht. Heute hängen die Fotos von unseren Parkausflügen noch immer am Kühlschrank, doch damals wusste ich wahrscheinlich nicht einmal seinen Namen. Dass wir Fans desselben Buchs waren, genügte als Gemeinsamkeit. Unsere Eltern verband, dass sie Abend für Abend dieselbe Geschichte vorlesen mussten.

Rabe im Wald beginnt damit, dass ein einsamer kleiner Rabe orientierungslos im Wald umherirrt. Man erfährt nicht, woher er kommt, aber schon die erste Begegnung zeigt, dass er noch nie ein anderes Tier getroffen hat. Als er an einem Teich einen Frosch sieht, begreift er nicht, dass zwei Tiere im selben Wald so unterschiedlich aussehen können. Trotzdem freunden beide sich an, und schon bald wird Rabe nach Corona eingeladen – eine kreisrunde Stadt auf einer Lichtung, in der es niemals dunkel wird.

Meine Mutter erklärte mir damals, was das Wort bedeutet: Strahlenkranz. Ein Name für den leuchtenden Ring, den man während einer Sonnenfinsternis sehen kann. Für goldene Kronen mit abstehenden Zacken oder einen Heiligenschein. Rund und strahlend, in alle Richtungen. Natürlich ist die Corona auch Teil der Sonne selbst.

Sie stand hoch am Himmel, als sich die Kinder um den Baum versammelten, den wir ausgesucht hatten. Ich schnallte mir meinen Schnabel um, einen gelb angemalten Plastikbecher mit Gummiband, und fing an zu klettern. Meine Spielkameraden errichteten indessen einen Haufen aus trockenem Gras und Buschwerk, auf dem ich landen sollte. Schnell waren sie nur noch farbige Flecken am Waldboden. Grüne Frösche, orange Füchse, braune Bären und Hasen, wild mit den Armen wedelnd, während ich immer höher stieg. Ich rutschte auf einen Ast und sah in Richtung Sonne.

Das Gute ist, wenn man in so einem Moment geblendet wird, muss man nicht sein bisheriges Leben an seinem Auge vorbeiziehen sehen. Das Schlechte ist, dass man so auch nur eingeschränkt in der Lage ist, die Landung zu zielen.

Trotzdem breitete ich die Flügel aus. Und sprang.

In den Jahren danach haben Noah und ich alle Attraktionen des Parks kennengelernt, vom Käfer-Chaos-Autoscooter bis hin zur gewaltigen Lunaphobia, doch der Adrenalinrausch war nie größer als bei meinem ersten freien Fall.

Ich landete auf den Füßen, rammte mir das Gesicht gegen die Knie und rollte auf die Seite. In meiner Erinnerung schreien nur die anderen Kinder, die meisten liefen sofort davon. Eine Sekunde, zwei, drei, dann bemerkte ich den Knochen, der aus meinem linken Bein ragte, und stimmte in das Geschrei mit ein. Meine Hose färbte sich, dunkel im Schritt, rot um die Knie, und noch mehr Kinder nahmen Reißaus.

»Vielleicht solltest du lieber wegschauen«, hörte ich die Stimme eines Jungen.

Verschwommen sah ich, dass er der Einzige war, der bei mir geblieben war. Zwischen mir und dem verfehlten Grashaufen stand Noah.

Als Rabe nach Corona kommt, wird er sofort von den anderen Tieren begrüßt. Die Zeichnungen zeigen humanoide Tiere, alle gleich groß, Specht wie Bär wie Eichhörnchen. Sie alle freuen sich über den neuen Nachbarn, Rabe zieht sofort in eines der vielen gelben Häuser in der Stadt. Warum in Corona so viele Häuser leer stehen, wird nicht erklärt. Dass dort immer die Sonne scheint, muss man beim Lesen einfach hinnehmen. Die Bücher sind nicht perfekt, aber immerhin haben sie nie jemanden getötet wie der Park.

Offensichtlich habe ich den Sturz überlebt und kann heute wieder laufen. Als ich jedoch schreiend und weinend unter der Sommersonne am Rand unseres Dorfs lag, sah Noah keine andere Möglichkeit, mich zu meinen Eltern zu bringen, als mich zu ziehen. Er griff nach den Enden meiner Flügel und begann, mich durch den Wald zu schleifen.

Macht das nicht zu Hause nach. Macht das am besten überhaupt nicht nach.

Jede noch so kleine Erhebung im Waldboden erschütterte meine Beine, jedes Loch und jeder Stein auf dem Weg ließ mich mehr in meinen zerdrückten Plastikschnabel schreien. Schon bald rissen die Flügel, und Noah zog mich an meinen Handgelenken. Wir sahen keine Tiere auf diesem Ausflug.

Ich weiß nicht, ob meine Schreie weit genug zu hören waren oder ob ein paar der anderen Kinder ihre Eltern informiert hatten, aber schließlich kamen uns Erwachsene entgegen. Sie trugen mich nach Hause, ohne weitere Erschütterungen, sie riefen einen Krankenwagen und redeten beruhigend auf mich ein. Erst hier gelang es mir, das Bewusstsein zu verlieren.

Als ich wieder erwachte, waren die Knochen gerichtet, die OP erfolgreich und ich in einem Krankenhausbett in einer Nachbarstadt. Sobald die Schwellungen abgeklungen waren, wurden meine Beine in Gips und Schienen gepackt. Ich verbrachte vier Wochen im Krankenhaus. Und sobald ich Besuch empfangen durfte, klopfte ein kleiner Junge an der Tür. Er trug kein Tierkostüm, doch unter seinem Arm klemmte Rabe im Wald, und er wollte wissen, wie es mir ging.

Und so habe ich Noah kennengelernt.

Wir kannten das Buch auswendig, doch jedes Mal, wenn er mich besuchte, brachte er es mit. Wir lasen gemeinsam, wie Rabe sich über den buschigen Schwanz des Eichhörnchens wundert. Wie er lernt, dass Frosch sich gern im Wasser aufhält und sein Ruf eine Meile weit zu hören ist. Dass Specht mit seiner langen Zunge Insekten aus den Bäumen in der Umgebung saugt. Ohne es zu merken, lernten auch wir eine Menge über den Wald und ein halbes Dutzend seiner Bewohner.

Mein Großvater war damals Förster im Dorf und bestätigte mir später, dass all die Angaben im Buch der Wahrheit entsprachen. Arne Guðmundsson, der Autor, hatte sich keine Fehler erlaubt. Sein Buch war so lehrreich wie unterhaltsam.

Nachdem ich nach Hause entlassen wurde, kam Noah weiter regelmäßig vorbei. Ich musste fast drei weitere Monate im Bett liegen – wahrscheinlich vor allem, weil meine Eltern zu besorgt um ihre einzige Tochter waren, nicht aufgrund ärztlicher Empfehlungen. Doch obwohl ich so auch das Ende des Sommers in meinem Zimmer verbrachte, hätte die Zeit spannender kaum sein können. Es war knapp eine Woche vergangen, da stürmte Noah in mein Zimmer.

»Sie bauen einen Park!«, rief er und warf mir eine Zeitung entgegen. Wir waren noch nicht einmal eingeschult und konnten das Rabe-Buch nur lesen, weil wir den Inhalt so oft gehört hatten, doch Noahs Mutter hatte ihm alles Wichtige aus dem Artikel erklärt.

»Einen echten Vergnügungspark! Mit Achterbahn und Karussell! Alles Mögliche! Weil der, der das Buch geschrieben hat, der hat hier gewohnt!«

Ein Foto neben dem Artikel zeigte zwei Männer, die sich die Hand geben, zwischen ihnen ein Spaten im Boden. Links stand Guðmundsson, der Autor und Zeichner von Rabe im Wald. Rechts ein Mann im Anzug, dem der entstehende Park gehören sollte. Jasper Bellmore, der bald darauf Bellmore Studios gründen würde, fast 30 Jahre jünger als heute und mit zusammengekniffenen Augen gegen die Sonne.

Heute weiß ich, dass ein großer Teil des Parks bereits fertiggestellt war. Das Land nördlich unseres Dorfs wurde Jahre im Voraus vorbereitet, es wurden Straßen gebaut und Wasser- und Stromleitungen verlegt. Und während ich bewegungsunfähig in meinem Bett neben dem Fenster lag, während draußen der Sommer endete und der Herbst begann, sahen Noah und ich mit an, wie in Sichtweite meines Elternhauses der Rest hinzugefügt wurde. Von meinem Kinderzimmer aus verfolgten wir mit, wie Kräne errichtet wurden und nach und nach die ersten Attraktionen wuchsen. Der Park begann klein, die Fahrgeschäfte, die vom zweiten und dritten Rabe-Buch inspiriert wurden, kamen erst später. Trotzdem war zu dieser Zeit nichts interessanter als die Entstehung von Corona Kingdom.

 

Wir saßen am Fenster wie Raffaels Engel, unsere Madonna waren ferne Stahlkonstruktionen, die sich nach und nach als Achterbahnen und Freifalltürme entpuppten. Ich hatte genug von freiem Fallen, doch unsere Aufregung ließ sich nicht dämpfen.

Was ich auch erst heute weiß, ist, dass der Bau nur so schnell vonstattenging, weil Bellmore keine Genehmigungen dafür einholen musste. Wie Walt Disney 1967 setzte er vor Gericht durch, dass sein Land als Kommune gilt, die von seiner Firma verwaltet werden darf. Wie das Reich der Maus in Florida und viele andere Privatunternehmen, die ihrem Umland Vorteile verheißen, ist sein Park ganz offiziell eine Stadt, die über ihre eigene Polizei, Rechtsprechung und sonstige Bürokratie entscheiden kann. Was die Verträge erklärt, mit denen es der Belegschaft später schwer bis unmöglich gemacht wurde, einfach zu kündigen. Doch noch wollte niemand weg. Wir wollten endlich hinein!

Als wir sechs und meine Beine wieder geheilt waren, wurde der Park endlich eröffnet. Noah und ich hatten unsere Eltern belagert, seitdem wir das Datum wussten. Je näher der Termin rückte, umso mehr Lieferwagen fuhren durch unser Dorf. Wir konnten nicht sehen, was darin war, doch in unserer Fantasie waren die Wagen randvoll mit Popcorn und Zuckerwatte. Würde man die großen Ladeluken öffnen, kämen einem Luftballons und Kuscheltiere entgegen. Ein Tankwagen, der ziemlich sicher Tausende Liter Cola enthielt, entwurzelte einen Baum im Stadtzentrum, doch Noah und ich jubelten, als er an meinem Haus vorbei in Richtung Park fuhr. Dann war der Tag endlich gekommen.

Am Ende des ersten Rabe-Buches feiern die Bewohner und Bewohnerinnen von Corona ein großes Fest zu Ehren ihres neuen Freundes. Die Tiere singen, tanzen und essen Kuchen. Auf dem Platz in der Mitte der Stadt errichten sie ein großes Lagerfeuer und grillen Nüsse an langen Stöcken. Rabe umarmt jeden seiner neuen Nachbarn und dankt ihnen für den warmen Empfang. Und obwohl weiter die Sonne scheint, geht er mit einem Lächeln auf dem Schnabel schlafen.

Bei der Eröffnungsfeier von Corona Kingdom gab es weder Feuer noch Grillnüsse, trotzdem waren Tausende Menschen aus der Region gekommen. Nicht nur so gut wie alle Leute aus unserem Dorf, auch Kinder aus anderen Orten liebten Rabe im Wald und waren gespannt auf den Park. Meine Eltern kauften mir meine erste Rabe-Mütze, schwarz mit großen Cartoon-Augen und gelbem Schirm, und Noah aß Softeis, bis er Bauchschmerzen hatte. Wir ließen uns die Gesichter bemalen. Wir trauten uns auf die kleine Rabenflug-Achterbahn und fieberten der Parade entgegen, die für das Ende der Feier angekündigt war. Zu Feuerwerk und lauter Musik betraten schließlich die sieben Tiere den Platz, überlebensgroß und um ein Vielfaches beeindruckender als die unbewegten Bilder aus dem Buch. Sie winkten der Menge zu, und ich war mir sicher, Rabe hatte mich direkt angesehen. Von diesem Moment an war es um uns geschehen.

Jahrzehnte später erzählte Sonja mir von Themistokles. Laut dem Athener Feldherrn beherrschte sein Sohn seine Frau, seine Frau ihn, und er beherrschte das ganze antike Griechenland, letztendlich hatte sein Sohn also das Sagen über ein ganzes Weltreich. Etwa zwei Jahrtausende danach versuchte Hitler, Kinder für seine Ideologie zu gewinnen, um sie als Erwachsene auf seiner Seite zu haben. Wer die Jugend hat, hat die Zukunft. Und Bellmore hatte uns.

Woche für Woche sparten Noah und ich unser Taschengeld, um uns weitere Parkbesuche leisten zu können. Unsere Wünsche zu Geburtstagen und Weihnachten waren jahrelang nichts anderes als Eintrittskarten für Corona Kingdom. Als wir alt genug waren, halfen wir Nachbarn im Haushalt und Garten, um etwas dazuzuverdienen. Wenn Noah bei mir übernachtete, saßen wir die ganze Nacht am Fenster und beobachteten die Lichter im nahen Park, der auch geschlossen beleuchtet blieb.

Die zwei anderen Rabe-Bücher erschienen, und der Park wurde um weitere Attraktionen erweitert. Noah und ich fuhren sie alle. Wir warfen die Arme in die Luft und verloren den Inhalt unserer Jackentaschen, wir übergaben uns und stellten uns noch mal an. Und seitdem man Fotos von sich während der Fahrt kaufen konnte, sammelten sich unzählige Bilder von uns an den Kühlschränken unserer Eltern.

Abwärts rasend am Ende von Eulenflug.

Abwärts rasend nach dem ersten Lunaphobia-Looping.

Mit weit aufgerissenen Augen, schreiend, lachend, jedes Bild einmal in meiner Küche und einmal in Noahs. Wer uns aufwachsen sehen wollte, fand hier alles auf einen Blick.

Und je länger wir den Park erkundeten, umso mehr gab es zu entdecken. Wir sahen frei laufende Wildkatzen hinter Büschen und im Schatten unter den Fahrgeschäften. Wir bemerkten, wohin die Angestellten verschwanden, wenn Paraden vorbei waren oder nachdem sie Müll aufgesammelt hatten. Heimlich folgten wir den Kostümierten. Hinter ein paar Dekobäumen fanden wir den Eingang zu einem System von Tunneln unter dem Park. Am Eingang, gerade so sichtbar durch eine halb offene Tür, standen Hase und Bär. Ihre großen Köpfe lagen auf dem Boden, aus den flauschigen Tierkörpern ragten kleine Menschenköpfe. Sie führten Zigaretten an den Mund und bliesen den Rauch durch den Türspalt in den Park hinaus.

Mir war schon lange klar gewesen, dass es sich bei den Figuren nicht wirklich um riesige Tiere handelte, doch bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich sie einfach hingenommen. Die Magie von Vergnügungsparks. Jetzt standen zwei von ihnen vor mir, in ihrem Innern echte Menschen wie Noah und ich.

Die Mitarbeiterin im Hasenkostüm lachte über irgendeine Bemerkung ihres Kollegen, dann fiel ihr Blick auf uns. Mit geweiteten Augen knallte sie die Tür ins Schloss. Inzwischen weiß ich: Wenn Bellmore erfahren hätte, dass eine Darstellerin unzureichend kostümiert von einer Besucherin gesehen worden war, wäre ihr die nächste Woche die Reinigungsschicht sicher gewesen. Die Kundschaft soll nicht daran erinnert werden, dass im Park auch jenseits der Kassen und Restaurants nur Menschen arbeiten. Das Wichtigste ist, die Magie aufrechtzuerhalten.

Für mich hat der kurze Blick hinter die Kulissen nichts zerstört, im Gegenteil. Mein Lieblingsort auf der ganzen Welt war genauso toll wie zuvor. Nur dass man dort auch arbeiten konnte, eröffnete ganz neue Möglichkeiten. Und nicht nur als Bär oder Hase, da war ich mir sicher. Ich hatte meinen Traumberuf gefunden. Wann auch immer Erwachsene in den nächsten Jahren mich fragten, meine Antwort war klar.

Wenn ich groß bin, will ich Rabe werden.

4

Wir stehen im Schatten der gewaltigen Lunaphobia, und während neben uns ein Zug mit zwei Dutzend Fahrgästen durch einen Looping rauscht, dreht sich Donnie in meine Richtung und öffnet den Mund. Er wartet, bis die Schreienden weitergefahren sind, doch mir ist schon jetzt klar, was er sagen will.

»Weißt du, wieso es hier keine Hüpfburgen gibt?«

Ich weiß es, aber ich kann nicht antworten, weil Kundschaft an uns vorbeispaziert. Eine Gruppe kleiner Mädchen in neu gekauften Raben- und Schwanenkleidern und passenden Plastikmasken winkt mir zu, und ich winke zurück, dann verschwinden sie im nächsten Fast-Food-Restaurant.

»Aufblasbare Attraktionen haben die höchste Unfallrate überhaupt«, sagt Donnie und wühlt in seinem Werkzeugkasten. »Die Leute haben Angst, dass ihre Achterbahn entgleist oder sie aus der Schiffschaukel fallen, aber nirgends verletzen sich so viele Menschen wie in Hüpfburgen.«

Ich kenne all die Beispiele, doch solange ich das Rabenkostüm trage, muss ich in Anwesenheit der Kundschaft stumm sein. Wir befinden uns hinter Lunaphobia, am Eingang des Corona Kinderkarussells, wo nachmittags nur noch wenige Leute hinfinden, trotzdem darf aus dem Kostüm keine Stimme zu hören sein. Ein fremder Akzent könnte die Leute verunsichern. Eine Stimme, die nicht zum dargestellten Tier passt, könnte die ganze Illusion zerstören. Das Gute ist, dass man so auch nicht auf irgendwelche Fragen antworten muss.

Donnie trägt die Uniform des Parkpersonals, schwarz mit gelbem Saum an Ärmeln und Kragen. Auf seinem Rücken prangt das Parklogo. Er kann nichts dagegen tun, dass er immer wieder angesprochen wird.

»Wo finde ich denn das Dornröschenschloss?«, fragt ein rundlicher Mann in einem »Hard Rock Café Corona«-Shirt. Donnie klärt ihn darüber auf, dass er sich vermutlich im falschen Park befindet, dann wendet er sich wieder an mich.

»Jedes Jahr fliegen aufblasbare Attraktionen davon, weil sie nicht ordnungsgemäß befestigt wurden. 1986 wurden 13 Leute verletzt und eine Neunjährige getötet, als eine Hüpfburg in Wyoming gegen ein anderes Fahrgeschäft flog. 2007 segelte auf Hawaii eine Hüpfburg fast zehn Meter in die Luft und landete 50 Meter entfernt im Meer. Die Kinder darin waren zwei und fünf Jahre alt.«

Bevor er sagen kann, dass die Kinder gerettet wurden und überlebt haben, nähert sich der nächste Lunaphobia-Zug. Donnie widmet sich wieder den Reparaturarbeiten am Karussell. Ich neige mich zurück, um durch den Schnabel des Rabenkopfs nach oben zu sehen. Der Zug rauscht durch den Looping, die Gäste schreien aus Freude, aus Angst, aus Gewohnheit, und während sie mit 80 km/h um die nächste Kurve verschwinden, segeln unbemerkt ihre Habseligkeiten in die Tiefe. Handys und Schlüssel, Brillen und Parkgeld – sobald die Pforten wieder geschlossen sind, dürfen wir unter allen Attraktionen aufsammeln, was die Kundschaft verloren hat und schon bald vermissen wird.

Donnie wischt sich das schwarze Haar aus der Stirn und grinst mich an.

»Ich weiß genau, was du denkst«, sagt er. »Aber du hast schon letztes Mal alle Schokosonnen bekommen, die wir gefunden haben. Und die Tüte Gummiraben! Heute bin ich an der Reihe!«

Dass hier immer die Sonne scheint, heißt nicht, dass es nicht täglich Süßigkeiten regnet.

»2001 wurde eine Hüpfburg in Form einer Giraffe von einem Wirbelwind davongetragen«, fährt er fort, als wäre nichts gewesen. »In Australien war das. Ein Todesopfer, 15 Verletzte. In Ungarn flog 2007 eine Hüpfburg 30 Meter weit, prallte gegen einen Zaun und tötete einen achtjährigen Jungen.«

Während Donnie weitere Unfallopfer aufzählt, beginne ich zu tanzen. Die Leute sollen unterhalten werden. Wenn ich das Kostüm trage, kann ich nicht einfach regungslos rumstehen, es muss immer etwas geboten werden. Eine Gruppe junger Männer kommt die Straße entlang und kann nicht anders, als sich mir anzuschließen. Sie lachen und nehmen mich in ihre Mitte, grinsen für ein Foto und sind auch schon auf dem Weg zur nächsten Attraktion. Für den Fall, dass Bellmore vorbeikommt, gehe ich ein paar Schritte auf und ab. Wer morgens die Neuankömmlinge begrüßt, soll sich den Rest des Tages frei im Park bewegen und dafür sorgen, dass die Kundschaft gut gelaunt bleibt. Trotz des heißen, schweren Kostüms ist es eine der angenehmeren Schichten. Immerhin muss man nicht lächeln.

Eine ältere Dame macht ein Bild von mir, dann geht sie auf Donnie zu.

»Entschuldigen Sie, junger Mann, arbeiten Sie hier?«

»Was hat mich verraten?«, sagt er und steht auf. »Es war mein strahlendes Lächeln, oder? Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Können Sie mir sagen, wann die Halloweenparade beginnt?«

Er schaut auf seine Armbanduhr, dann wieder in das Gesicht der Frau. Soweit ich es beurteilen kann, hält er alle von Bellmores Regeln ein. Wenn ein Gast uns etwas fragt, müssen wir ihm direkt in die Augen sehen. Für ein Gespräch mit Kindern müssen wir auf ein Knie gehen. Jede noch so dumme Frage muss ernst genommen und mit einem Lächeln beantwortet werden.

»Nun, es ist April, also würde ich sagen, Sie haben vor der Parade noch etwa ein halbes Jahr, um all unsere anderen Attraktionen zu genießen.«

Er lacht, und für einen Moment hört man nur das Rattern und Kreischen der Achterbahn neben uns. Dann lacht auch die Besucherin. Sie bedankt sich und verschwindet in Richtung Geisterhaus. Vielleicht wird sie unserem König Bericht erstatten, ob Donnie alles richtig gemacht hat – wir müssen immer damit rechnen, dass wir es mit Bellmores Schatten zu tun haben, mit getarnten Angestellten, die heimlich für ihn testen sollen, ob unsere Interaktion mit der Kundschaft zufriedenstellend ist. Mystery Shopping, um zu prüfen, ob unsere Mundwinkel nach oben zeigen und wir artig Bitte und Danke sagen. Vielleicht war sie nur eine ganz normale Parkgästin.

Donnie hat sein Dienstlächeln schon wieder abgelegt und schraubt weiter. Als Mechaniker hat er nur diese eine Schicht, Reparatur und Wartung, Tag für Tag, und irgendwas ist immer kaputt oder muss geölt, nachjustiert, neu kalibriert werden. Während er den Grund dafür sucht, dass das Karussell einfach aufgehört hat, sich zu drehen, erzählt er weiter von der einen Attraktion, die man nicht mit Werkzeug und einer Ingenieursausbildung davon abhalten kann, Kinder zu verletzen oder zu töten.

 

Einen Dreijährigen im Indoor-Spielplatz Hoppin’ Houses zum Beispiel. 2007 in Washington von herumspringenden Erwachsenen zerdrückt.

Einen Fünfjährigen im kroatischen Magic City-Parkour mit aufblasbaren Hindernissen, Kletternetzen und Ballgruben. 2010 von Seilen stranguliert.

Dutzende, vielleicht Hunderte, die von der aufblasbaren Titanic-Rutsche gefallen sind – in Kanada, Schottland, Spanien und unzählige weitere Male überall auf der Welt. Donnie muss lachen, als er einmal mehr davon erzählt.

»Eine der größten Katastrophen der Schifffahrt als Vorbild für die vielleicht gefährlichste Attraktion, die es gibt. Als bräuchten Vergnügungsparks noch weitere Erinnerungen daran, dass man in ihnen ihr Leben riskiert!«

Und der nächste Lunaphobia-Zug schießt an uns vorbei.

Es sind keine anderen Menschen in Sichtweite, also neige ich meinen riesigen Rabenkopf in Donnies Richtung und erinnere ihn daran, dass so etwas hier nie passiert ist. Die Hüpfburg, die einst angeschafft wurde, ist nie aufgestellt worden. Unsere Paintball-Arena wurde aufgrund von Sicherheitsbedenken doch nicht eröffnet. Corona Kingdom ist seit der Eröffnung absolut unfallfrei. Das hier ist nicht Avalanche Rocks.

Donnie schnaubt verächtlich und will etwas erwidern, da bleibt sein Blick in der Ferne hängen. Ich drehe mich um und sehe, was ihn zum Schweigen bringt. Jasper Bellmore wagt sich einmal mehr aus seinem Büro hoch über dem Park und spaziert inmitten der Kundschaft umher. Zeit, die perfekte Mitarbeiterin zu geben.

Ich schlendere die Straße entlang, als hätte ich nicht die letzte Stunde neben Donnie rumgestanden und gehofft, es würde niemand vorbeikommen. Wenn Bellmore eine seiner Erkundungstouren durch sein Königreich macht, müssen wir uns alle von unserer besten Seite zeigen. Wenn er mitbekommt, dass eine seiner Regeln nicht eingehalten wird, sind uns Überstunden, Zusatzaufgaben und die unbeliebtesten Schichten sicher. Niemand wird jemals entlassen. Wir sind eingesperrte Tiere. Wie die Raben im Tower of London, deren Flügel gestutzt werden, weil Großbritannien untergeht, wenn sie je davonfliegen. Selbst Aram musste nicht gehen, nachdem er am Sonnentor für Aufruhr gesorgt hat. Stattdessen darf er die nächsten Wochen das Unkraut aus den Fugen in den Gehwegen kratzen. Nachts natürlich, damit keiner sieht, welche Verhältnisse hier herrschen.

Es ist nicht so, als hätte nie jemand versucht, einfach zu gehen. Bellmore hat sich nur gegen jede Eventualität vertraglich abgesichert. Er bürgt für die meisten Häuser und Wohnungen seiner Angestellten. Viele von uns könnten obdachlos werden, wenn wir kündigen. Er hat das Recht, unser Gehalt zu kürzen, wenn der Park wegen Streiks der Belegschaft weniger einnimmt. Er hat genügend Kontakte zur Presse, dass er jeden Versuch, die Öffentlichkeit auf die Missstände aufmerksam zu machen, verhindern kann, bevor auch nur ein Wort gedruckt wird. Mit alldem im Hinterkopf werden die Schichten, in denen man nicht lächeln muss, noch mal angenehmer.

Ich gebe ein paar Autogramme auf Rabe-Büchern, Lageplänen und frisch gedruckten Fotos von Achterbahnfahrten. Bellmore streift indessen mit dem Finger über die Rückenlehne einer Bank am Wegrand und betrachtet seine Fingerkuppe.

Wie weit ich auch gehe, neben mir erstreckt sich weiter Lunaphobia. Die violette Stahlkonstruktion ist von jedem Punkt des Geländes aus zu sehen. Die Schreie aus den Zügen hallen bis auf die Parkplätze vor dem Eingang. Die kolossale Achterbahn ist die bekannteste Attraktion des Parks und hält mehrere Weltrekorde. Größer als Kingda Ka in New Jersey. Schneller als Formula Rossa in Abu Dhabi. Drei Loopings und unzählige steile Abfahrten sorgen dafür, dass wir nach Feierabend nicht nur Mützen und Stifte zwischen den Stützpfeilern finden, sondern auch ein Best-of des gastronomischen Angebots des Tages.

Und unser Feiertagsbonus besteht aus Gutscheinen für Burger und Orangen-Coronade.

Ich umarme ein kleines Mädchen, zwischen dessen Fingern irgendeine neue Köstlichkeit des Parks auf den Boden trieft, dann steht mir plötzlich Bellmore gegenüber. Durch den Schnabel des Kostüms sehe ich nur seinen Anzug und seine Krawatte.

»Sei gegrüßt, Rabe«, sagt er. »Ist es nicht herrlich in der Sonne? Ein Tag, den man einfach im Freien verbringen muss!«

Dass in seiner Stimme keinerlei Freude mitklingt, liegt vor allem daran, dass ihm das Wetter egal ist. Bellmore benutzt verschlüsselte Sätze, um uns Anweisungen zu geben, ohne dass die Kundschaft es mitkriegt. Ich muss unweigerlich an meine Eltern denken. Zwischen den Zeilen gibt er mir zu verstehen, dass ich mich mehr auf den größeren Plätzen im Park aufhalten soll. Die Hauptfigur soll nicht nur zu sehen sein, wenn man zufällig am defekten Karussell vorbeispaziert.

Ich nicke und breite die Flügel aus. Das heißt: Verstanden. Das heißt: Ich mache mich sofort auf den Weg. Würde ich mit Worten reagieren, wäre mir zumindest eine Ermahnung sicher. Ohne eine weitere Bemerkung spaziert der alte Mann weiter. Während er auf Donnie zugeht, nähern sich die Fahrgäste auf Lunaphobia dem höchsten Punkt der Strecke. Am Ende des Lifthills erwartet sie ein 90°-Drop 130 Meter in die Tiefe.

»Ich will hier raus!«, schreit irgendein Kind, dann vereinen sich alle Stimmen zu einem weiteren Kreischkonzert.

Mein Weg führt mich bis an den Ausgang der Achterbahn. In wenigen Minuten werden zwei Dutzend Benommene aus der Station strömen, schwindelig von den g-Kräften der Fahrt, euphorisch vom Adrenalin und den Endorphinen, die ihre Körper in Antwort auf das intensive Erlebnis ausgeschüttet haben. Die Hälfte der Leute wird zum Stand neben dem Ausgang pilgern, wo auf großen Bildschirmen die Fotos ihrer Fahrt angezeigt werden, die sie dann bei Sonja kaufen können. Vorerst ist nur ein Gast bei ihr. Er wedelt mit einem Lageplan des Parks.

»Aber wie soll ich wissen, wo ich bin, wenn kein Pfeil mir meinen Standort anzeigt?«

»Es tut mir sehr leid«, antwortet sie lächelnd. »Derzeit können wir dieses Feature auf unseren Papierbroschüren leider noch nicht anbieten. Wenn Sie Abonnent unseres Newsletters sind, werden Sie natürlich informiert, sobald unsere Druckerei diese Möglichkeit bereitstellt.«

»Das hoffe ich doch!«, ruft er und stürmt davon. Ich nehme seinen Platz ein.

»Ein weiterer Kunde befriedigt«, sagt sie, wieder mit ihrer tieferen, normalen Stimme. »Und was kann ich für dich tun? Willst du ein Foto kaufen? Heute im Angebot: Kinder, die gerade so das Mindestalter und die Größenbeschränkung erfüllen und jetzt um ihr Leben fürchten, und junge Gentlemen, die sich den Mund zuhalten, um nicht ihre Begleitung vollzuspeien.«

Ich bestelle eine gelangweilte Blondine, die nach ihrer Schicht Zeit für einen gemeinsamen Abend hat, und ernte ein Lächeln. Sie streicht ihr Haar hinters Ohr, und ich sehe all die Löcher, in denen sie sonst ihre Ohrringe trägt. Bellmore verbietet uns Piercings jeglicher Art. Sonjas Tattoos müssen komplett verdeckt sein. Donnies Haarlänge ist hart an der Grenze für männliche Mitarbeiter. Auch er gesellt sich an den Fotostand. Seinen Werkzeugkasten stellt er auf den Boden. Offenbar ist das Karussell repariert.

»Ein Teenager in Texas hat 2009 versucht, in einer Hüpfburg einen Salto rückwärts zu machen«, sagt er. »Ist auf dem Kopf gelandet und war monatelang gelähmt.«