Das kleine Narrcoticum

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Aus der Reihe: Lindemanns #361
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Beffendorf (& Lackendorf)

Die Deviaphobie ist die Angst, sich zu verirren. Augie Meyers, Keyboarder des legendären Sir Douglas Quintets („Mendocino“), erzählte einmal in einem Interview, er habe sogar schon den Zimmerservice angerufen, als er sich zu Hause aufhielt. Es gibt Vielflieger, bei denen daheim würde sogar jemand abnehmen. Es dauert eine Weile, bis sie sich in der eigenen Wohnung zurechtgefunden haben. Ohne Smartphone o. ä. kann man das vergessen: Sie sind so selten zu Hause, dass sie dort GPS benötigen.

Ein Trost: Selbst den Großen dieser Welt bleiben solche Missgeschicke nicht erspart. 1992 scheiterte ein Putsch in Venezuela daran, dass die ortsunkundigen Soldaten sich auf dem Weg zum Präsidentenpalast verirrten und Passanten nach dem Weg fragen mussten. Drei Jahre später, im Frühling 1995, besuchte der damalige UN-Generalsekretär Butros Butros Butros Ghali (drei weitere „Butros“ mussten aus Platzgründen weggelassen werden) das armselige Guatemala. Das offizielle Programm sah eine Stippvisite in der kleinen Stadt San Juan de Irgendwas vor. Die Maschine landete – nichts. Kein roter Teppich, keine Kapelle, keine goldigen Indiomädchen, die enthusiastisch Fähnchen schwenkten, kein Bürgermeister, nicht einmal ein Erschießungskommando. Nada. Nur ein völlig verdutzter Mechatroniker. Der Pilot hatte leider San Juan de Irgendwasque mit San Juan de Soundso verwechselt. Ein anderer Pilot von Delta Airlines ist frohgemut in Lexington, Kentucky, gelandet, hätte allerdings nach Louisville gemusst, das zwar ebenfalls mit L anfängt und ebenso in Kentucky beheimatet ist, aber: Ooops ... „This is your Captain speaking – krrrcht ... Unfortunately ...“ Selbst wenn das ein Pilotprojekt war – der Mann ist postwendend geflogen.

Zum Fasnetsumzug in Beffendorf – einem Ortsteil von Oberndorf mit knapp tausend Einwohnern – war einmal die Baronengilde aus Lackendorf eingeladen. Die haben sich dort verlaufen. Noch einmal zum Mitschreiben, zum Sich-genüsslich-auf der-Zunge-zergehen-lassen: In Beffendorf, keine tausend Einwohner. In Lackendorf geht den Verantwortlichen heute noch die Beffe, wenn sie an dieses Desaster denken.

Bösingen

In Bösingen (umgangssprachlich „Baisingen“, was allerdings eine Verwechslungsgefahr mit einem Rottenburger Stadtteil impliziert) werden die Werte hochgehalten, vor allem die Cholesterinwerte. Wohl deshalb bildet Bösingen seinen eigenen Speckgürtel, oder anders gesagt: Speck ist der Kitt, der diese Gemeinde zusammenhält. In Bösingen besteht fast alles aus Speck.

Für das jährliche Speckfest im Spätsommer wird sogar die Festhalle in der Avenida Joshua Kimmich vollständig mit Speck eingerieben. Mitglieder der Speckmockelzunft von 1969 servieren Specknacken und Bacon, die Gäste freuen sich über die Holzbrettchen vor dem Kopf, der Musikverein Frohsinn sorgt akribisch für selbigen. Hier ein Auszug aus dem Speckwalzer, getextet von Rudolf Angst:

„Nein, Geld, das brauch ich keins, mir fehlt nur eins / des isch en guata Speck / Ich brauch, um froh zu sein, nicht Bier, nicht Wein / brauch bloß en Baisinger Speck.“

Selbst wenn das mit dem Bier und dem Wein geflunkert ist: Klarer kann man das nicht formulieren – und ohne Spickzettel intonieren.

Speckwürfelspiele sorgen ebenso für Unterhaltung wie das gemeinschaftliche Fettabsaugen vor dem Rathaus. Beliebt der Babyspeck-Wettbewerb am Samstagnachmittag. Der Festsonntag sieht als Höhepunkt des Spektakels traditionsgemäß das Fußballspiel gegen die italienische Partnergemeinde San Lardo di Pancetta, und die Gäste aus dem Süden bringen dazu ihre „spettatore“ gleich selbst mit.

Die Bösinger Brände sind legendär, also die alkoholischen, 2019 wurde erstmals ein Gin mit Speckaroma angeboten – und ratzeputz weggetrunken. Ähnlich wie beim Currywurst-Brandy wird ein ausgewachsener Speck in die Brennblase gehängt, und während des Brennvorgangs strömt das Destillat daran vorbei.

Derzeit wird in einer Studie der Freiwilligen Universität Herrenzimmern FUH untersucht, ob Speck vielleicht verstecktes Fett enthält. Soviel lässt sich jetzt schon feststellen: Im Rahmen einer ausgewogenen Ernährung ist Speck unbedenklich. Im Klartext: Wenn man den Speck vorher auf die Waage packt, geht er wohl seiner ungesunden Substanzen verlustig und enthält daher kaum Omega-3-Fettsäuren. Wichtig in diesem Zusammenhang: Nie traten Nitritvergiftungen allein durch Speck auf, und ganz gleich, was los ist: Es ist immer eine Frage der Dosis. Wer viel Gemüse oder Salat isst, nimmt viele Antioxidantien zu sich, die die sog. Nitrosamine in Schach halten, und wer den Speck vielleicht einfach mal weglässt, ist auf der sicheren Seite.

Das Speckfest hat der Fasnet fast schon den Rang abgelaufen. Vielleicht hat das mit den strengen Regeln der Narrenzunft zu tun. Ein Auszug: „Die Teilnahme an auswärtigen Nachtumzügen ist für unter 16-Jährige (Stichtag Geburtstag) nicht möglich. Eine schriftliche oder mündliche Übertragung der Verantwortung an andere Personen von den Erziehungsberechtigten ist nicht möglich.

Es ist weiterhin nicht möglich, die unter 16-Jährigen zum Umzug zu bringen und nach dem Umzug wieder abzuholen. Eine Ausnahme zur Teilnahme am Umzug ist dann möglich, wenn ein Erziehungsberechtigter selbst mit Häs am Umzug teilnimmt. Diese Regelung gilt uneingeschränkt für alle.“ Nicht möglich, nicht möglich, nicht möglich – bei Jugendlichen kommt diese Vokabelkombination womöglich weniger gut an.

In der Chronik der Speckmockelzunft steht für das Jahr 1991: „Die Fasnet fällt offiziell aus wegen des Golfkrieges.“ Und gleich darunter: „Bau des Geräteschuppens hinter dem Friedhof.“ Über einen Zusammenhang ist indes nichts bekannt.

Brezelfingen

Keine Bange, es sind nur Fehlzündungen! Die Hegau-Vulkane sind seit sechs Millionen Jahren erloschen, angeblich, so meinen die Wissenschaftler, gibt es keine Magmenschicht, mag man’s glauben oder nicht. Sowieso sind wir hier nicht in Island. Aber manchmal bebt die Erde doch und auf einmal hört man einen gewaltigen Knall: Fehlzündungen der zahllosen Motorräder, die die Strecke vom Schwarzwald hinunter ins Tal heimsuchen. Wir haben es also ebenso wenig mit Erdbeben zu tun, obwohl die Region – Zollerngraben – seismologisch gesehen einiges hergibt.

Das erhöhte Aufkommen von Motorrädern ist auf zweierlei Fakten zurückzuführen: Zum einen die achterbahngleichen Hebungen und Senkungen unter extremstem Geschlängel, zum anderen die Autobahnkapelle St. Emmaus an der Rastanlage Engen, die vor allem von christlichen Motorradgangs angesteuert werden, Katholen wie Evangelen, die sich hier auf ihren Affenschaukeln einen Segen to go bzw. to speed holen, auch wenn das kein Weihrauch ist, der aus den silbrig glänzenden Rohren hervorquillt. Für die Emmauskapelle hier als besonderen Service noch die Koordinaten: N 47° 51’ 38’’, O 8° 47’ 16’’.

Nicht zu vergessen die Motorradmanufaktur in Brezelfingen, auf halber Strecke zwischen Immendingen und Mauenheim gelegen, unweit der Gemarkung Lemmingen, von wo aus die L 225 zu Tal schießt. Dort befindet sich die Motorradmanufaktur Bannister, die Unikate fertigt, die z. T. von Scheichs aus Dubai oder Oman in Auftrag gegeben wurden. Auch der amerikanische Country Star Justin Thyme zählt zum erlesenen Kundenkreis. Die Maschinen werden liebevoll von Hand gefertigt, das dauert seine Zeit, so schnell wie’s Brezelbacken geht das nicht. Die Landstraße in Richtung Engen eignet sich ideal als Teststrecke, und gelegentlich weicht man aus in den Zollernalbkreis, wo sich z. B. zwischen Wellendingen und Gosheim ähnliche Bedingungen bieten. Überhaupt ist die Landschaft wie geschaffen für Biker, die mit sattem Knatterton dahinrallern, virtuos auf der Talfahrt, auf der Harley Fatboy, auf der Triumph Thunderbird – man weiß ja: Triumph krönt die Figur, weswegen sie von frisierten Frauen bevorzugt wird, auf der Original-Suhl-Simson Star SR4, oder eben, wer über das nötige Kleingeld verfügt, auf der Bannister Road Rider, was im Brezelfinger Winter nicht ungefährlich ist, denn das Salz wird anderweitig benötigt.

Die Gemeinde, die sonst nicht allzu viel zu bieten hat, beherbergt nämlich einen Bäckerei-Großbetrieb, in dem u. a., nun ja, nomen est omen, überwiegend Brezeln hergestellt werden. Das Wort Brezel geht übrigens auf das lateinische „brachium“ zurück und von diesem Wortstamm ist es nicht weit zu „brachial“.

Gut, prinzipiell könnte man einwenden, dass die Damen und Herren Biker nichts anderes sind als Benzinschlucker und Lärmverbreiter, zäh wie Leder, d.h. wie ihre Oberbekleidung, und die Frage sei erlaubt, ob da vielleicht welche Fahrtwind mit Freiheit verwechseln, andererseits kommt dieser Personenkreis wenigstens an die frische Luft und somit weniger auf dumme Gedanken. Viele von ihnen verbreiten das Wort Gottes, denn es gibt sie tatsächlich, die christlichen Biker, die an jedem Autobahnkreuz ein Gebet sprechen, sogar organisiert. Interessierte können sich den Folder der „Evangelischen Frauen in Baden-Württemberg – Pilgern mit Motorrad“ besorgen: Dabei suchen Easy Riderinnen den Flow zwischen Kraftstoff und Kraftfeld, zwischen innerer und äußerer Einkehr („Bikers welcome!“), zwischen Geist und Himbeergeist, zwischen PS und PMS, nähermeinGottzudir, und krawallen mit dreißig Maschinen durchs Biosphärengebiet, die gewundenen Straßen ein gefundenes Fressen, um schließlich als röhrende Gottesanbeterinnen, die Ausfahrt als Wallfahrt nutzend, bei der Heiligen Hildegard von Singen innezuhalten und Trost zu finden.

Die Manufaktur Bannister sucht immer qualifiziertes Personal, was in dieser strukturschwachen Gegend nicht so einfach ist, zumal sich ganz in der Nähe ein zweites Unternehmen findet, das ebenfalls mit einem holistischen Ansatz zu Werke geht, weswegen man auch in Dauchingen ständig Schrauber braucht.

Was fällt einem bei der Einfahrt nach Schramberg ein? Es geht steil bergab. Hier haben sich schon viele Bikerle Schrammen geholt. Seit dem 28. April 2020 aber hat die Gemeinde dem Motorradlärm den Kampf angesagt, eine schlimme Nachricht für Noise-Enforcer und Sounddesigner. Aufheulende Maschinen treffen auf aufheulende Bürger, 81 Gemeinden und Landkreise haben sich schon dieser Initiative angeschlossen. Wie es die Schramberger anstellen werden, weiß bisher keiner, aber bei Amazon gibt es die „Army Road Block Straßensperre Krähenfüße Nagelsperre Polizei Straßensperre Nagelkette Nagel Sperre“ schon für 343,46 Euro. Gut, es heißt Army, aber vielleicht sind sie im zivilen Bereich einsetzbar. An den Ortseinfahrten sollen jedenfalls Displays installiert werden, die die Dezibel anzeigen und die Geschwindigkeit messen, um dem Fahrer gleich anzuzeigen: „Langsamer!“, „Leiser!“ oder „Fuck yourself!“ Sie versprechen sich davon eine nachhaltige Wirkung, was nicht zwingend bedeutet, dass die Biker nach wenigen Minuten halten.

 

Dauchingen

Aaah, Dauchingen, Juwel des Okzidents! Erstmals urkundlich erwähnt 1094 als Taichingen oder Töchingen, alsbald aber Dauchingen, weil das für die Zivilbevölkerung wegen des kollektiv vorgeschobenen Unterkiefers leichter auszusprechen war. Schon die Römer hatten sich hier niedergelassen, wie Münzfunde im Gewann Riesenburg vermuten lassen, wo sich wahrscheinlich ein Glücksspielcasino befunden hatte. Lt. Wikipedia sind „schützenswerte Biotope nicht mehr erhalten“, wegen der intensiv landwirtschaftlich genutzten Flächen, das Naturdenkmal Johann-Linde ist der fast einzige Baumbestand der Gemeinde. Dennoch bietet Dauchingen einer endemischen Tierart eine Heimat, die nicht einmal besonders geschützt werden muss, und ihr jährliches Erscheinen ist verlässlich zu verorten – natürlich bei der Fasnet. Wenn es allerdings an der Natur nicht liegt, für ein anständiges Habitat zu sorgen, muss es wohl an der lt. Eigenauskunft der Gemeinde „hervorragenden verkehrlichen Anbindung“ liegen. Verkehrlich – was für ein Wort in diesem Zusammenhang.

Wenn die Zeitung schreibt: „Und dann ist Stimmung pur angesagt“, weiß man, dass jetzt die Paarungszeit der Wurstsalatbären beginnt, und speziell in dieser Zeit ist der Appetit natürlich riesig, dann heißt es für alle Metzger im Umkreis von zwanzig Kilometern, auf der Hut zu sein. Ja, tatsächlich: Meister Petz einmal anders. Den Wurstsalatbären gibt es ausschließlich in Dauchingen, ein höchst entfernter Verwandter des Xälzbären, der aber fürderhin im Schwäbischen beheimatet ist. Wie bei allen Bären ist ihr Körper massig und der Kopf so riesig wie sein Appetit. Die Gliedmaßen sind kurz.

Es ist wohl kein Geheimnis, dass sich der Name des Wurstsalatbären von seinen Ernährungsgewohnheiten ableitet. Auch wenn die Lyoner dabei eine zentrale Rolle spielt, hat sich die Gemeinde nicht Lyon zum Partner erkoren (obwohl die Stadt nur lächerliche 512.000 Einwohner mehr aufweist als Dauchingen), sondern irgendein Hüttendorf im Elsass, in dessen Nähe man allerdings einen unterirdischen Dressingsee entdeckt hat. Seit 2012 gibt es eine Pipeline zwischen den beiden Orten. Man kann dem Bären schon mit Gurken und Zwiebeln eine Freude machen, und einem Ring Lyoner natürlich, und schon macht er es sich beim Dauchinger Ende der Pipeline oder im Florianssaal gemütlich.

Die Männchen sind erheblich schwerer als die Weibchen. Anders als alle anderen Vertreter der Gattung Ursidae sind die Wurstsalatbären keine Einzelgänger, im Gegenteil. Nur einmal im Jahr tauchen sie auf, wenn sie in die „attraktiven Südhanglagen“ ausschwärmen auf der Suche nach Bärlauch. Außerdem natürlich zur Fasnet. Für den Rest des Jahres tauchen sie ab, der Winterschlaf dauert etwa 330 Tage im Jahr, was in der Tierwelt seinesgleichen sucht. Außerhalb der Fasnets- und Bärlauchsaison ist es selbst für versierte „Bearspotter“ unmöglich, ein Exemplar des Wurstsalatbären vor die Linse zu bekommen.

Deißlingen

In Deißlingen geht es rund, zumindest einmal im Jahr. Am vorletzten Septemberwochenende dreht sich alles im Kreis, bzw. alle drehen ihre Runden um einen Hammel, der in den letzten Jahren aus dem Streichelzoo in Niedereschach stammt, sozusagen „Rent-a-mutton“. Einmal im Jahr veranstaltet der Trachtenverein „Reckhölderle“ den Hammellauf, 2020 zum dreiundfünfzigsten Mal. Die sehr jungen Teilnehmer, rund fünfzig an der Zahl, sind durch die Bank kostümiert, wenn man eine Tracht denn als Kostüm definieren kann. Erwartungsvoll stehen sie da, die Hammelbeine langgezogen, manche mit Riesenbammel, in Tracht, trachtend nach dem Sieg, aber nicht in Niedertracht, und motivierter als mancher Bundestagsabgeordnete beim Hammelsprung.

Stoisch wie Formel-Eins-Piloten drehen sie Runde um Runde, so lange, bis der Wecker, der unter einem Tuch verborgen ist, zu klingeln anhebt. Das kann Tage dauern, und, das unterscheidet den Hammellauf vom Motorsport, ohne Boxenstopp. Wie der Tanz ums Goldene Kalb, nur halt ohne Kalb. Wer im Moment des Klingelns die Fahne in der Hand hält, die ihm kurz zuvor von einem Mann überreicht wurde, der auf den fahnenaffinen Namen Stange hört, darf den Hammel zwar nicht behalten, denn der gehört in die Kuschelgemeinde Niedereschach, aber immerhin den Gegenwert dafür mit nach Hause nehmen. Früher hat man das Tier an Ort und Stelle verspeist. Hammel und Schafe sind dabei klimafreundlicher als die Methangasschleuder Kuh. Bei der Herstellung von 1 kg Lammfleisch fallen bis zu 39 kg an CO2-Emissionen an. Obendrein ist der Verbrauch geringer als beim Benzinrasenmäher.

Ein bisschen wie die Reise nach Jerusalem darf man sich den Hammellauf vorstellen, nur mit glücklicherem Ausgang. Nicht zutreffend ist, dass die Verlierer ebenfalls eine Tracht erhalten, nämlich Prügel. Gut, der Herbsttermin ist gewöhnungsbedürftig, hier kann man schon einmal Pech haben mit dem Wetter, da wäre ein Feiertag wie Christi Hammelfahrt womöglich geeigneter, aber man kann nicht alles haben. In der Fasnet sind Hammel eher weniger präsent, nirgends im World Wide Web findet sich eine Hammelzunft, das nächste wäre die Hummelzunft im schweizerischen Arth.

So verfügt Deißlingen über ein Herausstellungsmerkmal, das nicht so frivol daherkommt wie mancher Schäferlauf in der näheren und weiteren Umgebung und vor allem Kinderherzen höher schlagen lässt. Neid- und Streithammel mögen also fortan die Klappe halten und sich dem Schweigen der Belämmerten anschließen.

Denkingen

Wer an Denkingen denkt, dem fällt womöglich gleich das „Schmierseifen-Attentat“ vom 23. September 1966 ein, als die Heubergbahn zwischen Spaichingen und Reichenbach am Heuberg stillgelegt wurde, und bei der letzten Fahrt – was ist das Gegenteil von Jungfernfahrt? Entjungfernfahrt doch wohl nicht? – haben die Anrainer aus Protest die Schienen im Autunnel mit Schmierseife „einge – ja, schmiert“, so dass sich die Lok keinen Wank mehr bewegen konnte. Den Alt-66ern von Denkingen schießt heute noch das Augenwasser ins Gesicht, nur geholfen hat es letztlich nichts, und ohne Bahn ist man seither angeschmiert.

Dabei bräuchte man dringend ein Herausstellungsmerkmal, hat man doch Schwierigkeiten, sich zu behaupten in einer Welt, die immer unübersichtlicher wird: Denkingen, Denklingen (obschon im Oberbayerischen gelegen), die Verwechslungsgefahr ist groß, wenngleich nicht so groß mit den verschiedenen Zimmerns des Südens, der Schömbergs, Immendingens und Schwenningens. Gib im Navi, wenn du nach Fridingen an der Donau willst und alphabetisch nicht so gut sortiert bist, Friedingen ein und du landest sonstwo, jedenfalls irgendwo bei Singen. Da können sich z. B. die Deppenhausener nur beglückwünschen – so mag nun wirklich kein Ort heißen.

So hat man sich in seiner Not von seinen Nachbargemeinden dazu bequatschen lassen, sich am Projekt „Nachhaltigkeitsregion N! Region FÜNF G“ zu beteiligen, die – überraschenderweise – fünf Gemeinden mit dem Anfangsbuchstaben G zusammenführt: Galdingen, Gdeisslingen, Gdenkingen, Gfrittlingen und Gwellendingen. Oder steht FÜNF G vielleicht für das neue Mobilfunknetz? Keiner weiß es. Man weiß nur, dass es Dreifaltigkeitsberg heißt und nicht Nachhaltigkeitsberg. Denkingen z. B. heißt ja nur Denkingen und nicht: Nachdenkingen – und die Figur von Auguste Rodin „Der Denker“ und nicht „Der Denkinger“. Stattdessen hat man einen Narrenbrunnen errichtet.

Dafür floriert die Fasnet tadellos, in der Besetzung „Plätzle-Narr“, „Pfarrbach-Weib“ und „Gelbe Kutte“. Diese Figuren sind endemisch. Bereits, so meint die Chronik, im Jahre 1729 wurde der Pfarrer Ferdinand Stöckhl von der päpstlichen Nuntiatur in Luzern dazu vergattert, den „Christenlehrpflichtigen“ das Fasnetsweckle zu reichen, merkwürdigerweise am 19. Juli. Haben wir es hier mit einer exorbitanten Zeitverschiebung zu tun?

Die erste Narrenzunft von 1949 hielt genau drei Jahre, dann war es vorbei wegen zu geringer Beteiligung. Wesentlich später entstanden kühne Gedanken im örtlichen „Think Tank“, und keine zehn Jahre nach dem Schmierseifen-Attentat etablierte sich endlich die neue Narrenzunft, und seither ist nach dem Ansäen am Schmotzigen durch „Hackerweiber“ (bei denen es sich aber nicht um die Gefährtinnen von Computer-Nerds handelt), „Ausscheller“ und „Ansäer“ von hohem Ansehen kein Halten mehr. Der Narrensamen (dabei sind nicht die Lappen gemeint, die Fennoskandinavien bewohnen und erst seit den siebziger Jahren Samen heißen) wird von den Christenlehrmenschen großzügig verteilt, auf dass sich zur kommenden Fasnet hinreichend Nachwuchs einstellt, wobei diesem Ritual etwas dezent Anzügliches innewohnt, ebenso wie in einer Zeile des Narrenmarsches: „Bura rücket Eier raus, der Segen kommt in Stall und Haus“

Darüber einmal nachzudenken, wäre verschwendete Zeit, und somit ist es an der Zeit, das Land der Dichter und Denkinger wieder zu verlassen.

Dotternhausen

Herausstellungsmerkmal ist natürlich die offiziell als „Materialseilbahn“ ausgewiesene Beförderungsanlage über die Bundesstraße 27, die mit ihren Lorewagen zwei respektable Steinbrüche und ein großes Zementwerk miteinander verbindet, aber nebenbei eine wunderbare Parodie auf die Wuppertaler Schwebebahn darstellt. Ein Zementwerk übrigens, das sich bis 2004 im Besitz der Familie Rohrbach befand. Der Gauamtsleiter der NSDAP, Rudolf Rohrbach, wird von Wikipedia noch immer als Ehrenbürger geführt. Schnell stößt auf Beton, wer die Entwicklung eines Betriebs, der während des Dritten Reiches aus Mitteln des „Wirtschaftsdank Württembergs“ finanziert worden war, ausleuchten möchte. Wegen hohen Bedarfs der Zementzubereitung wird der Hausberg der Region, der Plettenberg, nach und nach abgetragen, oder wie man auch sagt: „geplettet“.

Dotternhausen, ein Zollernalbtraum. Natürlich ist die Hinwendung zum Hühnerhaften augenfällig, vor allem zum „gallus gallus domesticus“, dem Haushuhn. Die Einwohner – beileibe keine Weicheier – nennen ihre Gemeinde in einem Anflug von Selbstironie „Eigelb City“ – wobei es sich tatsächlich um Schwaben handelt und nicht etwa um „Dotterdapper“, wie die Badener in diesem Landesteil genannt werden. Zur Fasnet sind alle „dolloret“, im Klartext „dotschig“. Was „dotschig“ ist? Na, „dolloret“ halt.

Bei einer Höhe von 666 m ü. NHM ist es natürlich gerechtfertigt, dass sich die Narrenzunft den Namen „Mondstupfer“ ausgesucht hat. 666 Meter – eine Zahl, die Satanisten aufhorchen lässt. (Das erste Narrenkleid wurde 1966 genäht. Hier wären einmal ein paar wohlfeile Verschwörungstheorien durchaus angebracht.) Angeblich haben einige Dotternhausener den Mond auf dem Plettenberg mit langen Stangen einfangen wollen. Fasnet in Dotternhausen ist natürlich das Gelbe vom Ei, und es ist den Verantwortlichen hoch anzurechnen, dass sie den Narrensprung nicht „Eisprung“ genannt haben, oder, schlimmer, pausenlos besoffen im Hühnerstall Motorrad fahren. Innerhalb der Zunft greift eine strenge Hackordnung: Gockeln, die sich aufplustern wollen, kommt man rasch auf die Schliche, die Frauen glucken nämlich gerne zusammen und tun jedem die Henne rein, der zu viel Gewese von sich macht. Überdies sind sie wie aus dem Ei gepellt. Aber, ein blindes Huhn trinkt auch gerne mal einen Korn, und so findet sich mancher Hahn nach den tollen Tagen als Hahnrei wieder, weswegen wiederum manchem Hühnerbaron der Kamm schwillt usw. Den Rest des Jahres sitzt man beieinander und grübelt, welche Wortspiele mit „Hahn, Huhn, Ei“ noch nicht verbraten wurden. So ist man schließlich auch auf die Hymne der Gemeinde gekommen: „Hendl in the Wind“ von Elton. Dazu gießt man sich ordentlich Most in die Köpfe. Sprüche, Witze, Ausdrücke sammelt man auf einer originellen Webseite namens iGelbdotcom. Außerdem pflegt man eine Gemeindefreundschaft mit Val d’Oison, was auf deutsch „Gänsekükental“ heißt.

Dotternhausen verfügt über ein eigenes Schloss, das von niederadeligen Herren im 12. Jahrhundert errichtet wurde. Später ging es in den Besitz der Verlegerfamilie Panacotta über. Teile der berühmten „Panacotta-Armee“ sind heute in einer Skulpturenstraße zu besichtigen in der Nähe des Fossilienmuseums mit Klopfplatz. Hier kann man nach Herzenslust nach Ammoniten hauen, wobei keiner genau weiß, was Ammoniten sind, mutmaßlich aber verwandt mit den Mennoniten. Das alles ist ja nicht schlecht für eine Gemeinde, die bis 1805 zu Vorderösterreich gehörte. Heutzutage sind das längst gelegte Eier. Unbedingt sollte man stattdessen noch die Freilichtbühne am Steinbruch erwähnen, auf der regelmäßig systemrelevante Stücke wie „Geschichten aus dem Wienerwald“ (Ödön von Horvath) zur Aufführung gelangen. Das muss niemanden verwundern, der weiß, dass das Erbgut des Huhns dem des Menschen ähnelt.

 

Der poetischste Name des Ortes aber gebührt zweifelsfrei der „Metzgerei zur Rose“.