Die Nannys im Osten sind sehr elegant

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Thorsten Nagelschmidt Die Nannys im Osten sind sehr elegant

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Thorsten Nagelschmidt

Die Nannys im Osten sind sehr elegant

Nicole: Es war der 31. Dezember 2019, kurz nach elf Uhr abends. Wir liefen die Alameda hoch Richtung Plaza Dignidad. Auf der Straße war es vollkommen friedlich. Es gab keinen Protest und keine Barrikaden, sonst hätten wir ja Schutzbrillen getragen. Meine Kamera hatte ich gut sichtbar in den Händen. Es war kein Unfall.

Sebastián: Ich stand mit zwei Kollegen vorn am Tor. Plötzlich hören wir Schüsse, mehrere nacheinander, und die Leute fangen an zu schreien: »Médico!, Médico!« Wir rennen los und sehen eine Frau mit der Hand vorm Gesicht am Boden liegen. Wir haben das Blut gesehen und wussten sofort, was passiert war.

Nicole: Auf Höhe des Polizeimonuments hatten sich Carabineros versteckt. Jemand rief: »Sie schießen, sie schießen!« Ich habe mich instinktiv umgedreht und die Augen geschlossen, und dann hörte ich das Geräusch der Patrone. Ich hielt mir die Hände vors Gesicht und fiel zu Boden, und dann sah ich, dass ich Blut an den Händen hatte. Die Leute um mich herum schrien nach Hilfe. Das Rettungsteam der Brigade war auf der anderen Seite der Straße. Sie kamen rübergerannt, um mir zu helfen, wurden dabei aber von den Carabineros beschossen. Sie mussten sich und mich mit ihren Schilden schützen.

Constanza: Sie hatte einen Verband um den Kopf, als sie hier ankam. Es war kein Arzt da, und wir wussten nicht, was passiert war, ob sie ein Auge verloren hatte oder ob es nur eine leichte Verletzung war. Sie war in Panik und hat geweint. Du weißt nicht, wie du ihr helfen kannst. Wenn du nicht weißt, was passiert ist, was willst du ihr da sagen?

Nicole: Ich schloss ein Auge und konnte auf dem anderen nichts sehen. Da wusste ich, dass etwas sehr Ernstes passiert war. Ich bekam eine Panikattacke. Ich habe gezittert und musste mich übergeben, ich hatte große Angst.

Constanza: Ich hielt sie an den Händen, um sie zu beruhigen. Fälle wie dieser sind immer bewegend, aber diesmal war es besonders hart für mich. Wahrscheinlich weil sie eine Frau ist und ungefähr in meinem Alter, Ende 20, Anfang 30. Ich habe geweint, was unprofessionell ist, aber ich konnte es nicht zurückhalten. Sie hatte ja den Verband um den Kopf und konnte mich nicht sehen, also habe ich lautlos geweint. Dann war es auf einmal zwölf. Nicole war die erste Person, die ich im neuen Jahr umarmt habe.

Nicole: Ich war bis zwei Uhr morgens im GAM. Meine Neujahrsumarmung war mit den Leuten von der Brigada Usach.

Constanza: Schließlich kam ein Arzt. Er sagte, dass sie das Auge nicht verloren hätte, und riet ihr, nicht gleich ins Krankenhaus zu gehen, aus Angst, dass man sie dort abweisen würde. Wir gaben ihr Schmerzmittel und blieben bei ihr, bis sie sich beruhigt hatte und sich nicht mehr schwindlig fühlte. Freunde von ihr kamen, um sie abzuholen. Sie konnte laufen.

Nicole: Als ich aus dem GAM kam, hatte sich die Situation draußen total geändert. Überall Tränengas und Gewalt. Ich wurde zu einer Wohnung in der Nähe gebracht, wo ich ein paar Stunden schlafen konnte. Morgens brachten sie mich zum Hospital del Salvador, wo bis dahin schon Hunderte von Menschen mit Augenverletzungen behandelt worden waren.

Paola: Am Krankenhaus musste sie lange warten, bis sie behandelt wurde. Das ist in Chile normal. Sie haben wohl auch versucht, sie abzuwimmeln: »Worauf wartest du, dir kann eh nicht geholfen werden, basta.« Viele gehen durch eine schlimme Depression, nachdem sie ein Auge verloren haben. Wir machen hier Fotos von allen Verletzungen, um den Opfern bei einer eventuellen Klage zu helfen. Nicole ist sehr berühmt, sehr wichtig. Vor zwei Tagen war sie zum ersten Mal wieder an der Plaza Dignidad. Sie arbeitet immer noch.

Constanza: Ich habe erst später herausgefunden, dass sie eine berühmte Fotografin ist. Sie hatte nur gesagt, dass sie Fotos von Menschen gemacht hat, die bei den Protesten ihr Augenlicht verloren haben, und dass sie es nicht fassen kann, dass ihr jetzt dasselbe passiert.

Nicole: Ich komme aus der Peripherie im Süden, aus San Ramón. Meine Eltern sind arm, ich musste schon sehr früh arbeiten. Die Ungerechtigkeit in diesem Land hat mich geprägt und radikalisiert. Ich fing an zu lesen und mich politisch zu bilden. 2015 begann ich mein Studium, Fotojournalismus und Dokumentarfilm. Ich habe während des Studiums mehrere Preise gewonnen und in Kolumbien, Kuba und Venezuela gearbeitet. Im Februar 2019 wurde ich an der venezolanisch-kolumbianischen Grenze verletzt. Ein Humvee ist voll in eine Menge von Journalisten und Polizisten gefahren. Ich wurde zur Seite gedrückt und von einem Metallteil am Bein verletzt. Ich war mehrere Monate in Venezuela und wurde dort behandelt. Als ich zurückkam, ging es hier mit den Protesten los.

Lucía: Seit Oktober haben wir hier jeden Tag Verwundete. Jeden Tag.

Pablo: Die Auseinandersetzungen haben sich von Anfang an um die Plaza Italia konzentriert, die jetzt nur noch Plaza de la Dignidad genannt wird. Das ist historisch ein wichtiger Punkt in Santiago, der teilt die Stadt in zwei Hälften. Östlich des Kreisels leben die Wohlhabenden, je höher, desto wohlhabender, westlich die Armen. Nach Fußballspielen treffen sich die Fans dort zum Feiern.

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