Geschichte der Utopie

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Zusammengefasst heißt das: Keine der Figuren der Utopia ist eine eindeutige und geschlossene Gestalt. Im Laufe des Dialogs widersprechen sich die Figuren nicht nur gegenseitig, sondern mitunter sogar sich selbst. Auch trägt die formale Struktur dazu bei, dass keine Person eine argumentative Überlegenheit gewinnt. Bereits Hubertus Schulte Herbrüggen hat daher mit Recht darauf verwiesen, dass die Frage, welche der beiden Figuren die Ansicht des Verfassers repräsentiert, falsch gestellt ist. Vielmehr muss die Frage lauten: Welche Ansicht spricht aus dem Zusammen- und Gegenspiel der beiden Erzähler?53 Die spielerische Komplexität der Utopia erschließt sich also keineswegs auf Anhieb. Was beim ersten Lesen für leicht verständlich, eindeutig und unmittelbar einsehbar erscheint, das beginnt seine Wirkung oft erst zu entfalten, wenn man die Einzelteile des Werkes in Beziehung setzt und als Leser in einen „infiniten Prozeß des Auslegens, des Kombinierens und Abwägens hineingezogen wird.“ 54 Dieses diskursive Anliegen kennt gleichwohl einen roten Faden, der im Folgenden näher verdeutlicht werden soll.

2.3Das Experiment: Vernunft als Staatsprinzip

Man kann die Utopia als ein höchst ambivalentes „Lob der Vernunft“ auffassen. In enger und wohl auch durchaus gewollter Analogie zum Lob der Torheit seines Freundes Erasmus55 ist das Werk in gewisser Weise sogar eine Art Komplementärschrift. Sie lobt aber nicht wie Erasmus’ „Torheit“ – mal ernst, mal ironisch – die menschlichen Affekte und Leidenschaften, sondern ihren Widerpart: die Vernunft. Nichts existiert in Utopia, das nicht ausdrücklich rational erklärt wird oder sich zumindest rational erklären ließe. Bei genauerer Betrachtung wird zudem offenbar, dass es sich um eine ganz bestimmte Qualität der Vernunft handelt. Nicht weniger häufig, wie eine Einrichtung oder Sitte als vernünftig gelobt wird, ist zu hören, sie sei nützlich. Und für vernünftig halten die Utopier vor allem, was den Gesamtnutzen des Gemeinwesens maximiert. Die Utopia erprobt die utilitaristische Rationalität in allen gesellschaftlichen Bereichen – mit allen positiven, aber auch, was gerne übersehen wird, mit allen negativen Konsequenzen.

Voraussetzung für das Vernunftexperiment ist zunächst die Isolation des Gegenstandes. Gleich zu Beginn des zweiten Buches berichtet Raphael deshalb, dass der Gründungsfürst Utopos vor 1760 Jahren die Halbinsel Abraxa vom Festland durch einen 15 Meilen breiten Graben abtrennen ließ.56 Zudem ist die Insel durch natürliche Hindernisse sowie künstliche Verteidigungsanlagen bestens geschützt. Um die Möglichkeit des experimentellen Erkundens zu gewährleisten und um die wirkenden Kräfte mit ihren kausalen Folgen beschreiben zu können, bedarf es offenbar einer Versuchsanordnung, die das Funktionieren des Systems von störenden Fremdeinflüssen isoliert.

Der genaue geografische Ort der Insel bleibt ungeklärt. Man erfährt lediglich, dass Utopia jenseits der unwirtlichen Äquatorlinie und in der Nähe des neuen Kontinents liegt. Die eher begrenzten natürlichen Ressourcen sorgen bei den Utopiern für ein ausgesprochen instrumentelles Verhältnis zur Natur, das ganz auf ihre Verwertbarkeit gerichtet ist: Es dokumentiert sich beispielsweise darin, dass ganze Wälder von Menschenhand abgeholzt und mit Blick auf Ertrag und Transportverhältnisse an anderer Stelle wieder aufgeforstet werden.57 Auch die gesamte Infrastruktur betont die Funktionalität. Die Städte liegen nie weiter als einen Tagesmarsch voneinander entfernt. Die „Straßen sind zweckmäßig angelegt“, die Gehöfte auf dem Lande sind „planmäßig über die ganze Anbaufläche verteilt“ und das „Ackerland ist den Städten (…) zweckmäßig zugeteilt.“58 Die Hauptstadt Amaurotum heißt übersetzt so viel wie „Nebelstadt“ und ist damit eine deutliche Anspielung auf London. Doch mit den zeitgenössischen Städten hat Amaurotum nicht viel gemeinsam: Waren die historisch gewachsenen, frühneuzeitlichen Städte mit ihren verwinkelten Gassen und dicht an dicht gebauten Häusern stets ein Hort der Brandgefahr, des Schmutzes und der Epidemien, so verkörpern die utopischen Städte nachgerade das exakte Gegenteil: Die langen, ausladenden Straßen, die ausgebaute Trinkwasserversorgung und nicht zuletzt die geschilderten Glasfenster, anstelle der im 16. Jahrhundert üblichen Öl- und Wachstücher – all dies vermittelt nicht nur symbolisch ein Bild der Helligkeit und Fürsorge, sondern ist insbesondere Ausdruck eines ungebremsten Zutrauens in die Leistungsfähigkeit einer technisch-planerischen Vernunft. Es ist zudem ein deutliches Indiz für politische Modernität: Denn soziale Ordnung und politische Herrschaft gelten in Utopia ausschließlich als Menschenwerk; und wie sehr gerade die Insel Utopia ein menschliches „Kunstprodukt“ ist, das zeigt sich schon daran, dass sich ihre Existenz erst dem Abtragen gigantischer Landmassen verdankt.

Im Bereich von Bildung, Erziehung und Wissenschaft drückt sich die Betonung des Rationalen zunächst in der hohen Wertschätzung alles Geistigen aus. Unermüdlich, so erzählt Raphael, seien die Utopier auf geistigem Gebiet. Während Würfel- und Kartenspiele, Faulenzerei und Ausschweifungen verpönt oder gar unbekannt sind, erfreuen sich die morgendlichen Vorlesungen stets einer großen Zahl von Zuhörern. Das Volk verrichtet körperliche Arbeit zwar grundsätzlich mit „der nötigen Ausdauer“ 59, doch zielt letztlich alles in Utopia darauf ab, dass so viel Zeit wie möglich für die geistige Bildung verbleibt. Denn darin, so heißt es, liegt „nach ihrer Meinung das Glück des Lebens.“ 60 Anders als später bei Francis Bacon, der die Wissenschaft vollständig dem Primat praktischer Verwertbarkeit unterwirft, trägt die Beschäftigung mit geistigen Dingen in Utopia Züge eines selbstzweckhaften Ideals und verlässt damit sichtlich die rein instrumentelle Perspektive. Gleichwohl bestehen die pädagogischen Institutionen nicht allein um ihrer selbst willen. Allen voran leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur Verbrechensprävention. „Wenn ihr nämlich zulaßt“, so hatte Raphael bereits im ersten Buch kritisiert, „daß die Menschen grundschlecht erzogen und ihre Sitten von Kind auf allmählich verdorben werden, dass sie erst dann bestraft werden sollen, wenn sie als Männer die Schandtaten begehen, auf die sie von ihrer Kindheit an ständig hoffen ließen, was anderes, so frage ich, als Diebe züchtet ihr, um sie dann zu hängen?“ 61 In Utopia hat man solchen staatspolitischen Dummheiten längst Abhilfe verschafft. Raphaels Schilderung vermittelt vor allem das Bild, wonach die Menschen nicht von Natur zum Bösen bestimmt, sondern vielmehr durch schlechte Normen, schlechten Umgang und falsche Erziehung erst zu Kriminellen gemacht werden.

Einem ausgesprochen positiven Vernunftbegriff folgt auch die Ethik der Utopier. Anders als später in der modernen Naturrechtslehre stehen allerdings nicht menschliche Würde oder vorstaatliche Rechte im Mittelpunkt, sondern die Frage, worauf „das Glück des Menschen“ beruhe. Die Antwort qualifiziert das ethische Konzept als ein weitgehend eudämonistisches Modell, denn ausdrücklich ist es die „Lust“, in der die Utopier „das menschliche Glück überhaupt oder doch dessen entscheidendsten Grund sehen.“ 62 Freilich ist das Glücks- und Luststreben keine wahllose Suche nach immer neuer und möglichst häufiger Befriedigung körperlicher Bedürfnisse. Plakativ formuliert: Morus’ Utopier sind Eudämonisten, nicht Hedonisten. Die falschen Bedürfnisse sollen den wahren Freuden nicht im Wege stehen. Als ein solch falsches Bedürfnis gelten den Utopiern zum Beispiel die Gier, sich wegen persönlichen Reichtums mit „eitlen und sinnlosen Ehrenbezeigungen“ 63 bewundern zu lassen. Was die Mehrzahl der Menschen für gewöhnlich begehrt – Schmuck, Kleider, Edelsteine, Ehre, Adel – all das hat nach Ansicht der Utopier mit dem wahren Wert der Dinge nichts gemein. Die Orientierung an der utilitaristischen Rationalität übertragen die Utopier daher auch auf die Wertigkeit natürlicher Ressourcen. „Nur (…) die Torheit der Menschen (hat) der Seltenheit einen besonderen Wert beigemessen. Die Natur dagegen hat wie eine gütige Mutter gerade das Beste am zugänglichsten gemacht: die Luft, das Wasser, den Ackerboden“ 64. Zur Gänze unbegreiflich ist den Utopiern folglich, weshalb „das von Natur aus so unnütze Gold heutzutage überall in der Welt so hoch geschätzt wird“ 65. Für diese verquere Logik haben die Utopier kaum mehr als Spott und Verachtung übrig. Bezeichnenderweise machen sie aus ihren Goldbeständen Ketten für die Gefangenen und Nachtgeschirr.66

Das deutlichste Beispiel einer dezidiert utilitaristischen Ethik liefert schließlich das Institut der Euthanasie: Wenn dem menschlichen Leben keine Freude mehr abzugewinnen und die Nutzlosigkeit des Weiterexistierens für alle Beteiligten offenkundig geworden sei, dann soll der Betreffende ohne Furcht, aber voller Hoffnung aus dem Leben treten.67 Das ethische Fundament der Utopier ist folglich kein christlicher, sondern ein ausschließlich vernünftiger Moralkodex. Auffallend ist jedoch zugleich, dass die geschilderten Vernunftkonzeptionen in den Bereichen Ethik und Landesplanung nicht vorbehaltlos in ein widerspruchsfreies Bild zu fügen sind: Das Verhalten, mittels Vernunft die Natur zu kontrollieren und sie den eigenen Nützlichkeitsvorstellungen gemäß zu beherrschen, verträgt sich nicht ohne Weiteres mit der Auffassung, sich vollkommen in die natürliche Ordnung zu integrieren und die Stimme der Natur dabei als Weisung der Tugend und Vernunft gleichermaßen zu deuten.

Wie kaum ein anderer Lebensbereich ist schließlich die Wirtschafts- und Sozialordnung unter die Bedingung einer gemeinwohlorientierten Nutzenmaximierung gestellt. Dem weitgehenden Luxusverzicht steht ein Überfluss an notwendigen Gütern der Grundversorgung gegenüber. Es herrscht allgemeine Arbeitspflicht – für Männer wie Frauen. Essen gibt es nur gegen geleistete Arbeit und so kennen die Utopier weder Tagediebe noch Bettler, weder untätige Großgrundbesitzer noch faule Ordensbrüder. Eine tägliche Arbeitszeit von sechs Stunden reicht aus, „um alles das bereitzustellen, was unentbehrlich oder nützlich“ ist.68 Der eklatante Gegensatz zu den von Raphael im ersten Buch geschilderten Zuständen in Europa ist kein Zufall; der Kontrast ist zweifellos gewollt. Das beständige Insistieren auf die allgemeine Nützlichkeit wird schließlich bis zur Absurdität gesteigert: Ist ein Utopier auf Reisen, so muss er spätestens am zweiten Tag bei einem Kollegen seinem Beruf nachgehen, will er etwas zu essen erhalten. Das ist eine Forderung, die sich in der Realität so wenig umsetzen lässt, dass sie beinahe unvernünftig anmutet. Auch besitzen die Utopier Brutmaschinen zum Zwecke der Hühnerzucht. Mögen dies auch hocheffiziente Mittel sein, so waren doch derartige Dinge für Morus’ Zeitgenossen noch so fremd, dass man sie als reine (nutzenmaximierende) Fantasiekonstruktionen auffassen musste. Darüber hinaus ziehen die Utopier Ochsen den Pferden vor, denn zum einen seien sie ausdauernder, zweitens weniger anfällig für Krankheiten, drittens sei ihr Unterhalt billiger, und viertens könne man sie am Ende noch verspeisen.69 Vergleichbare Ironiesignale und satirisches Spiel gibt es in der Utopia zuhauf. Sie schaffen immer wieder eine kritische, zur Reflexion auffordernde Distanz. Dieses Muster ist ferner eine häufige Quelle des Humors: Mag sich das Verhalten auch für überzogen oder absurd ausnehmen, es folgt ohne Einschränkung einer konsequenten Grundhaltung.

 

Neben dem Nützlichkeitsdenken ist es der Kollektivismus, der im Bereich von Ökonomie und Gesellschaft konsequent verwirklicht scheint. So praktizieren die Utopier alle zehn Jahre einen Wechsel ihrer Häuser, deren Türen sich jederzeit von jedermann öffnen lassen: „so gibt es keinerlei Privatbereich.“ 70 Auch Privateigentum ist den Utopiern fremd: Produktion, Güterverteilung und Arbeitsorganisation basieren nicht auf der Realisierung individuellen Gewinnstrebens, sondern auf kollektiver Planung. Im Gegensatz zu Platon, der die Gütergemeinschaft zum Privileg der obersten Stände erklärte, gilt der Kommunismus in Utopia für alle.71

Raphaels flammendes Plädoyer für das Gemeineigentum der Utopier war häufig Anlass zur Vermutung, Morus habe mit seiner Utopia eine dezidiert kommunistische Weltanschauung propagieren wollen. In Wahrheit hat Morus aber rechtmäßig erworbenes Eigentum nicht nur mehrfach verteidigt, sondern auch in einer Spätschrift dem Reformator und englischen Bibelübersetzer William Tyndale „schreckliche Häresien“ vorgeworfen, weil dieser behauptet habe, die von Gott gegebenen Güter und das Land müssten dem Evangelium zufolge allen Menschen gemeinsam gehören.72 Auch in der Utopia selbst widerspricht der Dialog-Morus dem Kommunismus an zwei Stellen des Textes und macht sich dabei das traditionelle, auf Aristoteles zurückgehende Argument gegen den platonischen Kommunismus zu eigen: Neben der Schlussszene 73 gibt er schon im ersten Buch zu bedenken: „Mir dagegen (…) scheint dort, wo alles Gemeingut ist, ein erträgliches Leben unmöglich. Denn wie soll die Menge der Güter ausreichen, wenn sich jeder vor der Arbeit drückt, da ihn keinerlei Zwang zu eigenem Erwerb drängt und ihn das Vertrauen auf fremden Fleiß faul macht?“ 74 Raphael begegnet diesem Einwand lediglich mit der paradoxen Bemerkung: Morus hätte mit ihm in Utopia sein sollen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Den Zweifel kontert Raphael also weder mit einer Erklärung, geschweige denn mit einem einzigen Argument. Vielmehr antwortet er mit dem Verweis auf die Existenz Utopias, von der der Leser weiß, dass sie nur im Kopf des Autors existiert. Raphaels radikale Position scheint damit weitgehend als wirklichkeitsfremd entlarvt. So wenig der konsequente Produktions- und Güterkommunismus mit Morus’ persönlichen Ansichten vereinbart scheint, so sehr fügt er sich doch in das Porträt der strikt kollektiven Lebensweise der Utopier.

Mit Blick auf die sozialen Strukturen der Utopier ist zunächst auffallend, wie sehr der Familienverband die Keimzelle des gesamten gesellschaftlichen Lebens ist. Ehepartner wegen körperlicher Gebrechen oder Krankheit zu verstoßen, zieht lebenslanges Heiratsverbot nach sich. Ehebrechern droht Zwangsarbeit, im Wiederholungsfall wartet sogar die Todesstrafe. Dennoch praktizieren die Utopier ein vergleichsweise liberales Eherecht, das dem christlichen Sakramentsgedanken stracks zuwiderläuft. Scheidung und Wiederverheiratung ist prinzipiell erlaubt, sofern beide Partner und der Senat ihr Einverständnis erklären. Satirisch überzeichnet ist dagegen eine andere Sitte: Die heiratswilligen Utopier werden vor der Hochzeit einander nackt präsentiert, um zu verhindern, dass sich später Enttäuschung breit macht, schließlich würde man selbst „beim Kauf eines elenden Gauls“ nicht anders verfahren.75 Insgesamt ist die große Bedeutung von Ehe und Familie zweifellos ein konservatives und traditionalistisches Element, das über weite Strecken mit christlich-mittelalterlichen und auch mit Morus’ eigenen Wertmaßstäben in Einklang steht. Wenn Raphael dann allerdings schildert, dass die durchschnittliche Familie in den Städten Utopias zehn bis 16 erwachsene Mitglieder zählt und dass bei Überschreiten der Höchstzahl Kinder an kleinere Familienverbände abgegeben werden,76 dann prallen zwei völlig unterschiedliche Vernunftkonzeptionen aufeinander. Die staatliche Direktive, Kinder aus ihren Familien zu reißen, nur weil die Quantitäten nicht dem staatlich verfügten Optimum entsprechen, kommt einem Generalangriff auf alle natürlich gewachsenen Sozialstrukturen gleich. Die Maßnahme mag als rigide Überzeichnung politisch-administrativer Lenkungsmethoden des Staates gelten. Und das berechtigt zu dem Schluss, dass hier offensichtlich erneut nicht eine ernst gemeinte Reformperspektive vorgetragen, sondern vielmehr die Konsequenz eines gedanklichen Prinzips ausgemalt wird.

Aus der mathematisch-geometrischen Familien- und Landesstruktur geht auch das politische System im engeren Sinn hervor: Je 30 Familien wählen sich jährlich einen Syphogranten; je zehn dieser Vorstände einen Traniboren. Alle Syphogranten, 200 an der Zahl, wählen in geheimer Abstimmung einen von vier, durch das Volk nominierten Kandidaten zum Oberhaupt einer Stadt. Dieser Wahlmonarch amtiert für gewöhnlich lebenslang; sofern er jedoch tyrannische Züge entwickelt, kann er abgesetzt werden. Die Traniboren, für jeweils ein Jahr gewählt, bilden den Senat, der zudem die höchste richterliche Instanz verkörpert. Schließlich kennen die Utopier noch einen „Rat der gesamten Insel“, über den aber kaum etwas ausgesagt wird, außer dass er sich einmal jährlich aus jeweils drei erfahrenen Bürgern der 54 Städte zusammensetzt. Auffallend ist, dass auch von anderen überregionalen Staatsorganen keine Rede ist. Es scheint, als würden die Utopier hauptsächlich von städtischen Senatsversammlungen regiert. Dass es noch einen König gibt, analog zum Verfassungsgeber Utopos, ist höchst unwahrscheinlich. Morus begnügt sich mit der Schilderung der lokalen Verwaltungspraxis. Obwohl die utopischen Städte in Sprache, Sitten, Einrichtungen und Gesetzen vollkommen übereinstimmen, basiert ihr politisches System auf einer ausgeprägten föderalen Struktur.

Hervorgegangen sind alle Institutionen aus den Prinzipien der Wahl und der Repräsentation. Die Bezeichnung „liberale Demokratie“ würde allerdings in die Irre führen, denn es gibt keine erklärte Privat-, geschweige denn eine kodifizierte Sphäre von Grund- oder Bürgerrechten. Aufgabe der politischen Institutionen ist nicht die Ausführung eines erklärten Bürgerwillens, sondern weit mehr Überwachung und Kontrolle: So ist eine zentrale Funktion der Syphogranten, dafür Sorge zu tragen, dass niemand müßig herumsitzt. Die Syphogranten sind darüber hinaus die einzige Gruppe, die nicht zwingend jener Gelehrtenkaste – den 500 von der Arbeit freigestellten Wissenschaftlern einer Stadt – angehören, aus der sich ansonsten das politische Führungspersonal rekrutiert. Die Regierungsform qualifiziert sich insofern als Mischung aus Gelehrtenaristokratie und Demokratie und es scheint, als habe hier die Idee der platonischen Philosophenherrschaft zumindest teilweise Pate gestanden. Nicht zuletzt aber ist die politische Ordnung das Konstrukt einer strikt rationalen Herrschaftspraxis. Der Politikbegriff ist kein rein politischer, sondern soziologisch universal: Wirtschaft, Arbeit, Erziehung, Kultur und Herrschaft bedingen und stabilisieren sich gegenseitig. Exemplarisch zeigt sich das am Rechtssystem: Weil die Utopier infolge ihrer vorbildlichen Erziehungseinrichtungen den moralischen Normen aus innerem Antrieb folgen, ist übermäßiger Zwang von außen nicht erforderlich. Die Utopier bedürfen nur wenig der Gesetze und Gerichte, sie hegen Abscheu gegen Regulierungswut und spitzfindige Juristerei und halten grundsätzlich die einfachste Auslegung der Rechtstexte für die richtige.77

Das alles dominierende Prinzip ist allerdings auch in der Strafrechtspraxis der Zweckrationalismus. Generell gilt der Vorrang der Zwangsarbeit vor der Todesstrafe. „Denn einmal nutzen sie durch ihre Arbeit mehr als durch ihren Tod und dann schrecken sie durch ihr warnendes Beispiel andere länger vor einer ähnlichen Missetat ab.“ Die Todesstrafe kennen die Utopier allerdings neben wiederholtem Ehebruch noch bei einem weiteren Vergehen: Wenn Häftlinge sich „widerspenstig und aufsässig verhalten, dann freilich werden sie wie wilde Tiere, die Käfig und Ketten nicht zu bändigen vermögen, totgeschlagen.“ 78 So brutal diese Praxis anmutet, sie ist nicht allein zynischer Natur. Das Vorgehen erscheint noch immer humaner als die von Raphael im ersten Buch so heftig attackierte Behandlung der Bettler und Diebe in Europa. Für die rationalen Prinzipien der Utopier markiert die Todesstrafe auch kein ethisch-systematisches Problem; für die europäischen Christen hingegen, die weitaus häufiger zu diesem Mittel greifen, müsste eigentlich schon die Überzeugung, wonach Gott allein das Leben gibt und nimmt, einer derartigen Praxis vorbeugen. Wenn die Europäer in dieser Frage aber noch deutlich unerbittlicher zu Werke gehen, dann trifft sie die Kritik zweifellos doppelt.

Kein wirklich anderes Bild zeigt sich zunächst auch in Sachen utopischer Außen- und Kriegspolitik – und doch ist in diesem Bereich die Diskussion um die Vernunft auf dramatische Weise zugespitzt. Obwohl gleich zu Beginn des Abschnitts mitgeteilt wird, dass die Utopier den Krieg als etwas Bestialisches verabscheuen, kennen sie eine erstaunlich weit gefasste Skala an Gründen, die einen Krieg rechtfertigen. Sie führen zwar niemals Angriffskriege, doch als zulässig erachten sie: den Verteidigungskrieg, sowohl in eigener Sache wie zugunsten ihrer Freunde; den Befreiungskrieg gegen Tyrannen unterdrückter Völker; den Vergeltungsfeldzug für ihre Verbündeten, der kurioserweise meist aus kapitalistischen Handelstreitigkeiten ihrer Freunde resultiert.79 Und schließlich erscheint ihnen auch noch der Krieg zum Zwecke der Bodennutzung auf fremdem Territorium für legitim. Die Parallelen sind schwerlich zu übersehen: Wie die europäischen Herrscher, so wenden sich auch die Utopier lauthals gegen den Krieg, beschwören ihre Friedensliebe und finden dann allerlei Gründe, um doch zu kämpfen.

Dieses satirische Vorgehen setzt sich in gleicher Weise bei den Praktiken der Kriegsführung fort. Als Maßnahmen bevorzugen die Utopier zum Beispiel Feinde mit Geld zu bestechen, sie zum Verrat in eigener Sache anzustiften und das feindliche Volk durch innere Zwietracht zu zermürben. Ritterliche Tugenden wird man den Utopiern dabei kaum nachsagen wollen, auch wenn ihre Methoden zumindest geeignet scheinen, das Blutvergießen in Grenzen halten. Spätestens wenn jede List versagt, endet aber auch bei den Utopiern der Rekurs auf den humanitären Zweck. Es werden dann – um den eigenen Blutzoll zu vermeiden – fremde Völker in den Kampf gehetzt und Söldner gemietet. Die Söldnertruppen entstammen vor allem dem Volk der „Zapoleten“ und die Beschreibung von Heimat und Lebensweise dieses Volkes lässt nur den Schluss zu, dass es sich um eine ziemlich unzweideutige Anspielung auf die Schweizer Söldnerheere handelt, die seinerzeit in fast allen Armeen Europas kämpften.80 Über die Motivation, sich gerade der Zapoleten zu bedienen, erklärt Raphael: „Denn so gern sich die Utopier die Dienste guter Leute zunutze machen, so gern ziehen sie diese grundschlechten heran, um sie auszunützen. (…) Es kümmert sie nämlich nicht, wie viele von ihnen sie zugrunde richten; vielmehr sind sie überzeugt, dass sie sich den größten Dank des menschlichen Geschlechtes verdienten, wenn sie den Erdball von diesem Abschaum der Menschheit, von diesem ganzen abscheulichen und verruchten Volke reinigen könnten.“ 81

 

Hier nun gerät man endgültig ins Staunen: Vom Geist der Humanität, von dem an anderer Stelle beschworenen, „natürlichen Band“ zwischen den Menschen, ist kein Funke mehr zu spüren.82 Die Vernunft schlägt gänzlich in ihr inhumanes Gegenteil um. Nicht blanke Unvernunft aber spricht aus den Methoden und Zielen ihrer Kriegsführung. Vielmehr dominiert eine spezielle, bis ins äußerste Extrem gesteigerte Seite der Vernunft, nämlich das allein effiziente Nutzenkalkül, das dem kollektiven Eigeninteresse alle Handlungsoptionen unterordnet. Mehr noch: Mit zynischer Rechtfertigung beweihräuchern sich die Utopier selbst, wenn sie ein ganzes Volk zum Abschaum erklären und dieses im angeblichen Dienst für die Menschheit der Vernichtung preisgeben. Man steht damit endgültig vor den Ambivalenzen der Vernunft. Diese ist – so muss man das Experiment der Utopia verstehen – ein höchst zweischneidiges Schwert: Führte die Vernunft bisher in der überwiegenden Zahl der Fälle zu gesunden und sympathischen Wertvorstellungen, zu effizienten Institutionen und ebenso menschlichen wie nützlichen Sitten, so lässt sich Gleiches über die kalte Brutalität der Kriegspolitik nicht mehr behaupten. Hier sind die Utopier sogar schlimmer als die Europäer. Wie in einem satirischen Spiegelbild können die „christlichen“ Regenten Europas am Verhalten der Utopier ihre eigene Verwerflichkeit – in deutlich zugespitzter Form – besichtigen. Der Effizienzgedanke ist in einer Weise auf die Spitze getrieben, dass ziemlich unzweideutig die Warnung vor einer Rolle der Vernunft ausgesprochen wird, die sich selbst absolut und damit ins Unrecht setzt.

Auch der letzte Abschnitt ist eine Diskussion menschlicher Vernunft. Mit dem Kapitel zur utopischen Religion werden allerdings nicht mehr Ausprägungen in einzelnen Teilbereichen erörtert, vielmehr steht die Vernunft als Ganzes auf dem Prüfstand. Indem das Verhältnis zum Glauben ausgelotet wird, geht es um Rolle und Funktion, Leistungsfähigkeit wie -grenzen menschlicher Rationalität insgesamt. Auffallend ist zunächst, wie sehr die Vernunft eine tolerante Grundhaltung gebietet. Auf der Insel gilt grundsätzlich, „daß jeder der Religion anhängen dürfe, die ihm beliebe; andere aber zu seiner Religion zu bekehren, dürfe er nur insoweit versuchen, daß er seine Anschauung ruhig und bescheiden mit Vernunftgründen belege“ 83. Die Religionsfreiheit hat eine erstaunliche Fülle unterschiedlicher Sitten, Kulte und Traditionen zur Folge, die von der Verehrung der Sonne, des Mondes, verschiedener Planeten bis hin zur Huldigung eines bestimmten Menschen als höchste Gottheit reicht. Eine Einheitsreligion kennen die Utopier demnach nicht, und doch findet der Glaubenspluralismus in der Vernunft gewissermaßen eine Grenze; denn sie sorgt tendenziell dafür, dass die Utopier sich zunehmend von abergläubischen Vorstellungen abwenden und sich jener Religion anschließen, „die die anderen an Vernünftigkeit zu übertreffen scheint.“ 84 Diese rationale Fundierung des Glaubens hat einen einfachen Grund: „Das ist ihre Auffassung von Tugend und Lust“, so war bereits im Abschnitt über die ethischen Grundsätze zu lesen, „und sie sind der Ansicht, es lasse sich mit menschlicher Vernunft keine richtigere ergründen, es sei denn, eine himmlische Offenbarung gebe dem Menschen eine erhabenere ein.“ 85 Die Utopier entbehren also der Gnade göttlicher Offenbarung. Die Passage ist von weitreichender Bedeutung, weil sie den wohl zentralsten christlichen Glaubenssatz der damaligen Zeit berührt. Dieser wurzelt in Thomas von Aquins Lehre vom Natürlichen und Übernatürlichen, und seine Kernaussage lautet: „Ferner war es zu allem hin, was menschliche Vernunft bezüglich Gottes erkunden kann, doch notwendig, daß der Mensch auch durch göttliche Offenbarung unterrichtet wurde.“ 86 Von den beiden Wegen der Glaubenserkenntnis – menschliche Vernunft (humana ratio) und göttliche Offenbarung (caelitus immissa religio) – verfügen die Utopier aber lediglich über das erstgenannte Prinzip. Und damit sind sie eindeutig als Heiden im Sinne des genannten Glaubenssatzes gekennzeichnet.

Insofern ist interessant zu sehen, zu welch religiösen Einsichten die Utopier nun ausschließlich mit Hilfe der Vernunft gelangen. Auch hier liefert die Utopia eine klare Antwort: „Der bei weitem größte und der weitaus vernünftigste Teil (…) glaubt (…) an ein einziges unbekanntes, ewiges, unendliches, unbegreifliches göttliches Wesen, das die menschliche Fassungskraft übersteigt“ 87. Sowohl Monotheismus wie Unendlichkeit Gottes, seine Unfassbarkeit, Vollkommenheit und Güte ergeben sich demnach aus der reinen Vernunfterkenntnis. Das hat sogar zur Folge, dass Atheisten und Materialisten von den Utopiern nicht zu ihren Staatsbürgern gezählt werden, ja „nicht einmal unter die Menschen“ 88. Bemerkenswert ist, dass auch Thomas von Aquin zu der analogen Überzeugung gelangt war, dass das „Dasein Gottes (…) durch die natürliche Vernunft (…) bekannt sein kann“ 89 und dass jeder vernünftige Mensch guten Willens zu erkennen vermag, dass Gott eins ist, vollkommen, unendlich, ewig und gut. Klar scheint damit, dass Morus im Religionskapitel der Utopia vor allem eine zentrale theologische Grundsatzfrage seiner Zeit erörtert hat, wobei die Kernaussagen weitgehend auf dem Boden der thomistischen Lehre stehen.

Beim Blick auf die utopische Religion ist man letztlich also weit mehr geneigt, die erstaunlichen, allein rational ermittelten Übereinstimmungen zu christlichen Glaubensinhalten zu bestaunen, weniger hingegen die unvereinbaren Gegensätze. Gleichwohl sind und bleiben die Utopier – mangels Offenbarung – Heiden im streng theologischen Sinn des genannten Glaubensgrundsatzes; und natürlich hat sich der Christ Morus keinen heidnischen Staat als Ideal erträumt. Auch zahlreiche Praktiken, etwa das Frauenpriesteramt, die Euthanasie-Erlaubnis oder die Heirat der Priester sind letztlich inkompatibel mit dem Katholizismus. Der Sinn dieser Konstruktion lässt sich jedoch einigermaßen vollständig klären. Unterstellt man, dass Morus erstens den Verhältnissen im christlichen Europa einen kritischen Spiegel vorzuhalten versuchte, und dass er zweitens mit der Utopia diskutierte, wie weit die Vernunfterkenntnis selbst noch in Glaubensfragen trägt, dann ergibt sich daraus eine weitere Einsicht: Die Utopia ist ganz absichtsvoll heidnisch konzipiert, denn zum einen wäre das Vernunftexperiment angesichts vorbildlicher Christen überhaupt nicht mehr durchführbar gewesen; zum Zweiten gewinnt die Kritik fraglos an Deutlichkeit, wenn die Utopier gerade ohne die Gnade göttlicher Offenbarung in vielfacher Weise zu besseren Einrichtungen gelangen als die europäischen Christen. In diesem Sinn ist auffallend, dass auch der kritische Geist der Utopia selbst vor der zeitgenössischen Praxis der christlichen Religion nicht haltmacht. So heißt es – und dieser Schlag trifft mit Gewissheit die Geistlichen Europas: Die Priester Utopias seien allesamt frei gewählt, ausgesprochen fromm und durchweg hoch angesehen, sie besäßen außer ihrer ehrenvollen Stellung keinerlei Machtbefugnisse und daher gebe es in Utopia auch nur sehr wenige.90

Der Sinn, der aus der Beschreibung der vernünftigen Religion der Utopier hervorgeht, lässt sich daher kaum mit blanker Unernsthaftigkeit erklären, geschweige denn mit dem Ideal eines Autors in einer heidnischen Lebensphase. Das Rätsel, das späteren Rezensenten eine scheinbar unlösbare Aufgabe hinterlassen hat, dient vielmehr den zentralen Intentionen der Schrift: der Kritik, dem rationalen Experiment und dem diskursiven Anliegen.

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