Noch drei Geschichten bis Weihnachten

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Noch drei Geschichten bis Weihnachten
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Thorsten Dörp

Noch drei Geschichten bis Weihnachten

Eine Lebkuchensammlung

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Inhaltsverzeichnis

Titel

O, du selige Weihnachtszeit

Gute Nacht Marie!

Punschbechersammler

Danke,

Bad Wannesbüren

Impressum neobooks

O, du selige Weihnachtszeit

»Ach, wie schön!«, begrüßt mich Mutter rührgeseelt, als ich halb erfroren vor dem Eingang meines Elternhauses stehe. Ich hoffe, sie meint die Freude darüber, mich zu sehen und nicht die blauen Lippen.

»Ja. Schön. Auch dir frohe Weihnachten, Mama«, antworte ich in dem Umfang lächelnd, wie es meine steife Gesichtsmuskulatur erlaubt. Ich beuge mich ein Stückchen herunter und setze ihr einen eisigen Kuss zwischen Mundwinkel und Wange. Dann drücke ich ihren gemachten Kopf tief in meine schneenasse Daunenjacke. Mutter quiekt.

Von drinnen antwortet es kläffend, und Sekunden darauf reibt sich eine grauhaarige Wolldecke hechelnd an meinem Schienbein, welche ich durch dezente Tritte abzuwehren versuche. Es handelt sich um Boris, wie der kurzgeratene Fusselknäuel im Rahmen meiner Familie genannt wird. Boris riecht schlecht, Boris sieht schlecht, doch Boris begrüßt mich so enthusiastisch, wie es einem vierzehn Jahre alten Mischlingsrüden noch möglich ist. Als mein letzter Tritt ihn von meinem Bein gelöst hat, bevor meine Hose endgültig versaut ist, knurrt er enttäuscht, bellt zwei Tannenzapfen des winterlichen Gesteckes an, das an einer roten Samtschleife an der Tür baumelt und verzieht sich unverrichteter Dinge zurück ins Haus. Ich bin gespannt, ob er nächstes Weihnachten noch mit von der Partie sein wird.

Mittlerweile steht auch meine kleine Nichte Rosalinde im Türrahmen und blickt mich mit murmelgroßen Rehäugelein an. Der Stress des Wartens steht ihr ins Gesicht geschrieben.

»Wo sind deine Geschenke?«, will Rosalinde wissen.

Mich packen Schuldgefühle. Jedes Jahr nehme ich mir aufs Neue vor, ihr einen neuen Namen zu schenken. Irgendwann werde ich es schaffen, ihr eine Urkunde mit einem Namen zu überreichen, der für ein achtjähriges Kind angemessen ist, aus diesem Jahrhundert stammt und den sie laut aussprechen mag.

»Diese Jahr verschenke ich Liebe!«, antworte ich philosophisch.

Rosalinde guckt irritiert.

Ich hatte mir geschworen, dass es dieses Jahr absolut Nichts geben würde, sollte die Industrie ihre ersten Lebkuchen bereits im August in die Regale stellen.

Ungläubig sucht sie mich von oben nach unten ab und hält nach Anhaltspunkten Ausschau, die das Gesagte widerlegen würden.

»Da ist ja echt nichts«, wirft sie mir ihre kindliche Enttäuschung direkt vor die Füße.

»Wann hast du dieses Jahr dein erstes Lebkuchenherz gegessen?«, will ich von ihr wissen.

»Ich habe Diabetes«, antwortet sie beleidigt und verschwindet mit vorgeschobener Unterlippe ins Wohnzimmer.

Mutter sagt noch nichts. Erst, als es aus dem Wohnzimmer zu uns durchdringt, dass es kalt werde und man ja schließlich nicht für draußen heize, kommt auch sie auf den Gedanken, mich herein zu bitten. Mit einer geübten Bewegung zieht sie den schweren Vorhang zur Seite und tritt einen Schritt zurück. Dankend folge ich ihrer Geste und trete ins Warme. Wäre Rücksichtnahme eine meiner Tugenden, hätte ich kurz daran gedacht, meine Schuhe abzuklopfen. Stattdessen ziehe ich eine graue Matschspur über die Fliesen und werde erst durch ein schrilles: »Neeeein, nicht ins Wohnzimmer!« von Mutter gebremst. Früher, als wir noch klein waren, war das Betreten des Wohnzimmers tabu, bis ein feines Porzellanglöckchen bimmelnd die Ankunft des heiligen Weihnachtsmannes ankündigte – aber das war es nicht, was sie mir mitteilen wollte …

Sie verbirgt ihren Vorwurf hinter einer wegwerfenden Handbewegung und zieht, als hätte sie gerade darauf gewartet, einen Wischmop hinter dem Vorhang hervor. Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein hochmodernes Sportgerät.

»Wow, ist der neu?«, frage ich, weil mir eine Entschuldigung einfach nicht über die Lippen kommen will.

Sie nickt begeistert. Und als sie schon längst dabei ist, das wuchtige Gerät zügig über den Boden zu ziehen, referiert sie mit geweiteten Pupillen über eine Dauerwerbesendung, in der Harry Wijnvoord das Wundergerät höchstpersönlich angepriesen hat. Endlich klärt sich die Frage, wer zum Teufel bei QVC einkauft. Während die Bodenheizung die Fliesen im trockenen Glanz erstrahlen lässt, drückt Mutter mir ein Paar Stoffpantoffeln in die kribbelnden Finger. Ich bestaune das dem Norwegerpulli entlehnten Muster und folge ihr wortlos ins Wohnzimmer …

… wo mich ankündigungslos der Schlag trifft! Während mir eben noch klirrendkalte Winterluft die Lungenflügel geflutet hat, stehe ich jetzt in einem überheizten Viereck mit radikal reduziertem Sauerstoffgehalt. Auf den Wandregalen flackern zimtduftende Teelichter, der Kamin knistert funkenreich, und von der Ablage der Schrankwand pustet eine hölzerne Räuchermännchen-Armee einen atemraubenden Cocktail aus Tannendunst und Weihrauch aus O-förmigen Mündern. Der Tannenbaum leuchtet wie ein türkischer/griechischer 1-Euro-Shop. Jetzt erklärt sich auch der surrende Stromzähler im Flur. Mein Blick dreht sich auf das jährliche Deja Vú: Am großen Esstisch sitzen in bewährter Reihenfolge mein Vater, meine ältere Schwester Melanie nebst Ehemann Ulf, die kleine Oma und Tante Brigitte, eine Dame im Spätherbst. Wessen Tante sie ist, weiß keiner wirklich. Sie gehört halt dazu. Adventskranz auf rot-weißer Tischdecke, Pappengel, Holztiere und Kunstschneesterne – ein Anblick, den ich bereits von frühesten Kindheitsfotos her kenne. Später werden noch mein älterer Bruder Magnus und seine Frau Jennifer mit ihren zopfschwänzigen Zwillingstöchtern aus erster Ehe dazu stoßen.

»Na, das ist ja schön, dass du auch schon kommst. Essen ist vorbei«, begrüßt mich Vater und stellt geräuschvoll sein Glas ab.

»Konstantin hat keine Geschenke mitgebracht!«, petzt Rosalinde.

»Lasst ihn doch erst einmal ankommen«, verteidigt mich Mutter und schiebt einen weiteren Stuhl an den Tisch, bevor sie mir ein randvolles Glas Rotwein vor die Nase stellt. Mit langen Fingern greift Vater nach seinem Pfeifenbeutel.

»Stimmt das?«, hakt Vater nach, macht sich dabei aber nicht im Geringsten die Mühe, von seiner Pfeife aufzublicken.

»Hä?«

»Was die Rosalinde da sagt.«

Mutter steht neben der Stereoanlage und lässt ihre Finger über eine breite Fernbedienung huschen. Noch während die Frage unbeantwortet im Raum kreist, erklingen die ersten Töne von ›O du fröhliche, o du selige…‹, die wie Schneeflocken aus der Telefunken-Lautsprecherbox rieseln.

»Kinder, es ist doch Weihnachten!«, gurrt sie in unsere Richtung und wedelt dabei mit den Händen. Der Glanz ihrer Augen verrät, dass sie in den vergangenen Stunden nicht ausschließlich die Weingläser der anderen gefüllt hat.

»Du hast echt keine Geschenke mitgebracht?«, entrüstet sich meine Schwester Melanie. Sie streichelt dabei ihrer kleinen Tochter solidarisch über den Kopf. Rosalinde verschränkt ihre etwas zu dicken Arme, schiebt die Unterlippe wieder in Schmollstellung und starrt mich herausfordernd an.

»Hey Leute!« Ich zeige meine offenen Handflächen. Wie gut mir jetzt ein helles Gewand und eine Dornenkrone stehen würden! »Sind wir hier nicht zusammengekommen, um das Fest der Liebe zu feiern?«

»Aber doch nicht ohne Geschenke!«, faucht Melanie schnippisch.

»Was spricht dagegen?«

»Wir haben dir schließlich auch etwas gekauft«, antwortet sie.

Wir haben dir schließlich auch etwas gekauft. Könnte glatt eine der Antworten bei der Fünfzig-Euro-Frage von ›Wer wird Millionär‹ sein. Mein Blick bleibt an der abgegriffenen Porzellan-Krippe hängen, die vor dem beschlagenen Fenster aufgebaut steht. Einem der drei Könige fehlt der Arm.

»Ich glaube nicht, dass es Jesus um Geschenke gegangen ist«, behaupte ich. »Ich denke, es sollte beim Weihnachtsfest um etwas ganz anderes gehen.«

Stolz über so viel Unverfänglichkeit, greife ich nach dem Glas Rotwein und spüle den tiefdunklen Inhalt mit einem kräftigen Schluck hinunter. Zufrieden wische ich mir mit dem Armrücken über den Mund und blicke meine Schwester an.

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