Revolution 1776 - Krieg in den Kolonien Sonderband

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„Heh, sehr großzügig, euer Wohlgeboren!“ Hans zog seinen Dreispitz und machte eine galante Verbeugung vor dem Grünrock.

„Schon gut, Hans. Ist ein Gruß vom Oberjäger und seinen Leuten. Sie hatten in der letzten Zeit ausgesprochenes Jagdglück, und wir können die Hirschkeulen schon bald nicht mehr sehen!“

Hans seufzte tief und verdrehte die Augen.

„Jäger müsste man sein! Nicht nur die schicke Montur, das gute Essen, der dicke Sold, nein, auch die Frauen laufen ihnen nach, dass man neidisch wird!“

„Na, na!“ Der Jäger drohte spaßhaft mit dem Zeigefinger. „Trag mal nicht so dick auf, Hans, denn du hast es wohl kaum schlechter. Satt wirst du allemal, bei deinen Beziehungen zum Fourier, und was die Frauen angeht, na, ich denke, sie lieben alle dein rostiges Haar!“

Der Jäger lachte dröhnend, klopfte ihm auf die Schulter und ging wieder zu seinen Leuten zurück.

„Ja, so sind sie, unsere Jäger!“, sagte Hans und warf dem Grünrock noch einen sehnsüchtigen Blick hinterher.

„Und unser Hans wäre zu gern einer von ihnen“, sagte Fritz.

„Ja, das wäre noch etwas! Diese schicke grüne Montur, das ist doch was anderes als dieses gelbe Zeug!“ Hans seufzte wieder übertrieben und wandte sich dann erneut dem Kessel zu.

„Warum ist er denn nicht Trommler bei den Jägern?“, erkundigte sich Max harmlos.

Fritz warf ihm einen Blick zu, als zweifle er an seinem Verstand.

„Trommler bei den Jägern? Also, Max, du kannst vielleicht Fragen stellen! Seit wann haben denn die Jäger Trommler?"

Max schrak buchstäblich zusammen. So etwas Dummes! Das hatte er doch selbst in seiner Arbeit dargestellt, als er über die Braunschweiger Regimenter schrieb. Die sogenannte Leichte Kompanie unter Major von Barner hatte es ihm besonders angetan, denn die Jäger gehörten mit dazu. Sie hatten nur Hornisten dabei, die die gleiche Uniformfarbe trugen. Trommler oder besser Tamboure gab es nur bei den Musketier- und Grenadier-Einheiten.

„Äh, ja, war eine blöde Frage. Hatte ich nicht weiter bedacht. Weißt du, wir hatten bislang auch mit den Jägern nichts zu tun,“ sagte Max entschuldigend.

„Na ja, ich möchte wirklich mal wissen, mit was ihr zu tun hattet!“, brummte Fritz vor sich hin, und Max lief ein heißer Schauer über den Rücken.

‚Ob sie mir misstrauen? Aber was soll mir schon passieren? Für einen Spion kann man mich wohl kaum halten, die sprechen jedenfalls wohl kein Deutsch. Also bin ich nur ein Trottel in ihren Augen, der nichts weiß und vom Militär keine Ahnung hat. Damit kann ich leben, aber ich muss künftig aufpassen, dass ich in ihren Augen nicht völlig absinke, weil ich so wenig weiß.‘

„Eine tolle Truppe!“, fügte er deshalb schnell bewundernd an. „Wenn ich an Trois Rivieres denke, wie sie da gekämpft haben.“

Hans wollte gerade etwas von dem jetzt dick eingekochten Eintopf auf einen Teller schütten, als er in der Bewegung erstarrte und Max einen wütenden Blick zuwarf.

„Trois Rivieres? Was weißt du von Trois Rivieres?“

Max zuckte zusammen. So wütend hatte er Hans noch nicht gesehen.

„Ich? Wieso, gar nichts, ich meine, was man so erzählt!“, stotterte er.

„Du warst nicht dabei, Max. Also halte den Mund!“, fuhr ihn Hans an. Wütend knallte er die Kelle auf seinen Teller und setzte sich etwas abseits zum Essen.

Max stand wie vom Donner gerührt, als Bernd ihn anstieß.

„Mach‘ dir nichts draus. Komm, hol dir von dem Essen, solange es noch was gibt. Die anderen warten nicht lange. Ich erzähl‘ dir später von Trois Rivieres, jetzt kein Wort weiter.“

Max wusste noch immer nicht, wie er sich verhalten sollte, aber die anderen drängten sich um den Kessel und füllten die Teller. Schließlich hielt auch er mechanisch seinen Teller über den Kessel, nahm die Holzkelle und füllte sich damit etwas auf.

Als sie sich schließlich auf dem Platz vor dem Lager zum Abmarsch aufstellten, war Hans wieder so fröhlich wie immer.

Kommandos erschallten, die Trommeln wurden in Position gerückt, dann schlugen sie den Takt, und die Reihen der Soldaten setzten sich in Bewegung.

4.

Wie lange ihr Marsch dauerte, konnte Max nicht sagen. Die Sonne war aufgegangen und stand jetzt bereits hinter ihnen. Dem dunstigen, grauen Morgen war ein schöner, sonniger Herbsttag gefolgt, und voller Bewunderung betrachtete Max das verfärbte Laub der Bäume. Von einem leuchtenden Rot über alle möglichen Brauntöne bis hin zu Gelb reichte das Spektrum auf den Hügeln, an denen sie entlang zogen. Seit er mit seiner Familie von Boston aus durch die White Mountains gefahren war, genoss er diesen Anblick. Die Vielfalt der vorherrschenden Rot- und Brauntöne faszinierte ihn auch noch nach Tagen.

Am frühen Nachmittag lagerte die Armee erneut an einem Fluss, und jetzt musste Max überall mit zufassen. Von den großen, schweren Fuhrwerken wurden die Zelte, Stangen und Decken abgeladen, jede Zeltmannschaft schleppte sie an den vorbezeichneten Platz.

Als erstes hatte man die langen Zeltgassen abgesteckt, und die Unteroffiziere achteten streng darauf, dass kein Platz verschenkt wurde. Dicht an dicht entstand erneut die große Zeltstadt, wurden Pfähle aufgerichtet, Planen gezogen und anschließend verzurrt, Pflöcke tief in die weiche Erde geschlagen.

Jeder Soldat hatte drei hölzerne Häringe bei sich und musste sie pflegen und hüten. Verlor er sie oder wurden sie unbrauchbar, musste er selbst für Ersatz sorgen und sich bei nächster

Gelegenheit neue schnitzen. Durch diese praktische Anordnung war gesichert, dass keiner dieser Holzhäringe fehlte, wenn das Zelt errichtet wurde.

Die sechs Trommler hatten unter der Anleitung von Hans ihren Platz erreicht, breiteten die Zeltplane aus und schoben die kurzen Holzstangen hinein. Diesmal fühlte Max sich nicht so unsicher wie beim Feuermachen, denn mit Zelten kannte er sich aus. Oft genug war er mit Freunden unterwegs zum Campen. Bevor er ein praktisches Iglu-Zelt erhielt, war er lange mit dem alten Hauszelt seiner Eltern unterwegs und plagte sich mit den Stangen ab. In wenigen Minuten hatten sie das Mannschaftszelt in der Form eines großen „A“ errichtet, die Pflöcke im vorgeschriebenen Abstand eingeschlagen und legten dann ihre Decken auf die Schlafplätze. Stroh sollte es diesmal nicht geben, weil keine Farm in der Nähe war.

„Das wollen wir erst einmal sehen!“, kommentierte Hans die Lage. „Klaus, Rüdiger, Fritz, ihr kümmert euch um Feuerholz. Bernd und Max, ihr folgt mir.“

Niemand zögerte auch nur einen Augenblick bei seinen Anordnungen. Die drei Holzsucher marschierten die lange Zeltgasse hinunter, die anderen beiden folgten ihrem rothaarigen Anführer.

Überall wimmelte es im Lager von Menschen und sah nach einem großen Chaos aus. Soldaten hatten ihre Uniformröcke und Westen ausgezogen. Die weißen Hemden und hellen Kniebundhosen boten für Max ein ungewohntes Bild, aber jeder war bemüht, seine Sachen zu schonen. Jedenfalls war es wichtig, dass die sichtbaren Kleidungsstücke alle in Ordnung waren, und die schweren Wollröcke zogen den Dreck förmlich an und waren schlecht zu säubern.

Auch beim Wagen des Fouriers herrschte ein großes Durcheinander. Berge von Decken lagen neben einem halb abgedeckten Planwagen, dazu Kupferkessel, große Töpfe, Fässer mit Mehl und Bohnen. Aber was für Max wie ein Chaos aussah, war in Wirklichkeit perfekt organisiert. Als die drei Trommler an den Wagen herantraten, erkannte Max den dicken Unteroffizier, der an seinem hölzernen Klapptisch saß und mit misstrauischen Argusaugen alles überwachte. Seine Helfer standen beim Fuhrwerk und teilten das Material aus. Sie riefen ihm Namen und Zahlen zu, und der Schreiber an seiner Seite trug alles sorgfältig in eine Rolle ein.

Mit einem raschen Blick hatte Hans alles überflogen und drehte sich lächelnd zu seinen Begleitern um.

„Da drüben wird das Küchenzelt aufgebaut. Und zwischen den Kisten sehe ich auch die Lena herumwieseln. Kommt mit!“

Ohne sich nach seinen Gefährten umzusehen, marschierte Hans zum Küchenzelt, wo die Frauen für die Offiziere kochten. Lena bemerkte sie, setzte eine Kiste mit Tonkrügen ab und strich sich die Haare aus der Stirn.

„Hallo Lena, mein Schatz! Geht es dir gut?“

„Hans, du kommst mir gerade recht. Diese Kisten müssen in das Zelt hinüber, und sie sind sehr schwer.“

Lena lächelte die Trommler an, dann sah sie Max direkt ins Gesicht.

„Dich habe ich zwar schon unten am Fluss gesehen, aber du musst neu hier sein, stimmt’s?“

Max wusste nicht, weshalb ihm plötzlich das Blut in den Kopf Schoss, aber er merkte, dass er rot wurde.

„Äh… ja, ich bin Max. Erst vor ein paar Tagen mit den Rekruten gekommen“, stotterte Max und ärgerte sich. Lena sah ihm direkt in die Augen, als sie seine Hand drückte.

„So, mit den Rekruten? Direkt über Kanada?“

„Mmmh!“, machte Max und nickte eifrig.

Einen Augenblick zögerte Lena, als wollte sie noch etwas sagen, dann nickte sie ihm nur zu und wandte sich an Hans.

„Na, wie sieht es aus mit den starken Männern?“

„Für dich immer gern, Lena!“, antwortete Hans vergnügt.

Im nächsten Moment griffen die drei Trommler nach den Holzkisten und schleppten sie in eines der großen Zelte.

„Die Herren verstehen zu leben!“, sagte Hans bewundernd, als sie die Kisten an Ort und Stelle hatten und verschnauften. Er hatte den Deckel gehoben und eine schlanke Tonflasche herausgezogen. Im nächsten Augenblick verschwand sie hinter seinem Hosenbund. Völlig verblüfft sah Max, wie er seine Weste zurecht zog und einen raschen Blick in die Runde warf. Dann standen sie wieder draußen, und Hans strahlte Lena an.

 

„Wo habt ihr denn die Strohballen stehen, mein Schatz?“

„Na, hinter dem Zelt, wie immer Hans. Aber lass‘ das nicht die anderen sehen. Kommt heute Abend und holt euch einen Ballen, ja?“

„Natürlich, Lena. Bis nachher!“ Hans warf ihr fröhlich eine Kusshand zu und schlenderte durch die Zeltgassen zurück.

Max war tief beeindruckt. Wie Hans hier auftrat, war eigentlich schon unverschämt, aber trotzdem - musste Max sich eingestehen - war er von dem Rothaarigen begeistert. Er schien sich über alles hinwegzusetzen, wusste genau, wo er etwas erreichte und nutzte den Moment noch für einen dreisten Diebstahl. Max hatte keine Ahnung, was passiert wäre, wenn er dabei erwischt worden wäre. Er erinnerte sich daran, dass er über sehr drastische Strafen beim Militär gelesen hatte. Da gab es das Spießrutenlaufen durch lange Gassen, die die Soldaten bildeten. Jeder hatte einen Stock oder sogar den metallenen Ladestock seiner Muskete in der Hand, mit dem er auf den Verurteilten einschlug. Der versuchte natürlich, so schnell wie möglich die Gasse hinter sich zu bringen. Oft ließen ihn dabei die Unteroffiziere stolpern, indem sie die langen Spieße zwischen den Beinen der Männer hindurch schoben, um so die Qual der Verurteilten zu verlängern.

Max verdrängte die düsteren Gedanken. Beim Zelt angekommen, war Hans natürlich der unbestrittene Held.

Die lange, schmale Tonflasche machte im Zelt die Runde, und natürlich wurde sie auch Max hingehalten. Er musste nicht erst schnüffeln, um zu erfahren, um was es sich handelte. Als der hoch aufgeschossene, hagere Rüdiger sie ihm hinhielt, machte sich eine starke Alkoholwolke bereits bemerkbar.

Max zögerte. Er hasste es, irgendeinen Fusel in sich hineinzustürzen, nur um im Kreis Gleichaltriger mithalten zu können. Genau wie damals auf dem Geburtstag von Jens. Alle mussten beweisen, wie männlich sie waren und tranken aus der Jack-Daniels-Flasche, als wäre es nur Wasser, allen voran Jens. Mit dem Ergebnis, dass er bereits um 22.00 Uhr in einer Kellerecke seinen Rausch ausschlief. Max war es damals sehr übel ergangen, und er hatte nur noch gelegentlich ein Bier getrunken.

Als er die Blicke der anderen auf sich fühlte, setzte er in Todesverachtung die Flasche an und bemühte sich, nur einen kleinen Schluck zu nehmen. Das Zeug brannte wie Feuer im Rachen und Hals und schien gleich darauf in seinem Magen zu explodieren. Er fühlte, wie ihm die Tränen ins Auge schossen und bekam gleichzeitig einen Hustenreiz, den er nur mühsam unterdrücken konnte.

‚Meine Güte! Was war das für ein Zeug? Unverdünnte Salzsäure?‘

Max schüttelte sich.

Die Flasche machte die zweite Runde, aber diesmal lehnte er ab.

„Ein guter Wein wäre mir jetzt lieber!“, sagte er lächelnd und reichte die Tonflasche an Hans weiter.

„Oh, ein Kenner unter uns! Wo hast du denn schon mal Wein getrunken?“ Hans war bester Laune, nahm einen weiteren Schluck und stöpselte die Flasche wieder zu, ehe er sie im Stroh seines Lagers verschwinden ließ.

„Ach, das war eine besondere Gelegenheit. Eine Familienfeier.“ Wieder einmal war es Max bewusst geworden, dass er mit seinen Äußerungen vorsichtig sein musste.

„Komm, erzähl‘ doch mal. Wir wissen gar nichts über dich und deine Leute.“

„Da gibt es nicht so viel zu erzählen.“ Max wand sich. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Andererseits hatte er sich schon etwas auf diese Situation vorbereitet. Er wusste, dass irgendwann Fragen kommen würden, aber jetzt war er doch verunsichert.

„Zier dich nicht wie ein Mädchen, Max. Jeder hat seine Geschichte. Warum bist du Soldat geworden? Manchmal denke ich, du bist einfach von zu Hause weggelaufen.“ Hans sah ihn halb belustigt, halb ernst an.

„Na ja, ist ja auch fast so. Also, mein Vater ist Kaufmann. Kein besonders erfolgreicher, aber das Geschäft ernährt die Familie. Ich hatte aber keine Lust, in seine Fußstapfen zu treten. Jeden Tag im Geschäft zu sitzen und Zahlenreihen in Bücher zu schreiben war mir zu langweilig. Außerdem bin ich kein Einzelkind.“

„Verstehe. Da wäre nichts zu erben gewesen. Und da bist du zu den Werbern gegangen?“

Max nickte erleichtert. Es ging doch, Hans nahm ihm offensichtlich die Geschichte ab.

„Mehr oder weniger zufällig. Ich hatte gehört, dass unser Herzog Carl wieder Truppen nach Stade marschieren ließ, die für Amerika bestimmt waren. Da habe ich mich gemeldet.“

Die anderen nickten beifällig zu seinen Worten.

„Hast es richtig gemacht, Max. Hier steht dir alles offen. Der Sold ist hoch, und wenn du ein bisschen aufpasst, kannst du dir eine ganze Menge davon sparen. Ist der Krieg erst einmal vorbei, steht dir eine Zukunft bevor, mit Privilegien im Herzogtum, die es für heimkehrende Soldaten gibt.“

Max sah seine neuen Gefährten der Reihe nach an.

„Wenn es soweit ist, was werdet ihr dann machen?“

Der lange Rüdiger antwortete als erster.

„Land kaufen. Oben in Kanada. Ein Haus bauen und Farmer werden. Auf dem eigenen Stück Land.“

„Ja, das steht fest. Wir werden uns in der Nähe von Toronto ansiedeln.“ Bernd bekam glänzende Augen.

„Ihr habt ja schon richtige Pläne gemacht“, staunte Max.

„Das stimmt. Wir haben beschlossen, alle zusammen zu bleiben und uns gegenseitig zu helfen. Gemeinsam werden wir das Land roden und pflügen. Und jeder hilft dem anderen beim Hausbau“, ergänzte Klaus, und Fritz pflichtete ihm bei.

„So ist das also. Ihr wollt gar nicht wieder in die Heimat zurück.“ Max war verblüfft.

„Und du?“, erkundigte sich Hans, der zu den Plänen der anderen geschwiegen hatte. „Was machst du nach dem Krieg?“

„Also ich – ich will wieder zurück“, antwortete Max ohne weiter nachzudenken.

„In das Komptoir deines Vaters zurück? An die langen Rechnungslisten?“ Hans grinste höhnisch. „Das wäre nichts für unsereinen.“

„Nein, so nicht, Hans“, beeilte sich Max zu versichern. „Ich will nur noch einmal nach Hause, um zu zeigen, was ich erreicht habe. Auch ich will jeden guten Groschen sparen, und mir dann eine Zukunft aufbauen. Das steht fest.“ ‚Und ist noch nicht einmal gelogen,‘ setzte er in Gedanken hinzu. Glücklicherweise wurde dafür schon zur Konfirmation ein beachtlicher Grundstock angelegt, auf Anraten seines Vaters in einem Aktienfonds. Max seufzte bei dem Gedanken an eine mögliche Rückkehr. Wie sollte das funktionieren? Gab es beim Visitior-Center in Hubbardton so etwas wie ein Zeittor? Aber dann musste er dorthin zurück, und sich nicht immer weiter entfernen. Überhaupt – welches Datum schrieben sie jetzt? Wenn er das Datum wusste, konnte er die historischen Ereignisse besser einordnen.

„Und du, Hans? Bleibt es dabei? Hast du mit Lena gesprochen?“ Fritz riss Max mit dieser Frage aus seinen Gedanken. Ja, was hatte der rote Hans eigentlich vor? Er hatte sich völlig schweigsam verhalten.

„Es bleibt dabei, was glaubt ihr denn? Ich habe das Land schon gesehen, auf dem meine Kühe weiden werden.“

„Kühe?“ Max sah ihn erstaunt an.

„Ja, davon verstehe ich etwas. Ich habe mal eine ganze Zeit bei einem alten Hirten gearbeitet. Er hatte starkes Rheuma, und ich habe ihm beim Melken geholfen. Dafür konnte ich in seiner Hütte wohnen und zu Essen war auch genügend da. Damals begann meine Glückssträhne.“

„Warum bist du dann fortgegangen?“

Für einen Augenblick verdüsterte sich seine Miene, dann strahlte er wieder. „Der Hirte war eines Morgens tot. Einfach so, über Nacht friedlich eingeschlafen. Ich hatte gehofft, seine Stelle übernehmen zu können, aber der Bauer hat mich davongejagt. Und dann bin ich den Werbern begegnet, und von da an war ich der Hans im Glück. Erst das gute Werbegeld, dann die schöne Montur, die gute Überfahrt ohne Probleme – aber das kennt ihr ja alles selbst.“

Hans griff vergnügt wieder zur Tonflasche und nahm einen kräftigen Zug, ohne sie den anderen anzubieten. Er verzog noch nicht einmal das Gesicht, als der scharfe Alkohol durch seine Kehle floss.

Eine Weile hingen alle ihren Gedanken nach, bis schließlich Max das Schweigen brach.

„Wir alle wollen diesen Krieg überleben. Ihr macht Pläne für die Zukunft. Aber wann beginnt diese Zukunft?“

Die anderen sahen ihn verblüfft an, und Hans fragte verwundert:

„Was meinst du damit? Wann beginnt die Zukunft?“

Max rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her.

„Der Krieg. Wie lange dauert er noch, was glaubt ihr?“

„Der Krieg.“ Hans lachte. „Der Krieg ist unsere Mutter und unser Vater. Er ernährt uns. Er bekleidet uns. Wenn er vorbei ist, stehen wir wieder auf eigenen Füßen. Im Moment gilt nur eins: Du musst überleben. Und dein Geld zusammenhalten. Von mir aus kann der Krieg noch ein paar Jahre dauern. Kanada wartet auf mich.“

Er lächelte Max zuversichtlich an und klopfte ihm auf den Arm.

„Glaub mir, die Rebellen schaffen es nicht. Noch ein paar Schlachten, und wir haben sie aufgerieben. Sie können nicht kämpfen. Sie laufen vor uns davon.“

Max versuchte, zuversichtlich auszusehen. Er wusste es besser. Er kannte die Zukunft. Aber was wusste er wirklich? Nichts über das Schicksal der Trommler. Nichts über die Soldaten, die in diesem Lager gerade dabei waren, sich für eine friedliche, ruhige Nacht einzurichten. Vielleicht ihre letzte Nacht vor einer großen Schlacht.

5.

Über die leicht hügelige Ebene kamen sie in breiter Reihe anmarschiert. Fahnen wehten, die Trommeln schlugen, Sonne blitzte auf zahlreichen Bajonetten und Gewehrläufen. Im Gleichschritt marschierten hintereinander Grenadier- und Musketierregimenter über das Grasland.

Max hatte sich in diesen Ablauf hineingefunden, als hätte er nie etwas Anderes gemacht. Längst war es kein Problem mehr für ihn, auf dem harten Boden im Zelt zu schlafen, mal mit Stroh, mal ohne. Ohne zu murren löffelte er in sich hinein, was die Zeltgemeinschaft kochte, freute sich mit den anderen, wenn von irgendwo Sondereinlagen den Speiseplan abwechslungsreicher machten. Meistens sorgte Hans für eine zusätzliche Speckschwarte, ein paar Scheiben Beinfleisch, ein Stück von einer Hirschkeule. Er war oft allein unterwegs im Lager, sprach hier mit einem Musketier, dort mit einem Jäger, verschwand zwischen den Küchenzelten und bei den Fourier-Fahrzeugen und kehrte immer mit neuen Errungenschaften unter dem Arm siegessicher lächelnd zurück. Hans, die Frohnatur, hatte offenbar überall Narrenfreiheit. Niemand schien ihm seine Unverschämtheiten wirklich Übel zu nehmen, und von seinen undurchsichtigen Tauschgeschäften profitierte die ganze Zeltgemeinschaft. Auch die kleine Lena schien einiges dazu beizutragen, aber sie ließ sich nur selten beim Zelt der Trommler sehen.

Jetzt marschierten sie wieder. Die gesamte Armee war lange vor Sonnenaufgang aufgebrochen. Schnell waren die Zelte zusammengelegt und auf die Fahrzeuge verladen, und als die ersten Marschgruppen das Lager verließen, wurden die großen Stabszelte gerade in Windeseile auseinandergenommen, die Planen sorgfältig gefaltet und auf die Fuhrwerke gewuchtet. Die Armee war in Bewegung, und jeder spürte, dass etwas in der Luft lag. Die Spannung machte sich bei allen breit, und Parolen liefen durch das Lager. Es hieß, die Rebellen befänden sich in der Nähe und hätten eine riesige Armee zusammengezogen. Die Amerikaner waren bereits auf der Flucht, und die Braunschweiger sollten ein Fort besetzen. Die feindliche Armee bestand für gewöhnlich nur aus wenigen Milizeinheiten, die weder genug Waffen noch Munition hatten. Niemand wusste tatsächlich Genaues, aber die Gerüchte wurden immer absurder, bis sie während des Marsches verstummen mussten, denn reden während des Marsches wurde nicht geduldet.

Max schlug einen Wirbel. Die Trommel war längst zum vertrauten Gegenstand geworden. Er hatte von den anderen durch Nachahmung gelernt, wie sie am besten hing, ohne ihm ständig an die Beine zu schlagen. Er wusste, wie man die Schlegel richtig hielt, ohne zu ermüden. Und das Marschieren machte ihm wenig aus, denn die Schnallenschuhe waren erstaunlicherweise weit und bequem. Das anfänglich harte Leder hatte sich geweitet, und Max fürchtete, dass er bei schnellem Lauf sogar herausschlupfen konnte.

Aus dem Augenwinkel sah er links und rechts die Freunde. Neben ihm marschierten Fritz und Klaus, Hans, Bernd und der lange Rüdiger gingen in der ersten Reihe neben dem Fahnenträger. In der leichten Brise, die über die Ebene strich, entfaltete sich der Fahnenstoff völlig und wehte munter vor ihnen her.

Max staunte über sich selbst. Er fühlte sich wohl und hätte noch lange so weitergehen können. Wieder war es ein herrlicher Spätsommertag geworden, kaum dass die Sonne aufgegangen war. Sein Blick fiel immer wieder auf die rotbraunen Blätter, die im strahlenden Sonnenschein besonders schön aussahen. Max fühlte sich leicht, beschwingt, vergnügt. Ein herrlicher Tag. Tief sog er die würzige Luft ein, die aus der Ebene herangeweht kam.

 

Völlig unvorbereitet traf ihn der scharfe Knall, dem ein donnerndes Grollen im Tal folgte. Max war aus seinen Träumen erwacht. Kommandostimmen wurden laut, die Trommeln schlugen einen anderen Takt, und Max bemühte sich, mitzuhalten.

Wieder knallte es laut, und ein gefährlich pfeifendes Geräusch zog über seinem Kopf vorbei, gefolgt von einer Detonation.

„Was bin ich doch für ein Idiot!“, schimpfte Max vor sich hin. „Ich bin mitten in einem tödlichen Krieg und bewundere die Landschaft. Verdammt, verdammt!“ Die letzten Worte schrie er so laut heraus, dass Hans sich zu ihm umdrehte. Sein sommersprossiges Gesicht hatte einen merkwürdigen Ausdruck, als er zu Max sah, dann kniff er ein Auge zu und grinste. Gleich darauf musste er seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn richten, die Soldaten erhöhten ihre Schrittgeschwindigkeit.

Jetzt folgte Knall auf Knall, und Max hatte das Gefühl, taub zu werden. Dicker Pulverdampf umhüllte sie erneut, lag über der Ebene, stieg nur langsam auf und begann, das Sonnenlicht zu dämpfen. Bei jedem dieser Kanonenschüsse schien die Erde unter ihren Füßen zu beben.

Max trommelte und folgte der vorderen Reihe, ohne die geringste Ahnung zu haben, was

passierte. Er sah nur die gelben Uniformen der anderen Trommler vor sich, daneben schon schemenhaft die blauen Musketiere.

Das donnerartige Grollen, die Explosionen überall, das unheimliche Pfeifen und Sausen über den Köpfen machte ihm bald klar, dass es sich um Artilleriebeschuss handeln musste. Glücklicherweise hatten die Kanonen offensichtlich ein anderes Ziel erfasst, ihre Einheit konnte ungehindert vorwärts marschieren.

Als die Kanonen plötzlich schwiegen, nahm Max das zunächst gar nicht wahr. Er war vom ständigen Lärm und den dicken Pulverwolken, durch die sie wanderten, unempfindlich gegenüber plötzlichen Veränderungen. Und auch der unangenehme Schwefelgeruch schien ihm nicht mehr viel auszumachen. Dann hörte er das Knattern der Musketenschüsse, aber ihm kam es unwirklich und fern vor. Überhaupt hatte das alles nichts mit ihm zu tun. Da wurde geschossen, und Männer schrien auf, Verwundete stöhnten und riefen um Hilfe. Und doch hatte er das Gefühl, das alles ginge ihn nichts weiter an.

Max hatte seine Schlegel gepackt und schlug den Rhythmus wie alle anderen Trommler, sah nicht links und nicht rechts, sondern folgte dem Fahnenträger.

Dann ließ ein scharfer Befehl sie plötzlich halten, und Max entdeckte seit langer Zeit wieder den Unteroffizier, der ihn so unfreundlich empfangen hatte. Er kommandierte jetzt, und die Trommler mussten neben dem Fahnenträger Aufstellung nehmen.

Der leichte Wind verteilte die Pulverschwaden etwas, und Max erkannte die Grenadierreihen, die eben das Gewehr vor sich absetzten. Auf ein Kommando zogen sie die langen Bajonette aus ihren Halterungen, dann fuhren die Hände mit den blitzenden Klingen nach oben, eine kurze Drehung, und die Bajonette waren aufgepflanzt. Ein neuer Befehl.

Jetzt schlugen die Trommler ein wildes Stakkato, und die Grenadiere setzten sich schnell in Bewegung, liefen einen leichten Hügelhang hinunter, die Trommeln wirbelten, die Grenadiere brüllten und senkten ihre Bajonette, als sie die Stellungen der Amerikaner erreicht hatten.

Gleich darauf folgte eine Musketiereinheit, wie ihre Kameraden hatten sie die Bajonette aufgepflanzt und stürmten auf die Feinde ein.

Max trommelte wild, sah in den Rauchschwaden die blauen Uniformen sich hin und her bewegen, hörte wilde Schreie, dann das Hurragebrüll der Braunschweiger.

Ein neues Kommando, die Trommeln schwiegen und wurden in der fließenden Bewegung an die Seite gekippt.

„Da laufen sie, Hurra!“, schrie Hans und schwenkte seinen Dreispitz vergnügt hin und her.

„Wie die Hasen!“, ergänzte Fritz fröhlich, und der lange Rüdiger lachte laut heraus.

Erleichterung fühlte auch Max darüber, dass dieses Gefecht so schnell beendet war. Jetzt hatte er auch die Artillerie erlebt, wenn auch der Kanonendonner und das Pfeifen der Geschosse ihm unwirklich und fern vorkamen.

„Na, Max, was ist?“ Bernd stieß ihm freundschaftlich in die Rippen. „Du machst ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Es ist vorbei, die Rebellen geben Fersengeld!“

„Ja, das ist gut. Aber was sollen sie auch sonst machen?“

Bernd starrte ihn sekundenlang verblüfft an, dann lachte er laut los.

„Hört ihn euch an! Was sollen sie auch sonst machen!“ Er lachte noch lauter und schlug sich dabei klatschend auf den Stoff seiner Kniebundhose. Mit seinem Heiterkeitsausbruch steckte er auch die anderen an, und die Fröhlichkeit wurde nur gedämpft, als der Unteroffizier zu ihnen herüberkam.

„Was ist denn hier los? Kerls, was steht ihr hier feixend herum? Rechts herum – schwenkt euch – vorwärts marsch!“

Die Trommler hatten sofort eine militärische Haltung angenommen und standen in einer Reihe. Auf den Befehl marschierten sie den Hügel hinunter und trafen mit den anderen Einheiten zusammen, die das Schlachtfeld bereits räumten.

Max sah aus der Ferne Verwundete, denen Verbände angelegt wurden, er bemerkte die Fuhrwerke, auf die offensichtlich Tote geladen wurden. Alles erschien ihm irgendwie unwirklich, wie aus einem Film. Er beobachtete die Szenerie um sich, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Dort drüben hatten die Amerikaner ihre Stellung mit einigen leichten Feldgeschützen aufgebaut. Auseinandergerissene Baumstämme zeigten, wo sie Schanzen errichtet hatten, und überall lagen tote Soldaten in verkrümmten Stellungen. Sie trugen braune und blaue Uniformstücke, viele aber auch nur gefranste, hemdartige Jacken. Niemand schien sich um sie zu kümmern.

Max starrte auf die toten Amerikaner, und nur langsam kam ihm zu Bewusstsein, dass dort wirklich Menschen lagen. ‚Das sind keine Statisten, die nach dieser Szene wieder aufstehen und für die nächste Kameraeinstellung bereit sind‘, schoss es ihm durch den Kopf. ‚Das sind wirkliche Menschen!‘, hämmerte er sich ein, aber Max empfand nichts für sie. Er konnte nichts mit dem, was dort geschehen war, in Verbindung bringen, und stand wie betäubt, mit leerem Kopf und starrem Blick, neben den anderen.

Wie lange er so gestanden hatte, wusste er später nicht mehr. Richtig zu Bewusstsein kam er erst wieder, als sie am Ufer des Flusses erneut Halt machten und ihre Sachen ablegen konnten.

Er tauchte die Arme in das kalte, rasch fließende Wasser und spürte plötzlich ein scharfes Prickeln in den Armen, als würden sie aus einer Erstarrung wiederbelebt werden.

Max schob sich weiter über die flache Uferböschung, tauchte kurz den Kopf unter und kam prustend wieder hoch.

Es ging ihm etwas besser, aber als er sich umsah, kam es ihm immer noch vor, als bewege er sich in einem Traum. Ein sehr realistischer Traum, aber doch ein Traum, der ihn nicht weiter berührte. Der einfach vor ihm ablief, ihm ein Bild zeigte, ohne ihn zu erreichen. Max war dabei, darin gefangen, aber nicht wirklich betroffen.

Er schüttelte sich wie ein junger Hund, um das Wasser aus den Haaren zu entfernen. Dann kehrte er zu den anderen zurück. die ihn nicht weiter beachtet hatten.

6.

An diesem Abend trieb ihn eine seltsame Unruhe im Lager umher. Er konnte sich nicht erklären, weshalb er nicht bei den anderen vor dem Zelt saß. Vielleicht lag es an Hans, der schon seit Stunden verschwunden war. Er vermisste den stets fröhlichen Rotschopf, aber das allein war es nicht. Wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Er war gefangen in einer Zeit, die mehr als 240 Jahre vor seiner Welt existierte. Schmerzlich wurde ihm bewusst, dass er mit niemand über seine Probleme reden konnte, wollte er nicht für verrückt gehalten werden. Diese schlichten Menschen, die er hier täglich erlebte, hatten ganz andere Probleme. Sie lebten ihren Tag, wachten auf, marschierten in einen Krieg, und wenn sie abends am Feuer saßen, freuten sie sich darüber, dass auch dieser Tag glücklich überstanden war. Essen, Trinken, Kämpfen, Schlafen – damit war ihre Welt ausgefüllt. Nein, etwas fehlte noch. Alle sprachen über das Geld, über den Sold, den sie pünktlich erhielten. Die meisten von ihnen hatten noch nie so viel Geld besessen, und fast alle träumten von ihrem persönlichen Glück, das sie sich davon kaufen konnten. Den Krieg empfanden sie als ein Glück, als ihr persönliches Glück, das Elend in der Heimat vergessen zu können.

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