Per Email in den Himmel

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Per Email in den Himmel
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Thomas Holtbernd

Per Email in den Himmel

Erzählung

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Inhaltsverzeichnis

Titel

John

Umbruch

Die Email

Alles wie immer

Gewohnheit

Kontaktversuch

Wieder Alltag

Beginn

Das Gute?

Einsamkeit

Kontakt: zweiter Versuch

Der Traum

Die Tür geht auf

Impressum neobooks

John

Thomas Holtbernd

Per Email in den Himmel

Roman

John war ein Mann. Jedenfalls war er sich dieser Bestimmung seiner sexuellen Ausrichtung sicher gewesen. Seine Gewissheit hatte sich in eine Form von Orientierungslosigkeit verwandelt, die wie bei einem Kippbild ihn mal das eine und mal das andere sehen ließ. John fühlte sich wie ein Wandler zwischen den Welten. Er wollte eine Sicht der Realität festhalten und die anderen Möglichkeiten ausblenden. Das ständige Hin und Her ermüdete ihn. Sicherlich kannte er auch vorher schon die Schwierigkeit, mit den Ambivalenzen in seiner Sicht der Welt umzugehen. Ambiguitätstoleranz, so hatte er irgendwo einmal gelesen, hieß die Fähigkeit, solche Spannungen auszuhalten. Doch es war für John bislang mehr ein intellektuelles Problem gewesen. Angefangen hatte alles mit einer Email. Vor einigen Wochen bekam er diese Email, die er öffnete, obwohl er den Absender nicht kannte. Normalerweise löschte er Mails mit einem unbekannten Absender sofort, weil er keinen Wurm oder Trojaner auf seinem PC haben wollte. John kam es nun so vor, als hätte sich ein Wurm in seinem Hirn eingerichtet. Er fühlte sich in allem, was er bislang gedacht und gefühlt hatte, verunsichert. Nach wie vor hatte er keine Zweifel daran, dass er biologisch ein Mann ist. Das Mannsein war für ihn jedoch fürchterlich anstrengend geworden. Wäre er ein richtiger Mann, müsste er doch Spaß an seinem Mannsein haben. Immer häufiger wünschte er sich, eine Frau zu sein. Obwohl er auch das nicht wirklich wollte. Frauen schienen es in vielen Alltagssituationen einfacher zu haben. Sie können die Hilflose spielen und schon sind irgendwelche Kerle da, die ihre Hilfe anbieten. Frauen nimmt man es weniger übel, wenn sie launisch sind. Dann heißt es, die hat halt ihre Tage. Männer, die Stimmungsschwankungen haben und auch zeigen, werden gleich mit dieser typischen Handbewegung kommentiert, die angeblich viele Schwule haben: „Ach Du, hat er wieder seine Tage. Lass uns mit Wattebäuschchen werfen!“ Ihm ging das alles ziemlich auf die Nüsse. Ständig dieser Konkurrenzkampf, dieses Machogehabe, dieses männliche Getue im Geschlechterkampf. Es war ihm schlichtweg zu beschwerlich, seinen Mann zu stehen. Überhaupt hatte er das Gefühl: Das Leben ist anstrengend. John war das Leben im Ganzen zu schwer geworden. Jeden Morgen aufstehen, seinen Job machen, abends nach Hause kommen, das bisschen Haushalt erledigen, irgendeinen Schwachsinn in der Flimmerkiste anschauen, im Bett noch ein wenig lesen, einschlafen und am nächsten Morgen wieder rein in den ewig gleichen Alltagstrubel. Er sehnte sich nach der Unbeschwertheit seiner Kindertage zurück. Zumindest glaubte er, dass er als Kind ein leichtes Leben gehabt hatte und ohne Mühe die Tage verbrachte. Ein fröhliches Kind war er gewesen, so wollten es seine Erinnerungen. Von all dieser Fröhlichkeit war ihm nur wenig geblieben. Manchmal hielt er seinen Zynismus und Sarkasmus für den Ausdruck von Lebensfreude. Aber John hatte nicht nur einmal von anderen zu hören bekommen, dass seine „witzigen“ Bemerkungen ganz und gar nicht lustig seien. Manche fühlten sich sogar verletzt und hatten den Kontakt zu ihm abgebrochen. John fand nichts dabei, jemandem ironisch seine Schwächen und Gebrechen entgegen zu schleudern. Bei Männern fand er mit dieser Art durchaus Gleichgesinnte. Frauen fühlten sich sofort verletzt oder nahmen Partei für die Angegriffenen ein. Dann machte es keinen Spaß mehr. Ihn nervte es, wenn mal wieder so eine Emanze seine anzüglichen Bemerkungen als vermutete Impotenz kritisierte. Gleich kam dann auch die übliche Bemerkung über sein Auto: „Du brauchst wohl diese Schwanzverlängerung.“ Er fuhr einen Daimler, den er bei einem Autotuner ein wenig hatte veredeln lassen. Wobei die Kosten für das Tuning das Jahreseinkommen so mancher in Brot und Arbeit stehender Menschen überschritt. Natürlich brauchte er so viel PS nicht, doch es war ein tolles Gefühl zu wissen, welche Power er unter der Motorhaube hat. Die Frauen fanden seinen Schlitten im Allgemeinen ziemlich scharf. Doch auch das hatte einen Haken. Die Frauen, die er in den Discos abschleppte und die sich vor lauter Staunen über seinen Wahnsinnsschlitten schon auszogen, wenn er den Motor aufheulen ließ, erwiesen sich meist schon nach einer Nacht als BMW mit der Ausstattung für einen Fiat Panda. Der Sex mit diesen Silikonpuppen, wie er sie oft nannte, war wie Selbstbefriedigung bei einem dieser Pornostreifen, die man aus dem Netz holen konnte, nur schlechter. John versprach nach einem solchen One-night-stand anzurufen, doch er tat es nie. Wenn die Frauen bei ihm anriefen, hatte er immer einen wichtigen Termin in der Firma oder er ließ einfach irgendeine Gemeinheit los. Darin war er gut, er wusste genau, wie er die Frauen verletzen konnte. Er traf ins Schwarze und die Frauen waren geschockt fürs Leben. Sie ließen ihn in Ruhe. Die Frauen mit ein bisschen Grips dagegen wollten dann darüber reden. Das war ihm einfach zu anstrengend und er spielte den prolligen Macho mit Muskeln ohne Hirn. Dann war er auch die Frauen mit mehr als zwei Hirnwindungen los.

Überhaupt war ihm das mit den Frauen und ihrer Psyche zu beschwerlich geworden. Dass Frauen „ja“ meinen, wenn sie „nein“ sagen, stimmte nur manchmal und verlässlich war diese Strategie nicht. Oft war das Gegenteil richtig und manchmal etwas ganz anderes. Ihm war es einfach zu beschwerlich, den Frauen ihre Wünsche von den Augen abzulesen. Sowieso lag er mit seinen Vermutungen meist falsch. Auch das mit den richtigen Geschenken wäre, wenn er es schaffen würde, eine Glanzleistung. Als Mann wäre er gezwungen das ganze Jahre aufpassen wie ein Luchs, um die versteckten Andeutungen mitzubekommen. Kurz vor dem Verschenkungstermin müsste er dann eine Prioritätenliste dieser von der Frau angedeuteten Wünsche machen und entscheiden, welchen Wunsch die Frau am meisten favorisiert. Zudem müsste das Geschenk auch noch einen Überraschungseffekt haben und beweisen, wie sehr er sich Gedanken gemacht hat und sensibel für die Wünsche der Partnerin ist. Zum Schluss war es dann meist so, dass sich seine Freundinnen ausgesprochen freuten, wenn er das Richtige getroffen hatte und dann nach dem Kassenbon fragten, weil es vielleicht doch noch etwas gab, was besser passt oder doch noch mehr den Geschmack trifft.

Er hatte sich nach diesen Erfahrungen angewöhnt, Gutscheine zu verschenken. Dann musste er jedoch mit zu einer dieser Einkaufstouren, weil seine Meinung angeblich gefragt war. Zum guten Schluss entschied sich die Frau sowieso nach Kriterien, die er nicht nachvollziehen konnte und bei denen er kaum das Gefühl hatte, seine Anregungen wiederfinden zu können. Die Partnerinnen wählten nur sehr selten das, was er besonders schön fand.

Umbruch

Es hätte alles so weiter gehen können. Ab und zu eine Bettgeschichte mit so einer Silikonpuppe, ein wenig für den Geist bei einem guten Buch oder bei Gesprächen mit seinen Freunden. Später, wenn die Zeit dafür reif ist, wollte er sich mal nach einer Frau umschauen, mit der er eine feste Beziehung eingehen könnte. Im Alter ist das halt besser, da stehen die jungen Dinger nicht mehr auf so einen alten Knacker. Wenn man dann eine feste Beziehung eingeht, ist man nicht so allein und wird auch noch versorgt, wenn es nicht mehr geht. John hielt sich für einen solchen Schritt jedoch noch für zu jung und das mit einer festen Beziehung hatte noch Zeit. Kinder wollte er sowieso nicht. Und die Partnerbörsen im Netz boten genug Material, um die richtige Frau zu finden. Einige seiner Freunde waren dort schon fündig geworden und schwärmten ihm vor, wie einfach es wäre, für jede Gelegenheit etwas Passendes zu finden.

Vor vielen Jahren hatte er eine längere Beziehung gehabt, vielleicht war es seine erste große Liebe gewesen. Diese Frau war hübsch, allerdings kein Model. Sie träumte von einem glücklichen Leben mit ihm und gemeinsamen Kindern. Damals waren sie beide jung, hatten spinnerte Vorstellungen von der Zukunft, doch sie liebten sich. Zumindest ergriff ihn ein wenig Sehnsucht nach dieser Zeit, wenn er an diese Frau dachte. Er hatte sie verlassen, weil er im ersten Semester an der Universität die Tochter eines Unternehmers kennen gelernt hatte und sich erhoffte über die Beziehung zu ihr die nötigen Kontakte für eine Karriere nach dem Studium zu bekommen. Doch diese Liebesbeziehung zerbrach ziemlich schnell. Denn da er sie nicht liebte, vergnügte er sich auch noch mit anderen Kommilitoninnen. Sie machte ihm ständig Szenen, wenn er mal wieder bei einer anderen Frau sein Glück versucht hatte. Es kam natürlich zum großen Knall, seine große Liebe machte endgültig Schluss und ging zum Studium ins Ausland, weil sie ihn nicht mehr sehen wollte. Sie waren sich nie wieder begegnet. John überwand diesen Schock sehr schnell und tröstete sich mit den Schönsten aus seinem Semester. Er vergaß seine große Liebe. Nur manchmal, wenn er seine depressiven Stunden hatte, dachte er an sie. Dann surfte er im Worldwideweb herum, um vielleicht einen Hinweis auf sie zu finden. Doch sie hatte wahrscheinlich geheiratet und den Namen des Mannes angenommen, sodass er keine Spur fand, die zu ihr führte. Irgendwie tröstete es John, dass er sie nicht finden konnte.

 

Der Erfolg bei den Frauen war für John eine Bestätigung für sein Mannsein gewesen. Bekannte beneideten ihn, weil er immer irgendeine Freundin hatte. Und die Frauen, die er hatte, waren Güteklasse A. Mit Mädels, die zu dicke Beine, zu viel Speck, keinen knackigen Hintern oder zu wenig Busen hatten, gab er sich nicht ab. Und er fand immer eine, die aussah wie ein Model und um die ihn andere beneideten. Auch beruflich konnte er zufrieden sein. Freunde bewunderten ihn, weil er die besten Frauen hatte und einen Riesenerfolg in seinem Job. Seine Karriere verlief wie geschmiert und ihm machte sein Job auch noch Spaß. Sein Chef war ihm wohl gesonnen und die Kollegen waren - bis auf wenige - nette Leute. Nur das Gehalt hätte besser sein können, denn in den meisten Monaten waren seine Ausgaben höher als seine Einnahmen.

Die Email

Vor einigen Wochen nun hatte John diese merkwürdige Email bekommen, die ihn aus seiner Alltagslethargie aufweckte. Obwohl er nicht wusste, wer ihm diese Mail geschickt hatte, öffnete er sie und fand einen einfachen Satz: „Sie suchen den Kitzel und wünschen sich den Himmel auf Erden. Finden Sie Ihren Meister und beginnen Sie eine wunderbare Freundschaft. Mailen Sie Ihre Fragen: Jetzt!“ John dämmerte es, vor einiger Zeit hatte er in einer Zeitschrift eine Annonce gelesen. Es ging darin um Life-Coaching oder so etwas Ähnliches. Genau konnte er sich nicht mehr erinnern. Irgendwas hatte ihn angesprochen. Jedenfalls hatte er wohl eher aus Langeweile an die angegebene Adresse eine Mail geschickt.

Jetzt dachte er nur, warum nicht? Doch was wollte er wissen? Welche Fragen sollte er diesem Meister stellen? Genau! Er schrieb: Welche Fragen soll ich stellen? Und schickte die Mail ab. Mal gespannt, was dieser große Meister ihm antworten würde? Auch wenn er die Geschichte für schwachsinnig hielt, vielleicht machte es ja Spaß, so einen großen Meister hinters Licht zu führen. Er war auch gespannt, wie lange ihn ein solcher Meister auf die Antwort warten ließ.

John stellte seinen PC aus und hatte sich vorgenommen, noch ein wenig zu lesen. Aber er war mit seinen Gedanken nicht bei der Sache, er las eine Seite und wusste am Ende der Seite nicht mehr, was er gelesen hatte. John legte das Buch zur Seite und machte den Fernseher an. Vielleicht lief ja mal was Gescheites. Es war zum bekloppt werden. Was bildeten sich diese Fernsehfuzzis eigentlich ein, so einen blöden Mist zu senden? Da diskutierten irgendwelche abgehalfterten Politiker über Dinge, von denen sie keine Ahnung hatten. Auf dem anderen Sender sprachen, wenn man das überhaupt sprechen nennen kann, selbsternannte Promis über Dinge, die niemanden interessieren. Auf einem anderen Sender liefen Filme, die älter waren als er selbst. Waren denn die Zuschauer alle so blöd, sich diesen Mist anzuschauen?

Er schaltete den Fernseher aus und rief seinen besten Freund an. Mit dem konnte er so richtig gut ablästern. Sein Freund war genauso drauf wie er, sie steigerten sich zu wunderbaren Hasstiraden auf die geistig beschränkten Bürger des Landes, die korrupten Politiker und das dumme Stimmvieh. Danach ging es ihm besser. Es gab nur wenige Menschen, mit denen er so gut hassen konnte, wie mit seinem Freund. Sein Freund hatte sich durchgebissen. Er war ein mittelmäßiger Jurist geworden und bei einem großen Unternehmen in der Rechtsabteilung gelandet. Spaß machte ihm der Job nicht, nur wenn er mit fiesen Tricks anderen eine Falle stellen konnte, dann lebte er auf. Es war nichts Illegales, es war halt ein bisschen böse. Sein Freund lebte ebenso wie er als Single. Sie telefonierten manchmal über Stunden, um sich über ihre Erfahrungen mit den blöden Zeitgenossen auszutauschen.

Erst am nächsten Abend saß er wieder an seinem PC und rief die Mails ab. Die Antwort von seinem ominösen Meister war da. Sie musste sogar gestern schon abgeschickt worden sein. John hob sich diese Mail bis zum Schluss auf, erst wollte er die anderen Mails durchschauen. Es war nichts Besonderes dabei. Ein wenig gespannt öffnete er die Mail von Ihm: „Auf in den Kampf!“ stand dort nur. Sollte Er ihn durchschaut haben? Hatte der Meister erkannt, dass seine erste Frage ein Test sein sollte? John hatte Feuer gefangen. Er stand auf, ging im Zimmer umher und suchte eine Frage, die es in sich hatte. Schließlich schrieb er: Kann es nicht sein, dass eine fragende Haltung mich nicht weiter bringt? Wäre es nicht sinnvoller, Anregungen zu bekommen, damit ich meinem Leben wieder eine klare Richtung geben kann? John schickte die Mail ab und wenige Sekunden später hatte er schon die Antwort: „Ein guter Ansatz. Deshalb die erste Anregung: Drehe den Spieß nicht um, Du willst Orientierung! Reinige deinen Blick mit den Kräften deines Sarkasmus!“ John war geplättet. Wie konnte Er so schnell antworten? Und vor allem, wie konnte Er das mit dem Sarkasmus wissen? Er musste seine Strategie verändern. Sein Gegner schien endlich mal ein wirklicher Gegner zu sein. „Auf in den Kampf!“ dachte John, bisher hatte er die meisten Leute, mit denen er zu tun hatte, ausgetrickst. Neulich noch war es ihm gelungen, für seine Reise im letzten Jahr, eine Entschädigung zu erstreiten, weil eine Familie mit vier Kindern ihm angeblich die Urlaubsfreuden geraubt hätte. Das stimmte zwar nicht, er hatte sich sogar gut mit allen verstanden, doch wenn man irgendwie Geld raus holen kann, dann ist es einen Versuch wert. Jetzt war ihm allerdings überhaupt nicht klar, wie er angreifen könnte. Worum sollte es gehen? Was wäre der Sieg? Und hätte er Spaß daran, einen Gegner zu besiegen, der völlig anonym ist? John wollte seine Strategie umkehren. Was wäre, wenn er völlig offen über seine Gefühle und Gedanken berichtet? Was sollte ihm dabei schon passieren? Schnell installierte er eine Software, die seine Spuren verwischte. Durch Umleitungen etc. wäre es schwer, seine Identität zu entschlüsseln. Er ging sowieso immer mit anderen Nummern ins Netz. Nun fing er an zu schreiben.

John hatte sich die Finger auf der Tastatur wund getippt. Alles hatte er versucht, in Worte zu fassen, was er in den letzten Monaten gedacht und gefühlt hatte. Ganz genau beschrieb er seine Gefühle, damit sein Gegenüber auch verstand, wie es in ihm aussah. Jeden Satz, ja jedes Wort, überprüfte er, um keine Missverständnisse zu erzeugen. Wie viel Zeit vergangen war, wusste er nicht. Er hätte noch weiter gemacht, doch er spürte einen ungeheuren Druck auf seine Blase. Der Gang zur Toilette ließ sich nicht aufschieben. Er schickte die Mail ab und ging den Gang der Erleichterung. Erst jetzt hatte er das Gefühl, mit seiner Mail fertig zu sein. John wunderte sich über sich selbst. Er hatte in einer Offenheit über sich geschrieben, die er bisher immer vermieden hatte. Es war ihm leicht gefallen und er hatte ganz und gar nicht an Kampf gedacht. Als er zurück an seinem PC war, sah er, dass eine neue Nachricht da war. Er holte sie ab und sah erstaunt, dass sie von Ihm war. Es war nicht zu glauben, dass Er so schnell geantwortet hatte. Allein das Lesen der Mail hätte schon länger gedauert als sein Gang zum Klo. Seine Hände zitterten als er die Mail öffnete. Unglaublich was da stand: „Wann und in welcher Sache bist du leidenschaftlich?“ Das war alles.

John fühlte sich leer. Und oft, wenn er sich so fühlte, surfte er im Worldwideweb herum, um Sexvideos zu finden, die er downloaden oder streamen konnte. Wer sich einmal dran gesetzt hat, solche Seiten zu finden, der fand immer etwas. Er hatte genügend Sicherheitssoftware installiert, um Viren abzuwehren, die man sich fast immer auf diesen dunklen Seiten einfing. Wenn er sich bei Bekannten umhörte, stellte er fest, dass fast alle Sexseiten kannten. Manche gaben offen zu, dass sie vor ihrem Rechner sitzen und nackte Weiber angucken, bei anderen merkte man, dass sie es taten, aber nicht zugeben wollten. John fand ein Filmchen mit zwei vollbusigen Blondinen, die es einem Mann besorgten. Der Pornostreifen war nicht schlecht und er hatte seinen Spaß. John fühlte sich jetzt besser.

Bevor er nun ins Bett ging, wollte er Ihm noch kurz etwas mailen. Leidenschaft? Was fiel ihm zu diesem Thema ein. Hatte er schon einmal richtig Leidenschaft entwickelt? Momentan kam ihm sein Leben recht leidenschaftslos vor. Er machte seine Arbeit, doch sich richtig reingeben, das war es nicht, vielmehr empfand er viele Dinge, die er tat, als eine Form von Sucht. Die Sache mit den Erotikfilmchen war so etwas. John suchte manchmal stundenlang nach Bildern von nackten Frauen oder nach Filmchen, befriedigte sich selbst und stellte dann fest, dass die Zeit recht kurz geworden war, bis dass der Wecker wieder klingelte. Viele Nächte hatte er schon vor dem PC verbracht und nicht bemerkt, wie viele Stunden er auf der Suche nach irgendwelchen Pornobildchen vergeudet hatte. Leidenschaft war das jedoch nicht. Ihm kam es eher so vor, dass er zu faul für ein leidenschaftliches Tun war. Genau das war eine Frage, die er Ihm stellen könnte. John schrieb seine Mail an Ihn. Zunächst – und das kostete ihn schon eine große Überwindung – beschrieb er seine nächtlichen Exkursionen. Und dann erläuterte er seine Vorstellungen über Faulheit. Oder war es eher Trägheit? Er bekam den Hintern nicht hoch. Seine Ergüsse endeten in der Frage: Was unterscheidet eigentlich Sucht von Leidenschaft? Und warum hat sich über mein Leben eine solch große Trägheit gelegt?

John war mittlerweile so müde geworden, dass er seinen PC runter fuhr und sich sofort ins Bett begab. Am nächsten Morgen hätte er fast verschlafen. Um vor der Arbeit, die Mails abzurufen, war einfach keine Zeit. Unruhig fuhr er in seine Firma. An diesem Tag gab es keine Sitzungen. Er konnte die Post wegarbeiten, den Schriftkram erledigen und vor allem pünktlich Feierabend machen. Gespannt fuhr er nach Hause. Wie würde die Antwort lauten? Der Feierabendverkehr nervte an diesem Tag mehr als sonst. Endlich saß er an seinem PC und konnte die Mails abrufen. Natürlich war die Antwort seines Meisters dabei: „Wilde Pferde müssen mühsam gezähmt werden, damit man auf ihnen reiten kann. Wer nur ein einziges Pferd zugeritten hat, reitet irgendwann auf einem lahmen Gaul.“ Was sollte dieses Bild bedeuten? Pferde zähmen? Okay, so ein wildes Pferd ist sicherlich leidenschaftlich. Doch es ging ja um seine Leidenschaft. Und warum sollte er mehrere Pferde zureiten. Er wurde ein wenig sauer auf Ihn, der immer nur in Metaphern antwortete. Was sollte das für ein Life-coaching sein, wenn er damit nichts anfangen konnte? Ein Meister sollte ihm doch das Leben einfacher machen. John hatte keine Lust auf weitere Fragen und Antworten. Er war genervt.

Er beschloss, sich an der frischen Luft abzureagieren. Also ging er in den nahe gelegenen Park und genoss die frische Luft. Der Wind ließ ihn sanft Berührungen spüren. Die Sonne wärmte nicht nur seine Haut, sondern auch sein Gemüt. Mit der Sonnenkraft vollgetankt kam ihm auch die Frage in den Sinn: Muss man voll sein, um sich leer machen zu können? Jetzt hatte er nichts Sehnlicheres vor, als genau diese Frage an Ihn zu schicken. In wenigen Augenblicken saß er wieder an seinem PC und schickte eine Mail mit dieser Frage ab. Sofort hatte er eine Antwort auf seine Frage. Die Antwort war so schlicht und kurz, wie ärgerlich. „Ja“ las er nur. Es war eine klare Antwort, doch er hätte gerne eine Begründung für dieses Ja gelesen. Er schrieb zurück: Was bedeutet dieses Ja? Welche Fülle und welche Leere sind gemeint? Er schrieb sich nach diesen Fragen noch mehr aus dem Leib. Wieder hatte er sich verausgabt. Die Antwort kam wie immer postwendend: „Wie gibst du deinem Körper innere Stärke?“ Was sollte das denn nun wieder? Erst war von Fülle und Leere die Rede und nun vom Körper. Sein Körper war in Ordnung. Er ging doch regelmäßig ins Fitnessstudio. Und wenn er sich dort umschaute, musste er feststellen, die anderen waren ziemlich schlapp. Die Anabolikatypen hatten natürlich Körper wie Kampfmaschinen, doch das schien ihm ganz und gar nicht ästhetisch. Vor allem konnte er Körper und Stärke nicht übereinander bringen. Er fühlte sich stark, wenn er im Fitnessstudio seine Übungen machte. Die Frauen schauten interessiert. Und das machte ihn stark. John hatte jedoch die Ahnung, dass Er das nicht meinte. Wieder schrieb er eine Email: Was bedeutet Stärke? Und er schrieb, was er in seinem täglichen Kampf mit den anderen Männern erlebte. Da fühlte er sich nicht immer stark, weil ihn manchmal so kleine Typen durch eine geschickte Rhetorik übervorteilten. Er erinnerte sich daran, wie er neulich bei einem Strategiegespräch von seinem Lieblingsfeind ausgetrickst worden war. Dieser Typ war klein, hatte sich im Betrieb hochgearbeitet und verstand es, fast immer seine Interessen durchzusetzen. Körperlich war er sicherlich stärker als dieser Gnom, doch ihm fehlte etwas, was dieser Typ hatte. John versuchte sich an alles zu erinnern und schrieb es mit allen Details auf. Zum Schluss seiner Mail kam er dann zu der Frage: Ist körperliche Stärke eher der Ausdruck von Willensstärke als die tatsächliche Kraft?

 
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