Die Hölle von Mumbai

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Die Hölle von Mumbai
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Mumbai fasziniert. Mumbai flirrt in der Hitze und ist umhüllt von Smog. Mumbai stinkt meist, aber manchmal duftet es sogar. Mumbai ist arm und reich zugleich. Aber vor allem: Mumbai lebt! Überall sieht man farbenfrohe Verkaufsstände, geschäftige Marketender und den lauten, chaotischen und trotzdem funktionierenden Straßenverkehr. Unter Brücken tummeln sich nicht selten ganze Familien mit ihrem bescheidenen Hab und Gut. Man sieht sie am Abend ein Feuer mit Papier, Karton und anderen herumliegenden machen, während die Kinder darum herumtollen. Damit produzieren die Inder diesen unnachahmlichen verkohlten, modrigen Geruch, der einem schon beim Landeanflug durch die Klimaanlage des Flugzeugs entgegenschlägt. Die Leute schauen dabei nicht unglücklich aus, sie arrangieren sich mit den Umständen. Das ist nämlich die andere Seite von Indien: Das Herz berührende Geschichten, die sich hinter dem vordergründigen Chaos, Lärm und Gestank abspielen. Wir kommen zu einem Friseurladen. Ein Opa liegt davor und macht Siesta, und wir wollen schon wieder gehen. Da sagt der alte Mann:

“No, wait, my friend. My son is inside. I’ll tell him.“

Tatsächlich empfängt einen dieser in einem Raum mit ein paar alten Holzstühlen und hat einige unhygienische Kämme und Scheren bereitliegen. Wir betreten den spartanisch eingerichteten Raum, aber nicht bevor wir geschickt die Kuh im Eingang umkurvt haben, die nicht berührt oder gar verjagt werden darf. Man muss wissen, dass die Kuh in Indien wie ein Heiligtum behandelt wird und auf keinen Fall verzehrt werden darf. Dies ist aber ohnehin unwahrscheinlich, da sich gefühlte 99 Prozent der Inder vegetarisch ernähren. Als mein Freund sich die Haare schneiden lässt, wird er nicht nur herzlich von der ganzen Verwandtschaft begrüßt, sondern darf auch westliche Filme anschauen – es handelt sich um amerikanische Seifenopern. Das ist ein Zeichen der Gastfreundschaft und der Wertschätzung. Danach wird er noch zwanzig Minuten massiert. Ich schaue von einer schäbigen Holzbank aus zu. Plötzlich klopft es von oben. Als ich in Richtung Geräusch blicke, bemerke ich, dass sich an der Decke eine Luke befindet, die zu einem Dachboden darüber führt. Ich entscheide mich, die Holzbank zu verlassen, als die kleine Tür von oben geöffnet wird und jemand von unten eine Leiter an die Öffnung heran schiebt. Es steigen ein paar sehr dunkelhäutige Männer herunter, die sich offensichtlich dort oben vor der Hitze geschützt und einen Mittagsschlaf gemacht haben. Sie wollen jetzt wieder am Leben darunter teilhaben.

Solche und andere Anekdoten machen den beschaulichen Charme Indiens aus. Man kann den Indern weder ihre Versäumnisse und Verspätungen, noch ihre Aufdringlichkeit übelnehmen. Sie machen alles durch ihre spezielle Liebenswürdigkeit, Offenheit und gutmütige Naivität wieder wett. Eine Kollegin von mir wurde von der Hotelrezeption folgendermaßen geweckt, obwohl der Telefonanruf bereits seit fünfzig Minuten überfällig war:

„Excuse me, this is your wakeup call. Sorry for being late. Your pickup is in ten minutes.“

Die zu bemitleidende Kollegin war erst einmal perplex und hatte kaum noch Zeit, um den Bus zu erreichen, der die Flugcrew zum Flughafen brachte. Als sie abgehetzt am Hotelempfang angekommen war, musste sie den Angestellten dennoch kopfschüttelnd angrinsen, weil sein Anruf so ehrlich, unaufgeregt und selbstverständlich war. Typisch indisch eben. Die Sätze waren bestimmt mit Kopfwackeln und singendem Ton begleitet worden.

Diese anrührenden zwischenmenschlichen Szenen werden aber leider durch einen geschichtlichen Aspekt getrübt, der weit schwerer wiegt und noch von Gandhis Zeiten herrührt. Die abgrundtiefe Abneigung von Moslems und Hindus, die in die Abspaltung Pakistans von Indien mündete. Die tiefe Kluft zwischen den beiden Religionen scheint noch heute nicht überwunden. Sie könnte auch die Ursache für einen der schlimmsten Terrorangriffe des 21. Jahrhunderts sein, welcher die indische Metropole im Spätherbst 2008 heimsuchte.

Gewidmet all den unschuldigen Opfern des 26.11.2008, die viel zu früh sterben mussten.

Die Guten und Reinen müssen alles Böse tragen. (Indisches Sprichwort)

Die Hölle von Mumbai

„Eine Suppe, heiß und köstlich dampfend, im Kreis der Familie. Ist es die leckere Blumenkohlsuppe meiner Mutter? Nein, die Farbe ist dunkler. Grün, nein, sie ist rot… Es spritzt aus der Suppe, wie wenn ein Stein hineingefallen wäre. Nein, jemand schnalzt mit dem Löffel in die Suppe. Da sind noch mehr Leute…. Meine Familie läuft weg und auch meine Freundin. Was ist los? Ein Gewitter zieht auf? Und trotzdem laufen wir aus dem Haus?“

Schweißgebadet wache ich auf. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll. In letzter Zeit habe ich mehrere solcher Träume gehabt. Es muss mit dieser Sache in Mumbai zusammenhängen…

Mumbai, 26.11.2008

Mumbai, bis 1996 offiziell Bombay, ist die Hauptstadt des Bundesstaates Maharashtra in Indien und die wichtigste Hafenstadt des Subkontinents. Sie ist die sechstgrößte Metropolenregion der Welt…. Das Stadtzentrum befindet sich auf einem schmalen Landstreifen, der vor der sumpfigen Küste in das Arabische Meer hineinragt. Die Stadt ist das wirtschaftliche Zentrum Indiens. Mumbai ist mit 12,5 Millionen Einwohnern … die größte Stadt in Indien.

Zahlreiche Gebäude im Zentrum Mumbais sind in einer regionalen Variation des Historismus erbaut worden, die teilweise britisch inspiriert…. ist. (Quelle: Wikipedia)

Es ist ein wunderschöner, warmer, wenn nicht heißer Tag in Mumbai. Man kann sogar sagen, der Himmel ist fast wolkenlos und eine angenehme Brise weht vom Meer her. Wir haben beschlossen, die idyllische Elefanteninsel, ein Weltkulturerbe der UNESCO zu besuchen. Wir, das sind die fünf Flugbegleiter, Irmgard, Erna, Maria, Isabella und ich, außerdem der Norweger Arne, den Isabella am Pool kennengelernt hat, ein Shipping Manager, wie er selbst versichert. Stewardessen und Stewards logieren in den schönsten Hotels während ihrer Layovers, ihren Aufenthalten im Ausland, da sie möglichst ausgeruht zu ihren Rückflügen kommen müssen. Schließlich müssen sie oft die Nacht durcharbeiten, mit nur kurzen Möglichkeiten zum Ausruhen. So haben die Unterkünfte meistens tolle Frühstücksbüffets, Swimmingpools, manchmal sogar hübsch angelegte Outdoorpools mit Palmen und umfangreich ausgestattete Fitnesscenter. Flugbegleiter lernen sich meist das erste Mal auf dem Flug kennen. Oder sie sind schon einmal miteinander geflogen, aber meist ist das schon lange her. Das hindert sie aber nicht daran, sich bereits beim ersten Mal ihre ganze Lebensgeschichte zu erzählen, sie wissen ja, dass sie nicht lange Gelegenheit dazu haben, eben genau ein Layover lang. Und man möchte ja offen und locker sein, um möglichst viele Freundschaften zu erlangen. Schließlich sind die meisten Flugbegleiter und Purser, die Kabinenchefs, sympathisch, sie haben meist eine hohe soziale Kompetenz und suchen die Gesellschaft anderer. Danach werden sie freilich auch ausgewählt. Das Cockpit ist meist auch nicht übel. Und die Piloten, je nach Länge der Strecke ein Kapitän mit einem oder zwei Copiloten, gehen immer noch nach dem Flug auf ein Bierchen und einen Burger, das ist natürlich auch nicht unwichtig. Das fördert die Harmonie innerhalb der Crew, die sehr wichtig ist, weil sie an Bord im Team zusammenarbeiten muss.

Wir neuen Gefährten flanieren an der Küstenpromenade entlang und unterhalten uns prächtig. Wir wollen die Fähre vom Gateway of India nehmen, einem riesigen Tor, das einem Triumphbogen gleich als Willkommenssymbol für Neuankömmlinge dient und gleich am Meeresufer auf neue Schiffe wartet. Es befindet sich unweit des Taj Mahal Hotels, dem Aushängeschild Mumbais, das mit seinem imposanten Turm ein prachtvoller Anblick für die Besucher ist, die gerade erst Festland betreten haben.

Unser Ziel ist die Elefanteninsel, ein idyllisches Eiland, mit einer Höhle, die eine Kultstätte für religiöse Feiern, Verehrungsriten und Andachten war. Ruhig ist sie nicht, weil meist Touristen hier verweilen, da die Insel sehr bekannt ist. So sind auch immer Verkaufsstände mit Souvenirs an den Treppen zu finden, die zur Höhle hinaufführen. Diese Stände sind mit Zeltplanen, die als Sonnenschutz dienen, überspannt. Und diese wiederum dienen den kleinen inselansässigen Äffchen als Spielplatz, an dem sie ihre Kletterkünste ausprobieren können. Bei den Verkaufsobjekten handelt es sich meist um indische Gottheiten, die so mannigfaltig sind, dass man leicht den Überblick verlieren kann. Ich kann mich nur noch an einen Elefanten mit mindestens vier Armen erinnern und an einen Shiva, einen langhaarigen Mann, der meist im Yogasitz abgebildet wird. Die Elefantengöttin trägt immer eine Art Krone auf ihrem Haupt, mit einem Heiligenschein darum.

Wir nehmen die Kunstgegenstände genau in Augenschein, als uns ein Pärchen auffällt, das gerade an demselben Verkaufshäuschen verweilt. Sie ist blond und noch relativ jung, so Anfang vierzig. Ich kann noch kein graues Haar entdecken. Sie ist eigentlich attraktiv, auch wenn die Nase sehr markant und eher lang ist, was das schmale Gesicht etwas in die Länge zieht. Der Mann ist schon etwas älter, hat sich aber ganz gut gehalten, obwohl sich unter seinem weit geschnittenen weißen T-Shirt mit einem aufgedruckten goldenen indischen Tempel -offensichtlich ein Souvenir- ein deutlicher Bauchansatz abzeichnet. Ich höre die Frau zu ihrem Partner sagen:

„Weißt Du eigentlich, wie dieser Gott im Schneidersitz heißt? Mir liegt es auf der Zunge!“

Normalerweise spreche ich ja nicht so gerne Deutsche im fernen Ausland an, da ich mich dann selbst gleich als Tourist oute und ich dann befürchten muss, die üblichen Floskeln austauschen zu müssen. Ich mische mich einfach lieber unter das Volk. Genauso geht es den meisten meiner Kollegen und Kolleginnen, die wie ich regelmäßig in sehr schöne Städte fliegen, die dann gleichzeitig Touristenmagnete darstellen. Dann will man anonym bleiben. Deshalb sind uns auch die beiden Deutschen nicht weiter aufgefallen. Aber als der Mann in den mittleren Fünfzigern neben ihr anscheinend auch nicht auf die Antwort kommt, mache ich eine Ausnahme. Da die beiden zudem einen sehr sympathischen Eindruck machen, mische ich mich ein:

 

„Der heißt Shiva, soweit ich weiß. Ist ein ziemlich wichtiger Gott bei den Indern!“

„Oh danke, ich wusste gar nicht, dass Ihr auch Deutsche seid! So klein ist die Welt!“

Okay, da waren sie wieder diese Floskeln, die ich meinte. Aber komischerweise bringt mich das an diesem Tag überhaupt nicht aus der Ruhe. Liegt es an meiner guten Laune aufgrund des wunderbaren Wetters oder doch an der netten Reaktion der Dame? Egal, ich unterhalte mich gern mit ihr weiter:

„Wo seid Ihr denn her? Euer Dialekt hört sich ziemlich bayerisch an.“

„Genau erraten! Wir können es nicht gut verbergen, glaub ich.“ sagt der grau melierte Herr.

„Macht nichts! Wir ja auch nicht!“ wirft Isabella ein, die immer sehr offen auf Leute zugeht. Wir lachen alle zusammen.

„Übrigens, ich heiße Petra!“

„Und ich heiße Uli!“ sagt die gut gelaunte neue Bekanntschaft. „Wir sind aus München!“

„Ach wirklich, wir kommen auch aus München! Das trifft sich ja gut!“ sagt Maria, die jetzt auch näher herangetreten ist.

„Was führt Euch denn in ein so fernes, exotisches Land?“ möchte Petra wissen. Ihren Beruf verraten Flugbegleiter normalerweise im ersten Satz noch nicht, da diese Aussage eine meist überschwängliche Reaktion hervorruft. Natürlich impliziert das Berufsbild Träume von exotischen Sandstränden und Sehnsucht nach fernen Ländern, aber gleichzeitig haben bestimmt fast die Hälfte aller Menschen Flugangst. Diese Gedanken schwingen bei der Antwort natürlich alle mit. Umso mehr bin ich positiv überrascht, als Petra auf unsere Antwort, dass wir Flugbegleiter seien, erwidert:

„Das ist ja toll! Das wollte ich auch immer werden!“

Sicherlich ist das auch nichts, was wir nicht schon oft gehört hätten, aber wir genießen einfach, dass wir so freundliche Landsleute getroffen haben und unterhalten uns während des gesamten Ausflugs weiter mit dem Pärchen. Auch auf der Rückfahrt mit dem alten Dieselschiff zur Gateway of India plaudern wir munter weiter über Gott und die Welt. Die alten Holzbänke sind erstaunlich gemütlich, trotzdem müssen wir manchmal unsere Hälse ganz schön verrenken, um den lebhaften Geschichten der verschiedenen Erzähler folgen zu können. Es ist inzwischen Abend geworden und ein wunderschöner Sonnenuntergang taucht das Meer in ein gelbrotes Farbenspiel, das wie aus dem Malkasten zusammengestellt zu sein scheint. Das hätte auch ein Claude Monet nicht schöner hinbekommen können. Dieses romantische Szenario versetzt uns in Hochstimmung, so dass wir spontan überlegen, gemeinsam in der Nähe des Triumphbogens im geschäftigen Colaba-Viertel essen zu gehen. Wir haben das Café Leopold im Auge, zumal es sehr beliebt bei Europäern ist. Außerdem hat es eine lange Tradition, die bis ins Jahr 1871 zurückreicht. Es gibt dort die typische indische Küche. Das erscheint uns allen eine gute Idee. Selbst Uli und Petra überlegen, ob sie dort hinkommen wollen:

„Vielleicht kommen wir noch nach! Wir müssen aber auf jeden Fall erst noch zum Hotel zurück, um unsere Einkäufe loszuwerden!“ Die beiden sind im Taj Mahal Hotel untergebracht, das sich unweit des Café Leopolds befindet.

Nachdem wir am Hafen anlegen, verabschieden wir uns herzlich von den neuen Freunden aus München in der Hoffnung, sie bald wiederzusehen. Danach machen wir uns auf den Weg zum Café Leopold, nicht ohne noch einen letzten Blick auf die idyllische Stimmung Richtung Elefanteninsel zu werfen, die jetzt schon in dunklere Rottöne getaucht ist. Ruhige Wellen bewegen sich sanft Richtung Küste - ein herrliches Panorama, welches sich da den Flanierenden bietet.

Als wir im Café Leopold, einem beliebten Treffpunkt aller Nationen und Kulturen, ankommen, werden wir nett begrüßt und der indische Kellner mit diesem braunen Teint, der so dunkel ist, dass er schon ins Schwarze überzugehen scheint, weist uns einen Tisch am Eck zu. Er befindet sich an zwei großen Fenstern, die sich nicht öffnen lassen und ist vom Eingang aus links ganz hinten in der Nische des Lokals. Wir sind bester Stimmung, auch wenn es jetzt draußen zu grollen anfängt, ein Gewitter zieht auf, nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Ich kann auch einen kurzen Blitz sehen. Der Kellner, der ein weißes, lockeres Hemd trägt und darüber eine grüne Weste, bringt uns die Speisekarte mit den typischen indischen Gerichten: Black Dal, Palak Paneer, Chicken Tikka, Nan, Garlic Nan und so weiter. Wie es unter „Fliegern“ üblich ist, entscheiden wir uns, von jedem etwas zu nehmen, um es dann später teilen zu können. So stehen kurz darauf Schüsseln mit Schafskäse in Spinat, Bohnen in einer schwarzen Soße, ein Teller mit Hähnchenkeulen in pikanter Brühe und natürlich Körbe mit dem indischen Fladenbrot auf dem Tisch bereit. Ich sage:

„Guten Appetit! Das schaut aber alles gut aus! Lasst es Euch schmecken!“

Die anderen pflichten mir bei und wünschen auch einen guten Appetit. Danach hört man nicht mehr viel, außer ganz leisem Schmatzen. Man unterhält sich über den schönen Aufenthalt auf der Elefanteninsel, die Freundschaftszeremonie am Gateway of India und über das schöne Wetter. Ich frage:

„Meint Ihr, dass Petra und Uli wirklich noch kommen?“

Maria erwidert: „Naja, ich weiß nicht. Die haben wahrscheinlich noch was Besseres vor!“

Wir lachen. Isabella sagt:

„Wollte nicht Thomas noch kommen und das Cockpit?“

„Ja, aber das war nicht so ganz sicher. Vielleicht sind sie in einen Stau geraten“ erwidert Erna.

„Und Thomas wollte doch Freunde besuchen und in irgendeiner Kirche beten.“

„Ja, der steht glaub ich auf den Hinduismus, strange!“ In diesem Stil geht die Unterhaltung weiter. Es ist zu bedenken, dass sich die Crew noch nicht lange kennt und tiefergreifende Gespräche demnach nicht zu erwarten sind.

Ein bisschen später, als der erste Hunger gestillt ist, gehen der Norweger Arne, Maria und ich vor den Haupteingang, eine breite, zweiflügelige Tür hinaus um Luft zu schnappen. Maria macht sich eine Zigarette an und zieht genussvoll den Nikotindampf ein. Sie schließt sogar leicht die Augen, ein Zeichen des Hochgenusses. Da könnte man direkt Lust kriegen, auch eine zu rauchen. Vor der Tür sind einige Verkaufsstände entlang der Straße zu sehen. Es wird einiger Krimskrams verkauft, wie Handyhüllen, Schlüsselanhänger, bunte Perlen und anderer Schnickschnack. Direkt vor uns dreien steht ein junger Inder, er ist auch ein Verkäufer, aber westlich gekleidet, mit Jeans und T-Shirt. Da er sehr nett aussieht, kommen wir Deutschen und der Norweger gleich mit ihm ins Gespräch.

“You are Europeans, aren’t you?“

“Yes, we’re from Germany.“

“Oh, Germany, that’s far away! What are you doing here?“

“We’re from an airline, we’re on our layover here.“

„Ah, I see.“

Nach einem weiteren kurzen Smalltalk gehen wir wieder hinein zu den Freunden. Drinnen unterhalten sie sich gerade darüber, welche Flüge noch nächsten Monat, im November, anstehen und ob die Flüge Potential haben, gut zu werden, oder ob die Flüge einfach in den Plan gepackt wurden und deshalb keine Begeisterung auslösen. So geht es noch eine Weile weiter bis Isabella anmerkt:

„Hey Leute, nehmt es mir nicht übel, aber ich werde langsam müde. Was haltet Ihr davon, wenn wir langsam aufbrechen würden?“

„Ja, Du hast recht! Am besten fragen wir den Kellner nach der Rechnung.“

Das tun wir dann auch:

„Waiter, the bill, please!“

Als ich in Richtung des Kellners schaue, bemerke ich am Nebentisch eine junge Inderin mit wunderschönen langen, schwarzen Haaren. Sie ist gerade mit einer Europäerin und - wie es aussieht - deren Freund in ein Gespräch vertieft. Ich denke noch, dass es schön ist, wenn sich Leute verschiedener Nationen und Kulturen so gut miteinander verstehen. Da kommt auch schon der Kellner im weißen Hemd und der grünen Weste mit der Rechnung. Natürlich ist der indische Kassenausdruck ein bisschen schwach gedruckt und ein bisschen chaotisch, aber nach längerem Hin und Her kann im Austausch mit den Kollegen der individuelle Betrag eruiert werden.

Wir wollen gerade zahlen, als uns ein lauter Knall aus der Ruhe bringt.

„Was war das?“, denke ich.

„Bestimmt ist irgendwas in der Küche hochgegangen.“

Ich schaue in die überraschten Gesichter der anderen. Die können sich den lauten Krach sichtlich auch nicht erklären. Ich schaue in die Küche, die ich rechts hinten ausmachen kann. Ich kann sie nicht direkt einsehen, aber erkenne in meinem Blickfeld nichts Außergewöhnliches. Plötzlich höre ich weitere kurze Knallgeräusche in wiederkehrendem, sich wiederholendem Rhythmus. Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr: Es handelt sich um Schüsse. Ich bin mir ganz sicher, ich war schließlich bei der Bundeswehr, habe meinen „Dienst an der Waffe“ verrichtet. Nun geht es ganz schnell, alles passiert gleichzeitig, die Konturen verschwimmen und die simultanen Ereignisse können später auch gar nicht mehr eindeutig voneinander abgegrenzt werden: Schreie, Hilferufe, Weinen, lautes Stimmengewirr in Englisch, Deutsch, Französisch und Indisch, aber eigentlich nur laute Wortfetzen und gar nicht eindeutig zu identifizieren. Leute krabbeln, laufen, rappeln sich hoch, fallen hin, fallen übereinander, schleppen sich nach draußen. Und da ist es Gewissheit: sie werden von Kugeln getroffen, fallen schreiend zu Boden, bleiben liegen, blutüberströmt. Alle, die an den Tischen am Haupteingang sitzen, versuchen sich irgendwie zu retten. Aber nur, um draußen in ein ungewisses Schicksal zu laufen, genauer gesagt in die Arme der Angreifer, die mit Kalaschnikows im Anschlag auf sie warten.

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