Blackout, Bauchweh und kein' Bock

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1.2.1Lerntechnik und Arbeitsverhalten

Innerhalb des Bewertungskontextes, in dem die Schwierigkeiten der Klienten auftreten, existieren meist bestimmte Bewertungskriterien und eine Definition von richtig und falsch. Aus dieser Perspektive heraus lässt sich analysieren, ob z. B. die Lernstrategien effektiv sind und zum Lerninhalt passen, ob die für Prüfungen angewendeten Strategien nützlich sind und ob die verfügbaren Ressourcen (z. B. Zeit zum Lernen) zur Bewältigung der gestellten Aufgaben ausreichen. Der Bewertungskontext ermöglicht ein Denken in Ist- und Soll-Kategorien, anhand derer man den Lernfortschritt bewerten kann. Wenn der Lernfortschritt dem Soll nicht entspricht, ist die Wahrscheinlichkeit zum Bestehen einer Prüfung gering.

Wenn wir im Prüfungscoaching in diesen Kategorien denken, stehen technische Aspekte im Vordergrund. Die Schwierigkeiten der Klienten werden zu technischen Schwierigkeiten, für die entsprechende Lösungen gesucht werden. Die gewählte Rolle ist die eines Lehrers und Experten, der zuerst auf Basis der kontextuellen Bewertungskriterien das Verhalten des Klienten begutachtet und anschließend erprobte Lösungen vermittelt. Es besteht keine Neutralität gegenüber dem Ziel, den äußeren Bewertungskriterien zu entsprechen. Die Beziehung zum Klienten ist eher distanziert, weil der Lehrer als Experte für die Probleme des Klienten gilt, und nicht der Klient. Mit dieser Rolle ist man Teil des Bewertungskontexts, es findet keine Selbstbeobachtung von außen statt. Diese Haltung kann für den Klienten entlastend sein, weil das Problem kein Hinweis auf einen psychologischen Defekt ist, sondern sich durch Techniken verändern lässt.

1.2.2Selbstregulation

Selbst, wenn die fachliche Prüfungsvorbereitung optimal erscheint, kann es in einer Leistungssituation zu einer starken emotionalen und körperlichen Erregung der Klienten kommen, wodurch deren kognitive, kreative und koordinative Leistungsfähigkeit eingeschränkt wird. In dem Fall kann das Potenzial in Leistungssituationen nicht genutzt werden. Menschen, die das erleben, wissen und können eigentlich genug, sie versagen jedoch, wenn es darauf ankommt, und berichten hinterher von sogenannten Blackouts. Angst und Erregung können bereits das Lernen und die Vorbereitung auf die Prüfung beeinträchtigen. Die Konzentration beim Lernen ist dann nicht auf den Lernstoff gerichtet, sondern auf die möglichen negativen Konsequenzen der Prüfung. In der Folge sinkt der Lernerfolg, es entstehen reale Wissensund Kompetenzdefizite.

Wenn im Prüfungscoaching diese Aspekte im Vordergrund stehen, passt die Rolle des Coaches. Das übergeordnete Ziel, den Bewertungskriterien des jeweiligen Leistungskontextes zu entsprechen, wird auch als Ziel für das Coaching akzeptiert. Oft wird dies auch gar nicht thematisiert. Diesbezüglich besteht also keine Neutralität. Anders als bei der Rolle des Lehrers ist hier aber eine andere Beziehung zum Klienten erforderlich. Das Erleben der Klienten, z. B. Prüfungsangst, ist das Ergebnis einer selbsterzeugten Wirklichkeit, basierend auf der subjektiven Verarbeitung der lebensgeschichtlichen, affektiven und kognitiven Beziehungserfahrungen. Entsprechend ist der Klient selbst Experte für sein Problem und verfügt über die entsprechenden Ressourcen zur Veränderung. Die Rolle des Coaches besteht darin, den Klienten dabei zu unterstützen, selbst die für ihn passenden Ressourcen und Lösungen zu finden. Aber auch mit dieser Rolle befindet man sich im gleichen Wertekontext wie der Klient. Das Ziel, den gesetzten Erwartungen zu entsprechen, wird mehr oder weniger stillschweigend akzeptiert. Dies kann gerade bei drängenden Anliegen wichtig sein, wenn es heißt: Ärmel hoch, Augen zu und durch!

1.2.3Motivation und Blockaden

In Lern- und Leistungskontexten gibt es meist nicht nur einen bestimmten Bewertungsrahmen, anhand dessen z. B. Prüfungsleistungen bewertet werden, sondern implizit auch eine Entwicklungsrichtung oder einen Wertekanon. In unterschiedlichem Maße gilt, dass das, was Menschen in der Schule, im Studium, in einer Ausbildung oder im Beruf tun, zu ihrer Weiterentwicklung und Bildung beiträgt oder für den Erhalt einer bestimmten Position sorgt. Wenn dies ins Stocken gerät, wird das von den Betroffenen häufig als Blockade oder Motivationsschwierigkeit bezeichnet. Es kommt zu einer Reduktion der Aktivitäten für Schule, Studium oder Ausbildung. Wichtige anstehende Aufgaben werden verschoben (Prokrastination) oder mit vermindertem Engagement erledigt. Oft entstehen diffuse Ängste im Hinblick auf Prüfungen, jedoch nicht nur singulär in einem Fach, sondern eher ein Hadern mit der Schule, der Ausbildung oder dem Studium generell.

Wenn im Prüfungscoaching die Motivation zum Thema wird, ist die passende Rolle die eines Therapeuten oder Beraters – nicht, weil er heilkundlich tätig ist, sondern weil nun Neutralität gegenüber dem Bewertungskontext und der impliziten Entwicklungsrichtung wichtig ist. Damit löst sich das Prüfungscoaching von dem Ziel, den Bewertungskriterien zu entsprechen. Das sogenannte Problem kann eine neue Bedeutung annehmen. Es kann als Ausdruck einer Ambivalenz verstanden werden und wird so zu einem wertvollen Hinweis auf z. B. nicht ausreichend berücksichtigte Bedürfnisse oder existenzielle Fragen (z. B., ob man wirklich den Beruf will, für den man gerade studiert). Im Unterschied zum Coach geht es dem Therapeuten nicht in erster Linie darum, den Klienten in der Aktivierung seiner Ressourcen lösungsorientiert zu unterstützen, sondern im Reflektieren der Ambivalenz. Mit dieser Rolle wird eine Beobachterposition außerhalb des Bewertungskontexts eingenommen.

1.3Zirkuläre Wechselwirkungen

Die drei Bereiche des PAC-Dreiecks stehen in Wechselwirkung miteinander, weshalb wir sie sowohl einzeln mit ihrer spezifischen Dynamik als auch mit ihrer Wechselbeziehungsdynamik beschreiben können. In der Arbeit mit Klienten kann dies bedeuten, dass ein Klient mit seinem Erleben und Verhalten ganz unterschiedlich erscheint und ganz andere Aspekte wichtig zu sein scheinen – je nachdem, durch welche »Brillengläser« geschaut wird. Dies ist besonders in der Anfangsphase und der Anliegenklärung eines Prüfungscoachings wichtig. Ebenso sollte man die Brille mit den drei Gläser putzen und wieder aufsetzen, wenn der Prozess irgendwie stockt oder das diffuse Gefühl entsteht, dass etwas nicht stimmt.

Die Verbindung der Bereiche Lerntechnik und Arbeitsverhalten mit der Selbstregulation zeigt sich z. B. daran, dass viele Klienten mit Lernschwierigkeiten von Prüfungsangst berichten. Der Lernfortschritt ist gemessen an den Anforderungen unzureichend, es entsteht Angst, nicht zu bestehen. Wenn der Fokus im Prüfungscoaching dann auf die Angst gerichtet wird, ändert dies meist wenig an den fachlichen Schwierigkeiten.

Ebenso gibt es eine Verbindung zum Bereich Motivation und Blockaden. Unpassende Lern- und Arbeitstechniken können frustrieren, weil trotz Anstrengung der Erfolg ausbleibt. In einem solchen Fall suchen Klienten meist wegen der Motivationsschwierigkeiten Unterstützung und zweifeln daran, »auf dem richtigen Weg zu sein«, weil sie nicht vorankommen.

Der Zusammenhang zwischen Selbstregulation und der Lern- und Arbeitstechnik kann sich darin zeigen, dass ein starkes Erregungs-Erleben das Lernen und Verstehen hemmt. Wenn Lernende dies bei der Vorbereitung auf Prüfungen erleben, ist ihr Anliegen im Prüfungscoaching oft, effektiver zu lernen. Damit würde jedoch der Fokus auf (lern-)technischen Aspekten liegen und von der Regulation innerer Prozesse abgelenkt werden.

Hohe Erregung und Prüfungsangst kann sich auch auf den Bereich Motivation und Blockaden auswirken. Die Beschäftigung mit der Prüfung und dem Lernstoff wird reduziert oder abgebrochen, weil damit Angst getriggert wird. Auf diese Weise kann Prüfungsangst zu einem Vermeidungsverhalten führen. Wenn den Klienten ihre Angst peinlich ist, tendieren sie dazu, sie zu verbergen, und zeigen sich stattdessen mit anderen Schwierigkeiten, die ihnen sozial akzeptabler vorkommen. In Therapie, Coaching oder Beratung kann es daher leicht passieren, dass die Prüfungsangst übersehen wird.

Der Bereich Motivation und Blockaden steht ebenso in Verbindung mit dem Bereich Lerntechnik und Arbeitsverhalten. Motivationsschwierigkeiten führen oft dazu, dass die Konzentration beim Lernen schwindet; die Ablenkbarkeit nimmt zu, woraufhin der Erfolg in Prüfungen abnimmt.

Eine Wechselbeziehung mit dem Bereich Selbstregulation besteht, weil der geringe Erfolg in Prüfungen und die Verständnisschwierigkeiten oft in Gefühle von Angst und Versagen münden.

Das Ziel von Beratung im Bereich der Motivation kann es sein, die Klienten in der Reflexion ihres Erlebens und ihrer Situation zu unterstützen. Als hilfreich erweist sich dabei die systemische Grundhaltung, dass man die Angst oder die innere Blockade nicht als Problem oder Defizit definiert, sondern als unbewussten Lösungsversuch der Person in einer komplexen persönlichen Entwicklungsphase mit inneren und äußeren Erwartungshaltungen, die oftmals nicht miteinander vereinbar sind (Mücke 2019).

1.4Viele Ansätze, eine Haltung

Die thematische und methodische Vielfalt im Prüfungscoaching birgt die Gefahr eines inkonsistenten und eklektizistischen Arbeitens, woraus für die Klienten hinderliche Widersprüche entstehen können. Daher ist es wichtig, sich bei aller mentaler Flexibilität an bestimmten Grundhaltungen zu orientieren, die in der Beratung als innerer Kompass dienen.

 

Selbstbestimmung: Die Förderung der Selbstbestimmung und insbesondere der psychologischen Grundbedürfnisse Autonomie-Erleben, Kompetenz-Erleben und Erleben von sozialer Eingebundenheit ist ein elementarer Bestandteil des Prüfungscoachings (s. S. 31). Auch wenn einige Techniken, wie z. B. das Entwickeln und Nachsprechen von Affirmationen, auf den ersten Blick direktiv und wenig selbstbestimmt anmuten, so ist gerade hierbei die Ausrichtung der Berater auf die Selbstbestimmung der Klienten enorm wichtig. Ob eine Affirmation passt, wird ausschließlich durch die Klienten bestimmt. Somit kann auch eine grammatikalisch falsche und für den Berater inhaltlich nicht nachvollziehbare Affirmation für den Klienten überaus wirksam sein.

Respekt vor dem subjektiven Erleben: Menschen konstruieren ihr Erleben durch die Fokussierung ihrer Aufmerksamkeit. Dieses Erleben ist ihre Realität, in der sie selbst vorkommen und in der sie selbst real sind. Ein Anzweifeln dieser subjektiven Realität würde auch die Person selbst infrage stellen (s. S. 37). Berater können daher höchstens Angebote machen, die eigene Aufmerksamkeit zu explorieren und umzulenken, den inneren Scheinwerfer größer oder kleiner einzustellen und Dinge in ein anderes Licht zu setzen.

Body first: Die psychologische und psychotherapeutische Forschung, wie sie überwiegend an Universitäten gelehrt wird, hat bis vor einigen Jahren den Eindruck vermittelt, der Mensch hätte nur ein kognitiv rational denkendes Gehirn, die Beteiligung des Körpers an emotionalen, motivationalen und kognitiven Prozessen wurde hingegen übersehen. Ebenso wurden Zusammenhänge zwischen psychischen Schwierigkeiten und körperlichen Prozessen wenig berücksichtigt. Lange Zeit waren chemische Prozesse im Gehirn die einzigen körperlichen Vorgänge, die bei psychotherapeutischen Behandlungen berücksichtigt wurden. Dies hängt auch mit der Trennung der Wissenschaftsdisziplinen Physiologie und Psychologie zusammen. Die Erkenntnisse der Polyvagal-Theorie von Stephen Porges (s. S. 85) bieten für zentrale psychologische Phänomene und insbesondere für Ängste und passives, depressives Verhalten physiologische Erklärungs- und Handlungsansätze. Die zentrale Aussage der Polyvagal-Theorie lautet, dass der Zustand des Organismus die Fähigkeiten zum Aufbau von Beziehungen, zum Lernen, zur Kommunikation und zur Nutzung des kognitiven, emotionalen und kreativen Potenzials limitiert. Solange die körperlichen Voraussetzungen nicht passen, kann weder gelernt, noch beraten, gecoacht oder therapiert werden. Emotionale Veränderung ist daher vor allem eine körperliche Veränderung.

Lernen und Entwicklung sind artgerecht: Lernen und Entwicklung sind die natürlichen Richtungen des Lebens. Motivation zum Lernen oder zur persönlichen Entwicklung ist daher nichts, wofür man Energie aufbringen und sich zusammenreißen muss. Motiviert zu sein und sich zu entwickeln ist der Normalzustand. Wenn eine Entwicklung stagniert, jemand also unmotiviert ist, dann liegen psycho-logisch gute Gründe dafür vor, die innerhalb des Systems schlüssig sind.

Potenzialentfaltung: Schule wird von vielen Schülern als ungeheure Last und Qual erlebt. Die als Leistungsdruck erlebten Anforderungen versetzen oft ganze Familien in Aufregung. Eine Klassenarbeit kann Endzeitstimmung am Frühstückstisch erzeugen. Oft leiden die Eltern ähnlich wie die Kinder. Olaf-Axel Burow, der Begründer der Positiven Pädagogik und Autor des Geleitworts zu diesem Buch, weist daraufhin, dass das Glück aus der Pädagogik und Schule unserer heutigen Gesellschaft förmlich verdrängt wurde (Burow 2011). Während Glückseligkeit in früheren pädagogischen Schriften noch als explizites Erziehungsziel auftaucht, sehen wir in heutigen Schulen, in erziehungswissenschaftlichen Veröffentlichungen und auch in der Lehrerbildung andere Schwerpunktsetzungen. Würde es in Schulen, Hochschulen etc. in erster Linie um die Entfaltung des individuellen Potenzials der Menschen gehen, gäbe es andere Schulen mit anderem Unterricht und dieses Buch wäre nicht nötig.

Klienten haben daher oft die Erwartung an Coaching, Beratung und Therapie, die Last erträglicher zu machen, die Schulzeit und die Prüfungen zu überleben. Das Ziel von PAC ist aber mehr als Überleben: PAC ist ausgerichtet auf Freude, Genuss und Leichtigkeit in Lern- und Leistungssituationen. Ich vertrete ein positives Bild von Leistung, bei dem es nicht um die perfekte Umsetzung äußerer Leistungsvorgaben geht, sondern um die individuelle Weiterentwicklung. Und auch dies stimmt nur, wenn Weiterentwicklung zugleich als Selbstverwirklichung verstanden wird und die Entwicklungsrichtung von innen kommt.

Prüfungscoaching sollte auf keinen Fall ein »push it to the limit« sein. Es geht nicht darum, sich selbst bzw. die Klienten an äußere Leistungserwartungen anzupassen, um diesen noch mehr zu entsprechen, oder darum, die eigenen Schwächen und Unfertigkeiten um jeden Preis zu verstecken oder sogar auszumerzen. Leistungssituationen sind immer nur ein Teil in einem Entwicklungskontext, niemals die Hauptsache, und sollten daher auch immer als ein solcher Baustein gesehen und relativiert werden.

1.5Selbstbestimmung als Kompass im Prozess

•Warum lernen und verändern sich Menschen und nehmen hierfür bestimmte Anstrengungen und Entbehrungen in Kauf?

•Warum sind bestimmte Ziele motivierend und andere nicht?

•Warum geht es manchen Menschen gut damit, wenn sie sich zur Erreichung eines bestimmten Ziels anstrengen, und warum können sie daraus sogar zusätzliche Energie ziehen, während andere Menschen bei den gleichen Anstrengungen krank werden, unzufrieden sind und das Lern- und Veränderungsvorhaben vorzeitig abbrechen?

Diese Fragen lassen sich im Hinblick auf Unterricht, Studium und Ausbildung genauso stellen wie im Hinblick auf Therapie, Beratung und Coaching. Wenn Menschen etwas erreichen oder in ihrem Leben verändern wollen und mit einem bestimmten Verhalten einen bestimmten Zweck verfolgen, wird dies als Motivation bezeichnet.

Diesen Fragen gehen die beiden Forscher Edward Deci und Richard Ryan seit den 1980er-Jahren in unzähligen empirischen Studien nach (Deci 1980; Deci u. Ryan 1985). Entstanden ist die Selbstbestimmungstheorie (Deci u. Ryan 2000), die m. E. nicht nur eine wichtige und empirisch gut abgesicherte Theorie zur Entstehung und Erhaltung von Motivation und erfolgsorientiertem Verhalten in Lern- und Entwicklungsprozessen darstellt; sie ist auch enorm brauchbar für die praktische Gestaltung von Veränderungsprozessen – sei es in psychotherapeutischen, pädagogischen oder medizinischen Kontexten.

Aus der Selbstbestimmungstheorie lassen sich unmittelbare Leitlinien und konkrete Handlungen für die Arbeit mit Klienten und Schülern ableiten. Ebenso nützt die Selbstbestimmungstheorie bei der Reflexion und Analyse von ungünstig verlaufenden Lern-, Entwick 98

lungs-, Heilungs- und Veränderungsprozessen, weil sie Indikatoren bietet, mit denen sich auftretende Schwierigkeiten identifizieren, beschreiben und verändern lassen. Im Zentrum der Theorie von Deci und Ryan steht das Selbst der Person, welches zugleich als Prozess und als Ergebnis einer stetigen Integration und Entwicklung angesehen werden kann. Im Unterschied zu vielen anderen Theorien menschlicher Motivation wird die Motivation für bestimmte Handlungen nicht nur quantitativ in hoch und niedrig unterschieden, die wichtigere Unterscheidung bezieht sich auf das erlebte Maß an Selbstbestimmung vs. Kontrolliertheit und Zwang (wobei Selbstbestimmung nicht gleichbedeutend mit Freiwilligkeit ist).

Die zentrale Annahme der Selbstbestimmungstheorie ist, dass Menschen aktiv zu psychischem Wachstum und Integration tendieren und dass dies eine naturgegebene Konstante ist, die überall auf der Welt Gültigkeit hat. Integration meint hier einerseits das Streben nach Autonomie (dem Bilden einer inneren Einheit mit Grenzen zu anderen Menschen) und andererseits nach Homonomie (dem Streben, sich mit anderen zu verbinden und enge Beziehungen einzugehen). Deci und Ryan nehmen an, dass eine gesunde Entwicklung nur gelingen kann, wenn beide Strebungen ausgelebt werden können.

Die Selbstbestimmungstheorie ermöglicht die Identifizierung von Kontextfaktoren, die menschliche Entwicklung fördern und zu psychischer Gesundheit und Wohlbefinden beitragen. Die Qualität eines Lern- und Veränderungsprozesses hängt demnach wesentlich von dem Grad der erlebten Selbstbestimmung ab.

Für eine gesunde körperliche Entwicklung und den Erhalt der körperlichen Leistungsfähigkeit ist die Befriedigung biologischer Grundbedürfnisse eine notwendige Voraussetzung. Ohne die Befriedigung dieser biologischen Bedürfnisse können Menschen nicht wachsen, vorhandene Gesundheit und Fähigkeiten gehen verloren, und sie werden krank.

Deci und Ryan gehen davon aus, dass es in gleicher Weise psychologische Grundbedürfnisse gibt, die für die Entwicklung und Erhaltung einer gesunden und vitalen Psyche und Persönlichkeit notwendige Voraussetzung sind. Dementsprechend streben Menschen nach der Befriedigung eben dieser Bedürfnisse. Drei Grundbedürfnisse sind hierbei zentral:

•Autonomie

•Kompetenz

•soziale Eingebundenheit und Beziehung.

Je mehr diese Bedürfnisse befriedigt werden, desto mehr Selbstbestimmung ist vorhanden. Die psychologischen Grundbedürfnisse können auch als Merkmale einer »artgerechten Haltung« für Menschen angesehen werden. Sind sie erfüllt, geht es uns Menschen gut. Dann sind wir kreativ, in Beziehung miteinander, können kommunizieren und haben mehr Zugriff auf unser kognitives, kreatives sowie emotionales Potenzial.

1.5.1Autonomie-Erleben

Autonomie-Erleben beschreibt das Erleben von Einfluss bei der Ausführung einer Handlung oder bei Entscheidungen. Der Mensch erlebt sich selbst als Urheber und Sinnstifter seiner Handlungen. Es bedeutet, dass die Handlung und Entscheidung subjektiv einen Sinn hat, dass sie mit den individuellen Werten der Person im Einklang steht. Zudem weist Autonomie-Erleben eine gewisse theoretische Nähe zu dem Konstrukt Kohärenz innerhalb des Salutogenese-Konzepts von Antonovsky (1997) auf. Zwischen der Handlung, dem Handlungsziel und den damit verbundenen Werten wird ein Zusammenhang erkannt, ein Sinn gesehen.

Zusammengenommen könnte es heißen:

»Ich entscheide selbst, was passiert, es passt zu meinen Werten, und ich verstehe, aus welchen Gründen es passiert.«

Autonomie kann auch in einem Kontext erlebt werden, in dem die eigene Freiheit eingeschränkt ist. Beispielsweise können relevante Entscheidungsbefugnisse zeitweise an andere Personen abgetreten werden, wenn man von den guten Absichten und Kompetenzen der anderen Person überzeugt ist (bei der Technik »Verdeckte Aufstellung mit verzögerter Rückmeldung« wird dieser Aspekt genutzt, s. S. 169). Von außen auferlegte Aufgaben wie Hausarbeiten und Prüfungssituationen können als autonome Situationen erlebt werden, wenn innerhalb der Aufgaben ein Gestaltungsspielraum besteht und die Aufgaben in einen Kontext eingebettet sind, der grundsätzlich im Einklang mit den eigenen Bedürfnissen steht.

In Lern- und Entwicklungsprozessen sind Sinn-Erleben, Nachvollziehbarkeit und Gestaltungsspielraum im Unterricht zentrale Voraussetzungen für Autonomie-Erleben, weil von einer vollständig freiwilligen Teilnahme am Unterricht nicht die Rede sein kann: Durch die Schulpflicht ist Schülern diese Entscheidung bereits abgenommen. Weil Schüler sich nicht selbst entscheiden, zur Schule zu gehen, trägt die Entscheidung nicht zur Entstehung von Autonomie-Erleben bei. Gerade deshalb muss Unterricht (und auch jede Form von Beratung) die Entstehung von Autonomie-Erleben aktiv unterstützen.

Das Erleben von Autonomie hat sich für die Qualität von Lern- und Entwicklungsprozessen als besonders relevant erwiesen. Hohes Autonomie-Erleben führt zu besserem Problemlöseverhalten, ermöglicht mehr Kreativität und erweitert das Durchhaltevermögen. Empirisch konnte gezeigt werden, dass bei autonom motiviertem Verhalten psychische Energie nicht aufgebraucht wird und es zu weniger emotionaler Erschöpfung kommt (Deci u. Ryan 2008).

 

In der Beratung kann das Autonomie-Erleben z. B. durch eine ausführliche Anliegenklärung unterstützt werden. Paraphrasierend und spiegelnd wird mitgeteilt, welches Verständnis »im Kopf des Therapeuten« entsteht. Der Therapeut lässt den Klienten an seinen Überlegungen, seinen Gedanken und Hypothesen, aber auch an seinem Nichtverstehen und seinen Zweifeln teilhaben. Für den Klienten wird das Handeln vor dem Hintergrund der verstehbaren Gedanken des Therapeuten nachvollziehbar. Durch das Präsentieren jeweils verschiedener Erklärungsangebote für das beschriebene Problem-Erleben des Klienten entsteht eine Wahlmöglichkeit. Die Deutungshoheit liegt nicht einseitig beim Therapeuten. Nicht der Therapeut sagt, was die Ursache ist, sondern der Klient wird in den hypothesengenerierenden Erklärungsprozess miteinbezogen.

Die Interventionen in diesem Buch sind quasi interaktiv aufgebaut und auf die Stärkung der Selbstbestimmung ausgerichtet. Sie enthalten viele Elemente, in denen die Klienten entscheiden, wie es weitergeht, oder sie geben Rückmeldung zur Wirkung und nehmen damit Einfluss auf den weiteren Verlauf.