Buch lesen: «Definitheit im Deutschen und im Chinesischen»

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Tingxiao Lei

Definitheit im Deutschen und im Chinesischen

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0049-6


Inhalt

  Danksagung

 1 Einleitung1.1 Gegenstand1.2 Aufbau der Arbeit1.3 Quellen der Beispiele sowie Angaben zum Transkriptionssystem

 2 Definitheit und verwandte Konzepte2.1 Referenz2.1.1 Referentielle und nicht-referentielle NPn2.1.2 Nicht-referentielle NPn im Deutschen2.1.3 Nicht-referentielle NPn im Chinesischen2.2 Spezifizität2.3 Generizität2.3.1 Generische NPn und generische Sätze2.3.2 Generische NPn im Deutschen und im Chinesischen2.4 Definitheit2.4.1 Verwendungsweisen des definiten Artikels2.4.2 Was ist Definitheit?2.5 Fazit

 3 Definitheit im Deutschen3.1 Definiter Artikel3.2 Demonstrativdeterminativ3.2.1 Gebrauchskontexte von Demonstrativa3.2.2 Unterscheidung zwischen definitem Artikel und Demonstrativdeterminativ3.3 Possessivdeterminativ3.4 Quantifizierende Determinative all- und jed-3.5 Exkurs: Der indefinite Artikel3.5.1 Der kategoriale Status von ein3.5.2 Ein auf dem Weg der Grammatikalisierung3.6 Fazit

 4 Definitheit im Chinesischen4.1 Der aktuelle Forschungsstand4.1.1 Li & Thompson (1975, 1978, 1981)4.1.2 Y.-Z. Shi (2002)4.1.3 LaPolla (1990, 1995)4.1.4 Chen (2004)4.2 Wortstellung und Definitheit4.2.1 Informationsstruktur4.2.2 Positionen, die definite/indefinite NPn präferieren4.3 Fazit

 5 NP-Formen im Chinesischen und Definitheit5.1 NPn mit Demonstrativa5.1.1 Gebrauchsweisen von Demonstrativa im Chinesischen5.1.2 Artikelähnliche Verwendungen von Demonstrativa5.2 NPn mit Pers+de5.3 Allquantifizierte NPn5.4 Yi+Kl+N5.4.1 Verwendungsweisen von yi5.4.2 Yi+Kl+N, das als definit interpretiert wird5.5 Indeterminierte NPn5.5.1 Bloße NPn5.5.2 Num+Kl+N5.6 Fazit

 6 Empirische Untersuchung6.1 Pers+de+N und Poss+N6.1.1 Gebrauchskontexte von Pers+de6.1.2 Belege für possessive NPn im Ausgangstext6.1.3 Belege für Poss+N in der Übersetzung6.2 Dem+Kl+N und Dem+N6.2.1 Belege für Dem+Kl+N im Ausgangstext6.2.2 Belege für Dem+N im Zieltext6.3 Yi+Kl+N und ein+N6.3.1 Yi+Kl+N, das auf identifizierbare Entitäten referiert6.3.2 Belege für ein+N und ihre Entsprechungen im Ausgangstext6.4 Num+Kl+N6.5 Fazit

  7 Schlusswort

  Abkürzungsverzeichnis

  Angaben zu Autor, Titel und Übersetzung der einzelnen Korpustexte

  Literaturverzeichnis

Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2016 von der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen. Für die Publikation wurde die Arbeit geringfügig überarbeitet.

An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei allen Personen und Institutionen bedanken, die mich im Forschungsprozess begleitet und gefördert haben:

Mein Dank gilt an erster Stelle meiner Doktormutter Frau Prof. Dr. Karin Pittner für die freundliche Überlassung des Themas, für die hervorragende und stets engagierte wissenschaftliche Betreuung und den immerwährenden und inspirierenden Optimismus auch in schwierigen Phasen dieser Arbeit.

Zudem danke ich Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz H. Menge für die hilfsbereite und wissenschaftliche Betreuung als Zweitgutachter. Seine Anmerkungen und kritischen Kommentare haben zum guten Gelingen dieser Arbeit beigetragen.

Herrn Thomas Beckmann danke ich für das sorgfältige Korrekturlesen und für vielfältige Anmerkungen und Hinweise.

Mein besonderer Dank gebührt Herrn Tillmann Bub für die ausgezeichnete redaktionelle Betreuung des Publikationsprozesses.

Bei dem China Scholarship Council bedanke ich mich herzlich für die finanzielle Förderung über die gesamte Entstehungszeit der Dissertation. Weitere Unterstützung lieferte die VG Wort, indem sie einen großzügigen Druckkostenzuschuss für die Publikation des vorliegenden Buches gewährte.

Schließlich und nicht zuletzt möchte ich meinem Mann Yingbin ganz herzlich danken – dieser Dank gilt nicht nur seinen wertvollen Hinweisen und Ratschlägen für die Bearbeitung meines Themas, sondern auch seiner unermüdlichen Unterstützung während der gesamten Promotionszeit.

1 Einleitung
1.1 Gegenstand

Definitheit ist ein Begriff, der in den Sprachwissenschaften eng mit der Verwendung des Artikels verbunden ist. In Artikelsprachen werden Nominalphrasen (im Folgenden abgekürzt als NP) mit definitem oder indefinitem Artikel als prototypische Beispiele für definite und indefinite NPn angesehen. Es ist jedoch umstritten, welche Rolle Definitheit in Sprachen ohne Artikel spielt bzw. wie sie ausgedrückt wird. Es ist zu bemerken, dass im Chinesischen eine starke Tendenz besteht, dass das Subjekt definit und das Objekt indefinit ist (Chao 1968). Diese Beobachtung hat zu der Annahme geführt, dass das Fehlen des Artikels im Chinesischen durch Variation in der Wortstellung kompensiert wird, und zwar wird Wortstellung zum Ausdruck von Definitheit verwendet (Li & Thompson 1975, 1978, 1981, im Folgenden als L&T abgekürzt, Shi 2002). Diese Auffassung ist heute allgemein verbreitet, obwohl LaPolla in seiner Dissertation im Jahr 1995 bereits darauf hingewiesen hat, dass die von Chao (1968) beschriebene Tendenz ein Nebeneffekt der Informationsstrukturierung ist. Ein weiteres Mittel, das beim Ausdruck von Definitheit eine wichtige Rolle spielt, sind „Determinative“. Es ist oft zu lesen, dass Demonstrativa, Pers+de sowie yi(+Kl) im Chinesischen Determinativen im Englischen ähneln und eine definite/indefinite Interpretation bewirken. Es wird vielfach versucht, den Zusammenhang zwischen Wortstellung, Determinativen und Definitheit zu beschreiben und daraus Gesetzmäßigkeiten abzuleiten.

Der Ausgangspunkt dieser Arbeit ist zunächst: Definitheit ist als grammatische Kategorie in Sprachen ohne Artikel nicht vorhanden. Dagegen kann Identifizierbarkeit, die ein semantisch-pragmatisches Konzept darstellt und in Sprachen mit Artikel als Definitheit grammatisch realisiert wird, in allen Sprachen zum Ausdruck kommen. Vor diesem Hintergrund ist es von besonderem Interesse, wie Identifizierbarkeit im Chinesischen ausgedrückt wird. Es ist jedoch unmöglich, diese Frage im Rahmen einer einzelnen Arbeit zu beantworten. In der vorliegenden Arbeit rücken folgende Punkte in den Fokus der Untersuchung:

 In der Literatur wird vertreten, dass bestimmte syntaktische Positionen eine Präferenz für definite oder indefinite NPn aufweisen. Es lässt sich jedoch fragen, ob diese Präferenz auf Definitheit zurückzuführen ist.

 Auch wird behauptet, dass Demonstrativa und Pers+de im Chinesischen Definitheit induzieren, während yi(+Kl) eine indefinite Interpretation bewirkt, genau wie die entsprechenden Formen im Deutschen. In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, inwiefern diese Aussage zutrifft oder nicht zutrifft.

 Bekommt der Hörer im Chinesischen Hinweise, um aus der Menge möglicher Referenten einer NP den in der jeweiligen Situation gemeinten Referenten auszuwählen? Wenn ja, welche Hinweise sind das?

Ziel der Arbeit soll sein, die in der Literatur vertretenen Meinungen zu überprüfen und sie um neue Erkenntnisse zu erweitern. Definitheit wird hier aus einer sprachvergleichenden Perspektive untersucht, und zwar aus folgenden Überlegungen heraus: Zuerst ist Definitheit im Deutschen relativ gut erforscht und die dabei gewonnenen Erkenntnisse können wesentlich zum Verständnis von Definitheit im Chinesischen beitragen. Außerdem werden durch den Vergleich mit der deutschen Sprache die Besonderheiten der chinesischen Sprache sichtbar. Ferner wird stets nach Erklärungen gesucht, die nicht nur einzelsprachlich, sondern sprachübergreifend gelten.

1.2 Aufbau der Arbeit

Der Aufbau dieser Arbeit gliedert sich in 7 Kapitel, die zunächst zusammenfassend dargestellt werden:

In Kapitel 2 werden der Begriff Definitheit sowie die mit ihm verwandten Konzepte Referenz, Spezifizität und Generizität erläutert, um terminologische Verwirrungen zu vermeiden und eine theoretische Basis sicherzustellen. In Abschnitten 2.1 bis 2.3 werden zuerst die zugrundeliegenden Theorien kurz dargelegt, dann wird versucht, präzise Kriterien für die Analyse und Interpretation von NPn im Deutschen und Chinesischen aufzustellen, damit die Analyse strukturiert und effektiv durchgeführt wird. In Abschnitt 2.4 wird der zentrale Begriff Definitheit abgegrenzt. Es wird zunächst auf die Verwendungsweisen des definiten Artikels eingegangen, die die Basis von Definitheitstheorien bilden. Dann werden einige Theorien zur Definitheit vorgestellt, die unterschiedliche Gebrauchsweisen des definiten Artikels als Ausgangspunkt wählen.

Kapitel 3 bietet einen Überblick über unterschiedliche Formen von definiten und indefiniten NPn im Deutschen. Im Deutschen wird Definitheit bei NPn mit nominalem Kern (engl. full noun phrases) immer durch definite Determinative markiert, während Indefinitheit einfach durch die Abwesenheit dieser Determinative zum Ausdruck kommt. In diesem Kapitel stehen die Gebrauchsweisen von Determinativen (definiter Artikel, Demonstrativa, Possessiva, Allquantoren, indefiniter Artikel) im Mittelpunkt. Es soll die Frage beantwortet werden, wie sie mit Definitheit bzw. Indefinitheit verknüpft sind.

In Kapitel 4 werden bisherige Forschungsergebnisse zur Untersuchung von Definitheit im Chinesischen kritisch dargestellt und somit Probleme der Diskussion offen gelegt. Es wird oft die These vertreten, dass Definitheit im Chinesischen durch Wortstellung markiert wird. Als Argument wird angeführt, dass einige syntaktische Positionen eine Präferenz für definite oder indefinite NPn aufweisen. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, dass diese Präferenz nicht auf Definitheit zurückzuführen ist, sondern auf das Zusammenwirken von mehreren Faktoren wie z.B. Informationsstruktur, Aspekt, Verbalcharakter usw.

In Kapitel 5 wird ermittelt, wie NPn unterschiedlicher Formen im Chinesischen bezüglich des Merkmals identifizierbar/nicht-identifizierbar interpretiert werden. Dabei erfolgt eine kritische Betrachtung der bisherigen Forschungsergebnisse und sie werden um eigene Ideen ergänzt. Die hier vorgestellten Zwischenergebnisse sollen anhand eines Übersetzungskorpus überprüft und um neue Erkenntnisse ergänzt werden.

Im 6. Kapitel wird eine sprachvergleichende Analyse mit Blick auf die obengenannten Fragen durchgeführt. Die Analyse stützt sich auf ein selbst erstelltes Korpus von 40 Artikeln der Online-Zeitschrift des Goetheinstituts, die ursprünglich auf Chinesisch verfasst und dann ins Deutsche übersetzt wurden.1 Die Untersuchung geht so vor, dass zuerst nach Pers+de+N, Dem+Kl+N, yi+Kl+N im chinesischen Ausgangstext und nach den entsprechenden Formen im deutschen Zieltext (nämlich Poss+N, Dem+N, ein+N sowie ihren verschiedenen Kasusformen) gesucht wird. Dann werden die Ergebnisse miteinander verglichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Sprachen bezüglich des Merkmals „Definitheitsinduktion“ zu bestimmen. Zum Schluss wird versucht, mögliche Ursachen für die Unterschiede zu bestimmen.

In Kapitel 7 sind einige persönliche Bemerkungen und Anregungen für weitere Untersuchungen enthalten.

1.3 Quellen der Beispiele sowie Angaben zum Transkriptionssystem

Die vorliegende Arbeit basiert auf Materialien aus verschiedenen Quellen:

 Beispiele aus Korpora, zu denen

 das selbst erstellte Korpus

 das Deutsche Referenzkorpus (DeReKo) des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache sowie

 das Korpus des Centers for Chinese Linguistics, Peking University (im Folgenden als CCL-Korpus bezeichnet) gehören;

 Beispiele, die aus anderen Arbeiten übernommen werden;

 selbst konstruierte Beispiele.

Chinesische Sätze werden in Pinyin-Umschrift angeboten, wobei die Bezeichnung der Töne einfachheitshalber weggelassen wird.1 Als nächstes kommt die Wort-für-Wort Übersetzung und anschließend die Übertragung ins Deutsche. Um dem Leser dieser Arbeit das Erkennen des Zusammenhangs des einzelnen Zeichens zu erleichtern, werden die jeweils fraglichen chinesischen NPn sowie ihre deutsche Entsprechung durch Unterstreichung gekennzeichnet.


Beispiele aus englischer Literatur werden in ihrer Originalform zitiert (Lautschrift, englische Wort-für-Wort Übersetzung, Übertragung ins Englische). Beispiele aus meinem chinesisch-deutschen Übersetzungskorpus werden von mir in die Pinyin-Umschrift übertragen. Beispiele aus chinesischer Literatur oder aus dem CCL-Korpus werden von mir in die Pinyin-Umschrift transkribiert und ins Deutsche übersetzt.

2 Definitheit und verwandte Konzepte

Vorab ist zu bemerken, dass der Begriff Definitheit sowie die verwandten Konzepte Referenz, Spezifizität und Generizität in der Literatur nicht immer eindeutig geklärt und auch extrem uneinheitlich verwendet werden. Das führt dazu, dass die Ergebnisse einzelner Studien schwer vergleichbar sind. In diesem Kapitel werden die genannten Begriffe erläutert, um terminologische Verwirrungen zu vermeiden und eine theoretische Basis sicherzustellen. Außerdem wird versucht, präzise Kriterien für die Analyse und Interpretation von NPn im Deutschen und Chinesischen aufzustellen, damit die Analyse strukturiert und effektiv durchgeführt werden kann.

2.1 Referenz

Unter Referenz verstehe ich in Anlehnung an Lehmann (2015:2) die Operation, die eine Entität, Referent genannt, im Redeuniversum durch einen Ausdruck in einem Text evoziert. Ein sprachlicher Ausdruck referiert nicht auf einen Gegenstand in der physikalischen Welt (Denotat), sondern auf mentale Objekte im Redeuniversum (Referent). Das Redeuniversum ist ein mentaler Raum, den die Gesprächspartner in einer bestimmten Sprechsituation schaffen und entwickeln. Grob gesagt ist es die Schnittmenge des Bewusstseinsinhalts der Gesprächspartner (2015:7). Ob Referenten realexistente Objekte (Denotat) repräsentieren, ist für die Struktur und Bedeutung sprachlicher Äußerungen und Systeme irrelevant. In dieser Arbeit wird der Begriff der Referenz nur auf NPn eingeschränkt gebraucht.

Das Kapitel 2.1 gliedert sich wie folgt: Abschnitt 2.1.1 befasst sich mit der Unterscheidung zwischen referentiellen und nicht-referentiellen NPn, die für die vorliegende Arbeit besonders relevant ist, weil das Merkmal [+/-definit] dem Merkmal [+referentiell] untergeordnet ist. Dabei werden die übrigen in der Literatur entwickelten Kriterien zur Unterscheidung der beiden Typen von NPn in Betracht gezogen und auf ihre Gültigkeit überprüft. In 2.1.2 und 2.1.3 werden die Haupttypen von nicht-referentiellen NPn im Deutschen und Chinesischen kurz vorgestellt.

2.1.1 Referentielle und nicht-referentielle NPn

Unter dem Begriff „referentiell“ wird oft sehr Unterschiedliches verstanden.1 In der sprachphilosophischen Literatur werden referentielle NPn in Opposition zu den sogenannten attributiven NPn gesetzt:


Nach Donnellan (1966) hat der Satz zwei Lesarten: Eine referentielle (engl. referential), wenn der Sprecher genau weiß, wer der Mörder ist und mit der NP Smith’s murderer auf diese Person referiert; eine nicht-referentielle (engl. attributiv), wenn der Sprecher nicht weiß, wer Smith getötet hat. In der attributiven Lesart referieren die NPn nicht, sondern beschreiben nur, was für ein Individuum unter die Beschreibung der NP fällt. Ob eine definite NP referentiell oder nicht-referentiell verwendet wird, ist nach Donnellan (1966:297) „a function of the speaker’s intentions in a particular case“. Die Gegenüberstellung referentiell/attributiv entspricht ungefähr der Unterscheidung in spezifisch/nicht-spezifisch und wird oft unter dem Begriff der Spezifizität behandelt. Nach Vater (2005:101) ist der Terminus „(nicht) referentiell“ für die von Donnellan beschriebene Opposition nicht zutreffend, weil „auch beim ,attributiven‘ Gebrauch einer NP Existenz präsupponiert wird, nur nicht in der realen (zur Zeit der Äußerung gegenwärtigen) Welt, sondern in einer möglichen (bzw. zukünftigen) Welt.“ Nach ihm ist die prädikative NP ein prototypisches Beispiel für nicht-referentielle NPn (von ihm als „nicht-referierend“ bezeichnet). Die prädikative NP denotiert eine Eigenschaft (Qualität) und trägt vor allem zur Beschreibung des Referenten der Subjekt-NP bei, weshalb sie auch als qualitative NP bezeichnet wird. Diese Ansicht wird in der sprachwissenschaftlichen Literatur (z.B. Kuno 1970; Leys 1973; Vater 1979, 2005; Du Bois 1980) auf breiter Ebene geteilt. In dieser Arbeit wird der Begriff „(nicht) referentiell“ im Sinne von Vater verwendet, während die Opposition referentiell/attributiv im Sinne von Donnellan mit der Unterscheidung in (epistemisch) spezifisch/nicht-spezifisch gleichgesetzt wird.

Für die Forschung über Definitheit ist eine klare Unterscheidung zwischen referentiell und nicht-referentiell besonders wichtig, weil die Opposition definit/indefinit bei nicht-referentiellen NPn neutralisiert wird:


Bei referentiellen NPn erfüllen Artikel bestimmte pragmatische Funktionen: Wenn die Katze des Sprechers davongelaufen ist, wird er zu seiner Frau 3a sagen, bei Fremden auf der Straße 3b benutzen. Durch Verwendung unterschiedlicher Artikel wird signalisiert, dass der Sprecher unterschiedliche Erwartungen über das Hörerwissen hat. Wenn er annimmt, dass der Hörer den intendierten Referenten identifizieren kann, verwendet er den definiten Artikel, anderenfalls würde er auf den indefiniten Artikel zurückgreifen. Dagegen sind Artikel bei nicht-referentiellen NPn außer Markierung der morphologischen Eigenschaften „funktionslos“.

In der Literatur werden verschiedene Kriterien zur Identifizierung von nicht-referentiellen NPn entwickelt, die teilweise zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen und deswegen einer näheren Betrachtung bedürfen.

Kriterium 1: Nicht-referentielle NPn können nicht anaphorisch aufgegriffen werden (Kuno 1970, Leys 1973, Bausewein 1990, Bosch 2010):


Dieses Kriterium geht davon aus, dass qualitative NPn keine Existenz von Referenten präsupponieren. Deswegen kann zu ihnen keine anaphorische Verbindung hergestellt werden. Die NP ein Arzt in 4b dient nicht dazu, einen neuen Referenten in den Diskurs einzuführen, sondern dazu, einen schon in den Diskurs eingeführten Referenten (sein Vater) näher zu bestimmen. Bei der Anwendung dieses Kriteriums sind zwei Aspekte besonders zu beachten: Erstens soll festgestellt werden, ob zwischen zwei NPn tatsächlich Koreferenz besteht:


Lambrecht (1994) betrachtet die NP Arzt im Antwortsatz als referentiell, wofür er zwei Argumente anführt: Zum einen ist die NP „an anaphoric topic expression“, zum anderen kann die NP durch das Demonstrativpronomen das ersetzt werden. Dagegen ist kritisch einzuwenden, dass direkte Anaphorik nicht auf Formidentität, sondern auf Referenzidentität beruht. Bei 5 geht es darum, ob „er“ die Eigenschaft „als Arzt tätig sein“ besitzt. Mit der NP Arzt wird kein neuer Referent in den Diskurs eingeführt. Außerdem werden referentielle NPn im Deutschen je nach Genus pronominalisiert. Um auf eine maskuline NP im Singular Bezug zu nehmen, sollte das Pronomen der verwendet werden, nicht aber das neutrale das. Im Gegensatz dazu können artikelose NPn und Adjektive, die als Prädikativ fungieren, nur durch neutrale Pronomen (es/das/dies) ersetzt werden. Zweitens stellt die anaphorische Zugänglichkeit eine hinreichende, jedoch keine notwendige Bedingung für Referenzidentität dar: NPn, die anaphorisch aufgreifbar sind, sind referentiell. Umgekehrt gilt aber nicht: NPn, die referentiell sind, sind nicht immer anaphorisch zugänglich. Beispielsweise kann eine nicht-spezifische NP nicht mit einem Pronomen wieder aufgenommen werden, außer wenn das Pronomen in einem modalen Kontext steht (s. Abschnitt 2.2).

Kriterium 2: Belebte, nicht-referentielle NPn lassen sich nur mit was erfragen, belebte referentielle NPn dagegen mit wer/wen (Kuno 1971, Leys 1973):


Dieses Kriterium kann nur dann herangezogen werden, wenn die betreffende NP erfragbar ist. Viele nicht-referentielle NPn sind aber nicht allein erfragbar, weil sie Teil eines komplexen Prädikats ist.

Kriterium 3: Nicht-referentielle NPn können keine Attribute zu sich nehmen (Leys 1973, Bausewein 1990, Bosch 2010):


Aber es scheint doch Ausnahmen zu geben, etwa NPn, die als Prädikativ fungieren:


Obwohl die NP ein Arzt in 8a keinen Referenten hat, kann sie durch Adjektive und Relativsätze erweitert werden. Dann denotiert die gesamte NP eine komplexe Eigenschaft.

Kriterium 4: Der Numerus von qualitativen NPn kann nicht verändert werden (Du Bois 1980, Bausewein 1990:63):


Qualitative NPn denotieren Eigenschaften und können deswegen nicht gezählt werden (9a, b). Aber wenn sie als Prädikativ fungieren, müssen sie in der Regel in Numerus mit zusammenhängenden NPn kongruieren (9c).

Kriterium 5: Nicht-referentielle NPn sind nicht sensibel gegenüber Vorerwähnung (von Du Bois als „nonresponsiveness to prior mention“ bezeichnet).


Damit wird implizit unterstellt, dass referentielle NPn bei der zweiten Erwähnung als definit markiert werden sollten: „The forester and the mile, which would ordinarily be expected after prior mentions, are not appropriate in these examples.“ (Du Bois 1980:211). Diese Aussage hilft jedoch nicht bei der Unterscheidung, weil referentielle NPn gegenüber Vorerwähnung auch nicht sensibel sein können:


Die NP ein Auto ist zweimal vorgekommen und beim zweiten Vorkommen nicht als definit markiert. Der Grund besteht darin, dass die beiden NPn nicht referenzidentisch sind. Ob eine NP als definit markiert wird, hängt nicht davon ab, ob die NP (die Form) schon vorgekommen ist, sondern davon, ob der betreffende Referent vorerwähnt ist.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es kein brauchbares Kriterium gibt, um nicht-referentielle NPn von referentiellen eindeutig zu unterscheiden. Aber je mehr Kriterien eine NP erfüllt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie qualitätsbezogen ist. Mit einer referentiellen NP wird entweder ein neuer Referent in den Diskurs eingeführt oder auf einen bereits eingeführten Referenten Bezug genommen. Dagegen denotieren qualitative NPn Eigenschaften und dienen dazu, einen anderen Referenten näher zu bestimmen.

€46,40

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Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
487 S. 430 Illustrationen
ISBN:
9783823300496
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