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1.3.8 Narrativität und Temporalität

Abschließend sollen zwei neuere Ansätze gestreift werden, die ganz integrativ mit den Aufgaben, aber eben auch mit dem Bild eines Archivs zu tun haben: Narrativität und Temporalität. Für beide gilt das Verständnis des Archivs als Hort der Quellen, die, abhängig von unseren Fragestellungen und unserem detektivischem Blick, erst durch diesen Blick, durch diese Fragen ihren Wert entfalten – ein Umstand, auf den man aus der Position des Hüters und gatekeepers konsequent aufmerksam machen muss. Dies heißt und bedeutet in einem nicht unwesentlichen Umkehrschluss aber eben auch – insbesondere für die Filmarchive: Wie wird nun im Film über Archive gearbeitet, wie werden die Institutionen und ihre Materialien und Mitarbeiter dargestellt? Die zuvor schon erwähnte Verlebendigung des Materials, die Reanimationsbemühungen der bewahrenden Institutionen lassen sich als zyklische Bewegung beschreiben, die in der filmischen Thematisierung des Archivs und all seiner Facetten mit einem zweiten, ähnlichen Kreislauf verbunden werden.

Aus der Vielzahl der Beispiele soll hier nur auf eine kleine Auswahl hingewiesen werden, die grob in zwei Gruppen unterteilt werden kann: einerseits Beispiele, die einer formalen Narrativierungsstrategie zuzurechnen sind, andererseits Filme, die bewusst mit einer inhaltsbezogenen Narrativierungsstrategie arbeiten. Wie bei (fast) allen Typologien sind auch hier die Grenzen fließend. Im Rahmen der Konzentration auf das Formale werden das Medium Film und das Mediensystem Kino vor allem in ihrer durchaus nicht unproblematischen materiellen Beschaffenheit thematisiert. So werden in Gustav Deutschs Tradition ist (1999) die verschiedenartigsten Verfalls- und Bedrohungsszenarien miteinander verschaltet. Die inhaltliche Ebene, die einen Brand zeigt, korrespondiert mit der durch Zerfall beeinträchtigten Trägerschicht des Filmmaterials. Bill Morrisons Decasia (2002) geht sogar noch einen Schritt weiter: Im Zelebrieren der (gesuchten) Ruinenhaftigkeit (Simmel, 1996) der montierten Filmteile wird nicht nur auf die Vergänglichkeit und den Verfall hingewiesen, sondern aus eben diesem Umstand die Option des Erzählerischen gewonnen, die in zweifacher Wertigkeit mit und über das Material Auskunft gibt. Schon der Titel dieses hypnotischen Todes-Trips, der zwischen den Polen des eigentlich Repräsentierten und des von Erosion Zerklüfteten changiert, verweist ja auf die von Morrison verfolgte Poetik: Decasia ist eine Wortschöpfung aus Verfall (decay), Fantasie (fantasy) und dem antiken Paradies Arkadien (arcadia). Aus dem Wechselspiel zwischen verloren (lost) und wiedergewonnen (regained) erwächst die Filmerzählung des Unumkehrbaren, des Entropischen (Rayns, 2003) aus dem Filmmaterial.

Die Auseinandersetzung mit dem Titel führt in den zweiten Bereich der Narrativierungsstrategien: Kaum ein Beispiel wäre hier so sprechend wie Possession (2002), basierend auf dem gleichnamigen Roman Antonia Byatts, in dessen Zentrum eine revolutionäre Entdeckung in der Biografie eines fiktiven viktorianischen Dichters durch konkurrierende Literaturwissenschaftler steht. Wie von Suzanne Keen in dem Werk Romances of the Archiv in Contemporary British Fiction ganz ausgezeichnet herausgearbeitet (Keen, 2001, 34f.), ist die Handlung im Kontext des Feldes Archiv mit einer Vielzahl von wiederkehrenden Motiven und Elementen deutlich gekennzeichnet: Stellvertretend seien hier – neben der Bedeutung der materiellen Quellen für die Lösung des zumeist den Plot bestimmenden Rätsels – die romantischen Eskapaden der Protagonisten oder auch die schlechten Arbeitsbedingungen der Wissenschaftler und Archivare genannt. Nicht weniger oft sind auch die evozierte Atmosphäre der Institutionen und die Recherchevorgänge als detektivischer Akt von Bedeutung – ein erzählerisches Spiel, das sich auch mit einem Museum (Ballhausen, 2006) oder einer Bibliothek bewerkstelligen lässt. Nicht selten wird dabei die Institution in ihrer Ent-Faltung zum Grundstein eines neuen Schöpfungsaktes: Die Institution ersetzt in der Handlung nach und nach die Welt. Auf die Spitze getrieben kann dies sogar heißen, dass das Archiv das Leben selbst ersetzt. Ein Beispiel hierfür wäre David Cronenbergs medienreflexiver Spielfilm Videodrome (1983), in dem die Nebenfigur des ausschließlich telepräsenten Dr. Brian O’Blivion – nomen est omen – nur noch in Form von auf Videokassetten vor-gespeicherter Antworten und Aussagen erhalten ist. Dem eigentlich schon Verstorbenen garantiert trotz der physischen Veränderung und Verschiebung (Jameson, 1992, 22ff.) das Archiv, quasi im Rahmen einer Konvertierung zwischen Leben und Medium, das Überleben (Gaida, 2002, 46f.).

Mit dem Unsterblichkeitsversprechen des Films, dem Stemmen der Filmarchive gegen den Verfall des Materials, im Sinne einer „Erinnerungserzeugung“ (Doane, 2002, 221) und der angestrebten Wirksamkeit über die zeitlichen Konditionen und Begrenzungen hinweg, sind wir nun beim zweiten, angedeuteten Ansatz angelangt: der Dimension der Temporalität. Archive, die in ihrer philosophischen Beschaffenheit ein auf die Zukunft ausgerichtetes „Unterpfand“ (Derrida, 1997, 38) darstellen, rangen und ringen mit dem Spannungsverhältnis von Filmgeschichte und filmisch erfasster, fixierter Zeit. Der Regisseur Andrej Tarkowskij schreibt in seinem Essay Die versiegelte Zeit – und hier sind wir mit dem Ende nun tatsächlich am Anfang, bei der Vorgabe des zu Wiederholenden, angelangt – zu dieser, die Zukunft der Filmarchive deutlich (mit-)bestimmenden Herausforderung folgendes:

„Bis zum heutigen Tag können wir den genialen Film ‚Die Ankunft des Zuges‘ nicht vergessen, der bereits im vorigen Jahrhundert gezeigt wurde und mit dem alles begann. Dieser allgemein bekannte Film von Auguste Lumière wurde nur deshalb gedreht, weil man damals gerade Filmkamera, Filmstreifen und Projektionsapparat erfunden hatte. In diesem Streifen, der nicht länger als eine halbe Minute dauert, ist ein sonnenbelichtetes Stück Bahnsteig zu sehen, auf und ab gehende Damen und Herren, und schließlich der aus der Tiefe der Einstellung direkt auf die Kamera zufahrende Zug. Je näher der Zug herankam, desto größer wurde damals die Panik im Zuschauersaal: die Leute sprangen auf und rannten hinaus. In diesem Moment wurde die Filmkunst geboren. Und das war nicht nur eine Frage der Technik oder einer neuen Form, die sichtbare Welt wiederzugeben. Nein, hier war ein neues ästhetisches Prinzip entstanden. Dieses Prinzip besteht darin, daß der Mensch zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst und Kultur eine Möglichkeit gefunden hatte, die Zeit unmittelbar festzuhalten und sich diese zugleich so oft wieder reproduzieren zu können, also zu ihr zurückzukehren, wie ihm das in den Sinn kommt. Der Mensch erhielt damit eine Matrix der realen Zeit. Die gesichtete und fixierte Zeit konnte nunmehr für lange Zeit (theoretisch sogar unendlich lange) in Metallbüchsen aufgehoben werden“ (Tarkowskij, 1985, 68).

1.4 Historische, mediale und choreografische Vorbedingungen filmischen Denkens und Wirkens
1.4.1 (Hier) und (Jetzt)

Es gilt – jetzt im Zeitalter der unausgesetzten Zumutungen vielleicht sogar mehr als zuvor –, sich zur ungebrochenen Macht des Films und des Kinos zu bekennen, sich seiner Existenz, seines Lebens und eben auch seiner Lebendigkeit zu versichern. Mit einem gesunden Herzschlag von 24 Bildern pro Sekunde und einer unbändigen, chaotischen Lebensmacht wird Geschichte, dieses Oszillieren zwischen Konfrontation und Kontinuität, verfertigt und Erinnerung gestiftet. Hier (und jetzt) wird vom gelungenen Ausbruch der Künste aus der Haft der anbiedernden Repräsentation hinein in das fordernde Feld der Autonomie und Souveränität im 18. Jahrhundert gezehrt, jetzt (und hier) sollten Zäsuren nicht nur retrospektiv gefeiert, sondern auch die aktuellen Scheidewege bemerkt und anerkannt werden. Was leisten also die Sechziger- und Siebzigerjahre des 18. und 20. Jahrhundert noch für uns? Brachte 1968 filmisch eine erneuerte Absage an klassische Erzählprinzipien und politische Instrumentalisierung, gesellschaftlich das Aufrollen normierender Verrechtlichungsstrategien und wissenschaftlich den Methodenwandel der Geisteswissenschaften, so bringt das angebrochene 21. Jahrhundert die Wiederaufnahme der immer noch unbeantworteten Fragen (zur Geschichte). Nur sind diese durch den Generationssprung und die zwischenzeitliche Erkenntnis, dass entscheidende Schlachten geschlagen und verloren wurden, geprägt. Erinnern wir uns an Hunter S. Thompson und seine Beschreibung dieser Zwischenbilanz, gehen wir zurück zu dieser prägnanten Fixierung:

“Strange memoires on this nervous night in Las Vegas. Five years later? Six? It seems like a lifetime, or at least a Main Era – the kind of peak that never comes again. San Francisco in the middle sixties was a very special time and place to be a part of. Maybe it meant something. Maybe not, in the long run … but no explanation, no mix of words or music or memories can touch that sense of knowing that you were there and alive in that corner of time and the world. Whatever it meant. … History is hard to know, because of all the hired bullshit, but even without being sure of ‘history’ it seems entirely reasonable to think that every now and then the energy of a whole generation comes to a head in a long fine flash, for reasons that nobody really understands at the time – and which never explain, in retrospect, what actually happened. […] There was madness in any direction, at any hour. If not across the Bay, then up the Golden Gate or down 101 to Los Altos or La Honda. … You could strike sparks anywhere. There was a fantastic universal sense that whatever we were doing was right, that we were winning. … And that, I think, was the handle – that sense of inevitable victory over the forces of Old and Evil. Not in any mean or military sense; we didn’t need that. Our energy would simply prevail. There was no point in fighting – on our side or theirs. We had all the momentum; we were riding the crest of a high and beautiful wave. … So now, less than five years later, you can go up on a steep hill in Las Vegas and look West, and with the right kind of eyes you can almost see the high-water mark – that place where the wave finally broke and rolled back” (Thompson, 2005, 66ff.).

 

1.4.2 Geschichte(n)

An diesem Aussichtspunkt angelangt, kann auch zu einer reflexiven Neubetrachtung des Kinos angesetzt werden. Pop und Subversion, Geschichten und Geschichte beginnen zu zirkulieren und verdeutlichen uns die Macht des Kinos. Die Kontinuität von Themen prallt auf die Perspektiven der Nachgeborenen, auf die Positionenpluralität zwischen Resignation und unausgesetztem Bemühen um das subversive Potential des Mediums und seiner emanzipatorischen Fähigkeiten. Die Herausforderungen des Populären, seine Wirkungsmacht und die permanenten Zähmungsversuche durch Kommerzialisierung und Vermarktung verweisen uns darauf, dass auch Klassiker populär, ja vielleicht sogar klein angefangen haben. Die Geschichte, die der Film dabei im Antreten seiner medialen Erbschaft als respektable Quelle schreibt, ist, um Jacques Rancière heranzuziehen, eine Geschichte der Macht des Geschichteschreibens. Es ist das Schreiben/Filmen einer selbstständigen Historie, einer Geschichte – um Paul Nizon zu paraphrasieren –, die mit ihren Zäsuren und Frakturen allen Prognosen davonzulaufen scheint. Geschichte ist eben nicht linear, sie ist nicht glatt; vielmehr ist sie kurvenreich, von Brüchen durchzogen. Das Wie der Geschichtsschreibung, die Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Geschichtsschreibung, führt zur auch für Film gültigen Entscheidung für Perspektive, für einen Modus. Eine Vielzahl von Wegen ist denkbar, von einer der Zeit enthobenen, vielleicht sogar zeitlosen Analyse bis hin zur Geschichtslektion als Geschichtenstunde. Die Vervielfältigung der Geschichte und ihre darstellenden/vermittelnden Ausdifferenzierungen – dem literarischen Erzählen eines Herodots oder, um John Burrow zu folgen, dem Marxismus als letztem großen Narrativ der Geschichtsschreibung – enthalten aber glücklicherweise auch die Option einer mediengestützten Gegen-Geschichte. Wenn Hannah Arendt im Zäsurjahr 1968, unter Bezugnahme auf Maurice Blondel, „the strange contradiction between thought and death“ (Arendt, 2002, 688) notiert, lässt sich dies auch auf Film ummünzen: Film als Geistersehen ist gleichermaßen Evokation und Entwurf. Film ist Geschichte als Herausforderung der Verknappung, der Verdichtung und der Vermittelbarkeit. Die Relation des Films zur Historie findet dabei nicht zuletzt auch in der Filmwissenschaft, die sich aus ihrer von anderen Disziplinen vorgegebenen Determination als Hilfswissenschaft befreien konnte, ihren eigenständigen Ausdruck. In der Analyse von Darstellung und Darstellbarkeit der Geschichte wird klar, wie die Filme der Zäsurjahre vielschichtige, polyfone, ja sogar paradoxe Zeitbilder schaffen, die nicht selten eine Erzählung um einen dokumentarischen Nukleus oder philosophischen Gedanken spinnen. Eben weil diese Filme – denken wir an ein Beispiel wie Night of the Living Dead (ausgerechnet aus dem Jahr 1968!) – ästhetisches Produkt und Analyseangebot sind, überführen sie, um Formulierungen Frank Sterns aufzugreifen, die „Ohnmacht der Fakten“ in einem neuen ästhetischen Prozess zu einer „cineastischen Geschichtswahrnehmung“. Eine derartige visuelle Imagination, die auf literarisch-historischen Entwürfen fußt und sich nach und nach von diesen Wurzeln emanzipiert hat, ohne sich freilich ganz von ihnen lösen zu können, bezeichnet die Relation zwischen dem zu belebenden Text und den maschinell reanimierten Bildern; Bildern, die zwischen dem Sagbaren und dem Zeigbaren, dem Ungesagten und dem Unsichtbaren angesiedelt sind. Film als Medium, als Möglichkeit des Denkens ist auch eine Erbschaft, die nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten mit sich bringt. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit der sogenannten Wirklichkeit und ihrer Spuren und Markierungen, die sich zu einer Geschichte zusammensetzen lassen, manifestiert sich, wie Jean-Luc Godard es treffend zusammengefasst hat, die Notwendigkeit des Glaubens an ein Medium, das ein über die Erzählung verbundenes Verhältnis zur Geschichte unterhält. Dass diese Relation alles andere als unproblematisch ist, zeigt sich auch in den noch genauer zu untersuchenden filmischen Fluchtbewegungen in die Geschichten, die die Historie im Nacken haben. Ein unangenehm fester Biss scheint da zu erwarten zu sein, der mehr als ein vermeintlich romantisches Mal am Hals hinterlassen könnte.

1.4.3 Körper/Relationen/Codes

Schon der frühe Film bringt die Tanzenden auf die Leinwand, ist er doch besonders an Körpern in Ausnahmesituationen interessiert. Erotik und Exotik mischen sich, wenn Bauchtänze zu sehen sind und das Publikum ebenso – wenn nicht sogar mehr – zu begeistern wissen, wie marschierende Soldaten in ersten dokumentarischen Versuchen. Thomas Edison selbst definierte Kinematographie als die Erfindung, die die Bilder zum Tanzen bringen würde, und begründete eine fruchtbare, andauernde Beziehung zwischen Tanz und Film bzw. Tanz im Film. Der Kinematograf bannte und projizierte ab seinen ersten Momenten nicht nur das angeblich Faktische, Dokumentarische, sondern auch – und vor allem, möchte man meinen – das Außergewöhnliche, das Schreckliche und das Verführerische. Film- und Tanzgeschichte erweisen sich einmal mehr als Körperhistorie, als Geschichten der Bewegung und des Lichts. Tanz entwickelte sich vom allgemeinen, zutiefst menschlichen Bewegungswunsch und seiner zumeist sakralen Konnotationen – der Beschwörung mythischer Mächte und mystischer Transzendenz – zur hochreflexiven Kunstform. Die Übersetzung dieses Zaubers unter den Bedingungen des anbrechenden 20. Jahrhunderts ist retrospektiv als eines der notwendigsten Projekte einer dynamischen Moderne zu verstehen. Innerhalb der historischen Darstellungen ist Tanz aufgrund seiner Realisationsformen abwesend, bleibt er nach der Aufführung nur über die Erinnerung, über ausdifferenzierte Notationssysteme oder Speichermedien abrufbar. Hinsichtlich der filmischen Kontexte ist zumindest als bemerkenswert anzusehen, dass die Erneuerung mit der vorletzten Jahrhundertwende angesetzt werden kann und sich somit der Hinweis auf eine weitere Parallelgeschichte des Mediums Film und seines sich ausbildenden, baulich verfestigenden Aufführungskontextes Kino anbietet. Tanz nahm zu Beginn klassische Strukturen – etwa auch aus dem filmverwandten Gebiet des Vaudevilles – auf, um daraus neue Optionen der Belebung zu schöpfen. Waghalsige Abläufe und Motivsequenzen fördern in diesen aktuellen choreografischen, medienreflexiven Arbeiten radikale ästhetische Praxen im Umgang mit tanzenden Körpern und Repräsentationsmustern zutage.

Der Körper wird im Tanz in eine Bedeutung an sich transferiert, der Tanz wird zur Übertragung, der aus der alltäglichen Bewegungsbeliebigkeit ausschert. Das choreografierte Subjekt strukturiert den Raum, bewegt sich anhand vorgegebener Codes, es stiftet die Umgebung, Bindungen und Verbindlichkeiten. Aufbauend auf der Kondition des Athletischen und Artistisch-Künstlerischen, wird der Körper zum Instrument, zum Faktor der Situation. Aus dem grundsätzlich rhetorischen Gefüge aus ausgestaltender elocutio und darbietender actio wird nicht nur ein Repertoire herausgeschält, das mit seinen Zugängen ein Werk erneuert; vielmehr kann auch ein gänzlich neues Werk geschöpft und vorgestellt werden. Aus dem produktiven Abhängigkeitsverhältnis zur Choreografie – oder der Problematisierung desselben – kann der Körper mit seinen Bewegungen im Raum tänzerisch vorausgehen, er kann Bilder vor-stellen. Aus einer Außenperspektive eröffnet sich mit dem (modernen) Tanz deshalb wohl auch die paradox anmutende Herausforderung, sich mit dieser Kunst ganz in den Dienst der Vervollkommnung zu stellen – und doch auch spielerischen Umgang mit dem aristotelisch zu lesenden Pathos zu pflegen. Durch diesen gefühlsbetonten Appell kann die Integrität des Tänzers und seiner Schritte – also: die Sache selbst – sinnvoll ergänzt werden. Die Intensität, die dabei in den Augenblick gelegt wird, trägt neben der erwähnten Strukturierung auch zu einer Veränderung der Räume bei, in denen der Körper sich bewegt. Welt, Bühne und Leinwand geraten in eine Austauschsituation, Strategien der Permutation erzeugen Entwürfe, die in ihrer Dimension einer klassischen Bühnensituation mitunter gar nicht mehr entsprechen und in ihrem Streben nach Verwirklichung den Film förmlich (auf-)fordern. Es ist also für den Betrachter nicht zuletzt auch die Vertauschung, in der sich die eingangs betonte Ausnahmesituation der Körper als Anknüpfungspunkt anbietet: sich also zu fragen, ob man lieber ein Tänzer oder ein Marschierender wäre.

1.4.4 Sehen (lassen)

Die Option auf die Erweiterung der Möglichkeiten soll und muss bei all dem im sprichwörtlichen Blick behalten werden. Videotechnik und die entsprechende begleitende und sich weiter ausbildende Videopraxis seit den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts ist als eine solche Extension zu verstehen. Die Verschiebung durch Video als Format, als Produktions- und Rezeptionskonstituente sind schon in der Etymologie des Wortes begründet, meint videre doch zu sehen. Die nachhaltige Etablierung im Film- und Kunstkontext ist nicht zuletzt dadurch zu erklären, dass mit Video ein Medium zur Verfügung steht, in dem sämtliche künstlerische Disziplinen und Ausprägungsformen (und noch weit mehr) aufgenommen und verarbeitet werden können. Mit dieser Durchlässigkeit, dem Sperren gegen vereinheitlichende bzw. vereinnahmende Definitionen und der Ausrichtung auf Reproduzierbarkeit sind auch schon charakteristische Phänomene dieser Kunstform genannt, die auf einem eigenständigen Vokabular fußt. Die Prozesse des Erzeugens und Edierens lassen immer wieder an die gestalterischen Schritte des Aufnehmens, Speicherns, Bearbeitens, Kombinierens und eben auch Präsentierens denken. Bedingt durch die Synchronizität in Aufnahme und entsprechender Speicherung ergibt sich eine handliche Dynamik, eine Geste der Unmittelbarkeit im bewussten künstlerischen Umgang mit der zeitlichen Dimension – ein Umstand, der sowohl für die primäre Erfassung als auch für die jeweilige Präsentationsform Gültigkeit hat. Video erlaubt dem Medium Film ein erweitertes Vorrücken im Rahmen kunstgestützter Recherche und im Bereich der Bildenden Künste, insbesondere bei installativen Arbeiten. Geprägt durch den von Veränderungen und Wandlungen bestimmten Charakter des Mediums ist einerseits ein Abhängigkeitsverhältnis zum Stand der Technik und ihrer gesellschaftlichen Implementierung bedingt; die gleichen Eigenschaften aber, die ein technologieimmanentes instant feedback erzeugen, lassen andererseits erneut den Körper und seine physischen und psychischen Beschaffenheit ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.

Das Ausbrechen aus klassischen Konzepten ist dabei ein wesentlicher Bestandteil einer umfassenden Wirkungsstrategie. Zur vollen Entfaltung des ästhetischen Arsenals innerhalb einer auf Intermedialität und Interdisziplinarität ausgerichteten medialen Strategie des Verschaltens und Verknüpfens gehören nicht nur die Darstellungsmittel, sondern auch die mitgemeinten Präsentationsformen. An die Seite des white cube tritt die film- und videogerechte black box, die die künstlerischen Potentiale des dargebotenen Mediums unterstützen, wenn nicht sogar gänzlich hervorbringen soll. Um Juliane Rebentisch zu zitieren:

„Das geringste Problem hierbei ist allerdings die buchstäbliche, das heißt körperliche Immobilisierung des Zuschauers im Kino, von der Boris Groys meint, sie schon führe zwangsläufig zu intellektueller Immobilität. Denn die Möglichkeit einer aus der Latenz der Produktivität einer ästhetischen Erfahrung freigesetzten Bewußtseinstätigkeit ist nicht an die körperliche Bewegungsfreiheit des einzelnen Betrachters gebunden. Sie ist selbstverständlich prinzipiell auch im Kino möglich. Dafür steht nicht nur der Experimental- oder Kunstfilm. Die Bewußtseinstätigkeit des Zuschauers kann sich prinzipiell auch im klassischen Erzählkino so steigern, daß die Filmerfahrung vom traumähnlichen Zustand der Unterhaltung schließlich in eine qualitativ andere, eine ästhetische Erfahrung umschlagen mag. (…) Was dadurch, daß der Betrachter der Installation Beziehungen zu dieser beziehungsweise zwischen deren Elementen auch durch seine körperliche Aktivität herstellt, aber in besonderer Weise reflexiv thematisch wird – also dadurch, daß er sich in ihr bewegt und aus verschiedenen Perspektiven schaut –, ist der generell selbstreflexiv-performative Charakter der in unserem Sinne ästhetischen (Film-)Erfahrung. Wie in der Konfrontation mit der Minimal Art scheint auch in der Filminstallation dieser Grundzug ästhetischer Erfahrung besonders hervortreten zu können.“ (Rebentisch, 2003, 189f.)

 

Hier spiegelt sich die Aufforderung an das gesamte Publikum zur Teilhabe und Interaktivität, die deutliche Einladung an den Vereinzelten zur intellektuellen und körperlichen Begehung des skulpturalen Raum(bild)s. Das Bild selbst, das von vermeintlicher Immaterialität geprägt ist – spart man archivtheoretische Aspekte an diesem Punkt aus –, verbindet sich in seinem Kippen von Zeitlichkeit in Räumlichkeit spielerisch mit drei konzeptuellen Strängen: Es sind die Stränge des eigentlichen künstlerischen Akts, des Kontextes und schließlich der zuvor schon erwähnten, jeweiligen Aufführungsform. In dieser Grenzsituation entstehen neue Bildformen, die produktive Wechselbeziehung mit dem klassischen Filmmedium wird durch das reflexive Vermögen des Videos erneuert und auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge hin ausgebaut. Die Reflexion reicht dabei von der simplen Abrufbarkeit über die Installation, bis hin zur hautnahen Performance.

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