König Tod

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König Tod
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Thilo Corzilius

König Tod

Hamburg-Thriller

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Epilog

Nachwort und Danksagung

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Impressum neobooks

Widmung

Kann man einer Stadt ein Buch widmen? Ich weiß es nicht.

Für Hamburg.

Prolog

Verzweiflung breitet sich im Menschen aus wie eine gierige Krankheit. Wie ein Virus befällt sie zunächst unbemerkt eine einzige Zelle; dann nach und nach den gesamten Körper – und schließlich schlägt sie mit einem Mal gnadenlos zu.

Aufwachen!

Aufwachen!!

Es war ein hilfloses inneres Kommando, gerichtet an den eigenen Verstand. Sie konnte einfach nicht aufwachen, auch wenn sie wollte.

Da! Endlich bewegten sich ihre Lider. Schwer wie nasse Lappen lagen sie auf ihren Augäpfeln. Viel schwerer noch als am frühen Morgen nach zu wenig Schlaf. Millimeter für Millimeter kämpfte sie darum, Licht in ihre Pupillen strömen zu lassen.

Es fiel so unsagbar schwer.

Verschwommen nahm sie erste Eindrücke wahr. Schweiß klebte an ihren Wimpern. Gedämpft und verzerrt waren Lichter und Geräusche.

Dumpfes Pochen hämmerte von innen gegen ihre Schläfen.

Sie versuchte, ihre Glieder zu bewegen, schaffte es nicht. War sie gelähmt? Gefesselt?

Der Schwindel in ihrem Kopf brach sich Bahn und ihr Magen verkrampfte sich äußerst schmerzhaft. Doch nicht einmal erbrechen konnte sie sich.

Da war nur Pochen.

Wo war sie überhaupt? Was war das für ein Ort? Lehnte sie da nicht an etwas Kaltem? Einer Wand vielleicht oder ...

Panisch schüttelte sie den Kopf, doch es wurde nur wieder schlimmer. Die Eindrücke wirbelten vor ihren Augen durcheinander wie in einem Kaleidoskop.

Sie konnte eine Gestalt erkennen. Mann? Frau? Nicht auszumachen. Grell überstrahlten Scheinwerfer das Geschehen, blendeten sie schmerzhaft. Nur ab und zu konnte sie überhaupt einen Schemen aus dem Licht filtern. Ihr Kopf tat weh, die Umgebung dröhnte, obwohl sie genau wusste, dass es nahezu still war hier.

Was tat diese Person dort? Sie stand vor einer hell erleuchteten Wand und ... schrieb. Schrieb sie etwa? Waren das rote Buchstaben dort auf dem hell angestrahlten Grund?

Ihr Puls hämmerte und hämmerte.

Jetzt ließ die Gestalt ab. Sie sagte irgendwas, doch das Dröhnen und Wummern im Kopf ließen die Worte nicht richtig zu ihr vordringen. Sie verstand nicht viel.

»... einfach im Kaufhaus Messer ... ... schreiben ...«

Nichts von dem Wenigen, was sie aufschnappte, machte Sinn. Aber was machte schon Sinn? Sie verstand ja noch nicht einmal, wo sie war oder was mit ihr geschah.

Die Gestalt hatte ihre Tätigkeit offenbar beendet, denn sie kam zu ihr herüber.

»... nicht mehr viel zu sehen ...«, war das Letzte, was sie hörte. Dann durchzuckte sie ein Schmerz. Er war schneller, schärfer und lauter als jede Hölle. Vielleicht dauerte er nur den Bruchteil einer Sekunde, vielleicht auch eine ganze Ewigkeit. Alles brannte. Heißer als das Innere eines Sterns.

Sie merkte schon nicht mehr, zu welch unkontrollierten Zuckungen ihre Nervenbahnen sie brachten. Dann hörte das Dröhnen endlich auf und es wurde still.

Eins

»Scheiße, Mann!«, brüllte Amir durch den Salon der Villa. »Verfluchte, verdammte Scheiße!«

Er schlug mit der Faust gegen die ockerfarbene Tapete, prellte sich aber wohl nur den Knöchel. Mitleidig sah Thaddäus, wie dem ansonsten so harten Israeli Tränen in die Augenwinkel traten.

Auch Kirsten, die junge Doktorandin war den Tränen zum Greifen nahe. Sie hatte die Hände in sprachlosem Entsetzen vor den Mund geschlagen und verharrte so seit Minuten. Thaddäus wusste, dass der Tod ihres kranken Vaters sie vor einigen Jahren stark mitgenommen hatte. Jetzt hatte es ihre Mitbewohnerin getroffen. Nicht minder entsetzlich – auch, wenn es natürlich etwas völlig anderes war. Sie tat Thaddäus leid, wie sie verloren dastand. Ihre Augen starrten irgendwo in den Raum hinein, an ihm selbst vorbei, durch die beiden Beamten hindurch.

Überhaupt, die Beamten! Wie klischeehaft kann man denn bitteschön auftreten?, dachte Thaddäus.

Ein beiger Trenchcoat, eine speckige Lederjacke, graue Gesichter. Kriminalbeamte, natürlich. Selbstverständlich kannte Thaddäus Gesichter und Namen der beiden von seinen Recherchen. Doch sie wirklich hier zu haben, nahm dem müden Herbsttag in Hamburg die letzte Farbe.

Wie fühlte er selbst, Thaddäus von Bergen, sich eigentlich? War er geschockt? Sicherlich. Aber woher kam diese eigenartige Nüchternheit, mit der er in diesem Moment geschlagen war? Es kam ihm ein wenig vor, als betrachte er alles, was sich um ihn herum abspielte, bloß als Szene in einem Film. Einem blassen, schlechten Film, dessen Kameraeinstellungen eine Zumutung waren, sodass man am liebsten sein Geld zurückverlangt hätte.

»Herr von Bergen?«

Der Trenchcoat-Kommissar sprach ihn erneut an, nachdem er allen Anwesenden einen Augenblick für sich selbst gelassen hatte.

»Hm?«, reagierte Thaddäus. Die Welt fühlte sich seltsam taub an. Er versuchte, sich zurück in die Wirklichkeit zu holen. Der Name des Trenchcoat-Polizisten war Falter gewesen, Hauptkommissar Michael Falter.

»Haben Sie Zeit für ein paar Fragen?«

»Was? ... äh ... ja, sicher.«

Ein kurzes Schweigen folgte.

»Haben Sie vielleicht ein Arbeitszimmer?«, fragte Falter schließlich. »Irgendeinen Ort, an dem wir ungestört sind?«

»Natürlich.«

Thaddäus versuchte, sich so gut es ging zusammenzunehmen. »Kommen Sie mit.«

Er führte die beiden Polizisten durch das Erdgeschoss der Villa, bis sie in seinem geräumigen Arbeitszimmer angelangt waren. Höflich bot er ihnen zwei Stühle vor seinem Schreibtisch an. Er selbst nahm auf seinem Schreibtischsessel Platz und folgte den interessierten Blicken der beiden Polizisten, während sie sich umsahen und den Raum einzuordnen versuchten.

 

Die dunklen Möbel aus Kirschholz, der schwere Eichenschreibtisch, Regale voller Aktenordner und Bücher. Das alles schienen sie zwar wahrzunehmen. Was sie jedoch besonders gründlich in Augenschein nahmen, stand in einer freigemachten Ecke des großen Raumes.

»Ist das ein Schlagzeug?«, fragte der zweite Polizist ungläubig. Es klang beinahe etwas dümmlich

Thaddäus war kurz versucht, eine entsprechend dreiste Antwort zu geben. Doch dann schob er seine Gereiztheit auf den Schock und besann sich eines Besseren. Er nickte. »Ja.«

»Warum haben Sie ein Schlagzeug in Ihrem Arbeitszimmer?«

»Ich habe sonst keinen Platz dafür. Hören Sie, was soll das? Sie sind sicher nicht wegen des Schlagzeugs hier.«

Der Trenchcoat-Polizist übernahm stattdessen wieder. »Nein, entschuldigen Sie, Herr von Bergen. Nur erscheinen Sie uns – mit Verlaub – einfach ein wenig unkonventionell.«

»Und?«

»Das ist insofern nicht uninteressant: Auf Frau Harms’ Personalausweis stand, dass sie wohnhaft an dieser Adresse war.«

Frau Harms, hallte es durch Thaddäus’ Verstand.

So hörte es sich also an, wenn ein liebgewonnener Mensch zum Aktenzeichen wurde. Er musste schlucken. Ja, Monika Harms hatte hier gewohnt. Das ganze letzte Jahr über.

»Das ist ja auch der Fall«, bestätigte Thaddäus so trocken wie möglich. Und fügte nach einer Pause an: »Gewesen.«

»Wie darf ich mir das vorstellen?«, fragte Hauptkommissar Falter.

»Ganz einfach. Ich vermiete die Räume im oberen Stockwerk der Villa an junge Leute. Studenten meistens.«

»Hier zu wohnen, ist doch sicher nicht besonders günstig. Was zahlen ihre Mieter denn so?«

Thaddäus sagte es ihm.

Völliger Unglaube spiegelte sich auf dem Gesicht von Falter wider. »Das ist nicht Ihr Ernst.«

Thaddäus zuckte bloß mit den Schultern. »Warum nicht? Was soll ich denn sonst mit den Räumen tun? Mir ist lieber, dort oben wohnt jemand, der es sich sonst nicht leisten könnte.«

»Jemand wie Monika Harms?«

Thaddäus nickte. »Ja.«

»Sie müssen wissen, dass das in unseren Augen schon ein wenig eigenartig wirkt, Herr von Bergen.«

»Dass ich das Obergeschoss der Villa an Studenten vermiete?«

»Nein, nicht dass Sie es vermieten. Merkwürdig ist, dass ausgerechnet Sie der Vermieter von Frau Harms sind.«

In Thaddäus’ fragendem Gesicht konnte man lesen, wie in einem offenen Buch.

»Kommen Sie schon, Herr von Bergen. Wollen Sie mir etwa erzählen, es sei völliger Zufall, wenn Sie erst eine ausführliche Reportage in einer renommierten Wochenzeitung über einen bizarren Mordfall verfassen und wenige Wochen später wird Ihre Mieterin auf exakt dieselbe Weise umgebracht wie damals Herr Brünning.«

Erschrocken fuhr Thaddäus hoch.

»Das war derselbe Kerl?«, rief er aufgebracht. »Derselbe, der auch Wolf-Dieter Brünning umgebracht hat? Bitte sagen Sie mir, dass Sie mich auf den Arm nehmen wollen!«

Doch Hauptkommissar Falter schüttelte lediglich den Kopf.

»Nein, keineswegs«, meinte er besonnen. »Und ich fürchte, ich muss Sie auch fragen, was Sie gestern Abend so gegen zwanzig Uhr getan haben, Herr von Bergen.«

Thaddäus fühlte sich, als hätte ihm jemand einen harten Schlag in die Magengegend versetzt. »Ich ... äh ... Sie sagen gegen zwanzig Uhr? Vermutlich habe ich Schlagzeug gespielt. Keine Ahnung, fragen Sie doch Amir und Kirsten. Normalerweise bekommen die mit, wenn ich spiele. Das ist ja kein leises Instrument. Ich-«

»Das werden wir tun, Herr von Bergen«, versprach Falter. »Wenn Ihre Hausbewohner das jedoch nicht bestätigen sollten – hätten Sie in diesem Fall etwas dagegen, uns zu einer weiteren Vernehmung aufs Polizeipräsidium zu begleiten?«

Langsam, ganz langsam flaute die erste Aufregung bei Thaddäus ab. Stattdessen wurde ihm regelrecht übel. Die Mischung von nachmittäglichem Kaffee, Schock und Fassungslosigkeit machte seinem Magen zu schaffen.

»Nein.« Er schüttelte erschöpft den Kopf. »Natürlich komme ich mit.«

Zwei

»Thaddäus von Bergen, wohnhaft im Harvestehuder Weg Nummer 33 in Hamburg, geboren am 25. Juli 1977 ebenfalls in Hamburg, ledig, eine jüngere Schwester.«

Monoton ratterte der Beamte die Daten herunter, die ihm zur Verfügung standen.

Thaddäus war in ein Vernehmungszimmer geführt worden, das mit Leichtigkeit als der hässlichste frisch geputzte Raum durchging, den Thaddäus je gesehen hatte. Selbst die Tischplatte in der Mitte des Raumes wirkte aus irgendeinem Grund schäbig, obwohl sie sauber und auch sicherlich teuer gewesen war.

»Das stimmt soweit«, bestätigte Thaddäus, was er gehört hatte.

»Sind Sie sicher, dass Sie auf Herrn Eichendorff warten möchten?«, fragte der Polizist weiter. »Sie sind nur in Ihrer Funktion als Zeuge hier anwesend, nicht als-«

»Ja«, unterbrach Thaddäus ihn.

»Wie ›Ja‹?«

»Ja, ich bin sicher, dass ich auf Doktor Eichendorff warten möchte«, bestätigte Thaddäus noch einmal ausführlich. Das Doktor betonte er dabei mit aller Verachtung, die er aufzubringen vermochte. Es mochte ja sein, dass die Anwesenheit seines Rechtsanwaltes und – wenn man ihn denn so nennen wollte – Freundes Dr. Stefan Eichendorff tatsächlich vollkommen übertrieben war. Aber wenn die Sonderkommission tatsächlich argwöhnisch war, ob Thaddäus direkt etwas mit der Ermordung von Monika zu tun hatte, wollte er nicht auch nur das kleinste Risiko eingehen, dass ihm hier fälschlicherweise etwas angehängt würde.

»In Ordnung«, meinte der Beamte schließlich. »Dann muss ich Sie bitten, hier zu warten.«

Schon klar, dachte Thaddäus, während der Polizist den Raum verließ. Er stand auf und fuhr sich über das Gesicht.

Das alles ist doch ein einziger Alptraum, dachte er. Kann mir nicht bitte jemand sagen, dass ich nur halluziniere?

Monika Harms ist ermordet worden? Von demselben Menschen, der vor Wochen einen gewissen Wolf-Dieter Brünning, einen Hamburger Verleger, ermordet haben soll? Was bitteschön sind das denn für grausame Neuigkeiten? Und was um alles in der Welt hat Monika mit Wolf-Dieter Brünning zu tun? Das passt doch alles überhaupt nicht zusammen.

Doch mit den Fragen in seinem Kopf war Thaddäus sicher nicht allein. Wahrscheinlich waren das sogar genau die Fragen, die sich das LKA auch stellte.

Thaddäus machte zwei Schritte und stellte sich vor den falschen Spiegel, der in die Zimmerwand eingelassen war.

Wie siehst du überhaupt aus, Thaddäus?

Einen grauen Strickpullover und eine Jeanshose trug er. Dazu war er unrasiert und sein braunes Haar machte wie üblich, was es wollte. Hätten seine Eltern, das alte Ehepaar von Bergen, ihn in diesem Aufzug gesehen, hätten sie ihn womöglich enterbt. Doch Thaddäus scherte das nicht, denn so war es nun mal nicht gekommen. Er hatte die letzten beiden Tage zuhause am Schreibtisch gearbeitet und hatte keine Termine auswärts gehabt. Folglich war es ihm egal gewesen, wie er herumlief. Nur hier im Spiegel sah er, dass er wohl ganz und gar nicht dem von alters her angemessenen äußeren Bild der Familie von Bergen entsprach.

Er seufzte leise. Monika, Monika, spukte es durch seine Gedankenwelt. Unfassbar! Er wusste nicht einmal, ob er traurig, wütend oder verzweifelt sein sollte.

Ohne dass es weiter dazu beigetragen hätte, seine Emotionen zu sortieren, begann Thaddäus, ziellos durch den Raum zu wandern.

Schließlich, nach gefühlten Stunden, ging die Tür auf und ein bekanntes Gesicht tauchte im Verhörzimmer auf. Ein adrett gekleideter Herr, der mit Thaddäus im selben Alter war, betrat den Raum. Er hatte ein strenges Gesicht, auch wenn Thaddäus wusste, dass der erste Eindruck täuschte und er durchaus freundlich sein konnte.

»Stefan«, begrüßte er den guten Bekannten erleichtert.

Dr. Stefan Eichendorff nickte. »Thaddäus. Was zum Teufel mache ich hier? Oder besser: Was machst du hier, dass ich vorbeikommen muss?«

»Eine meiner Mieterinnen ist ermordet worden«, erklärte Thaddäus so knapp er konnte.

»Und man verdächtigt dich?«, resümierte Eichendorff, noch bevor er sich an den Tisch gesetzt hatte.

»Ja. Und das Problem ist, dass ich es sogar irgendwo verstehen kann. Ziemlich dämliche Sache das Ganze.«

»Erzähl!«

»Erinnerst du dich, dass ich letztens eine vielbeachtete Reportage im Chronos geschrieben habe?«

»Über diesen sogenannten Shakespeare-Mörder

»Richtig. Und genau auf dieselbe Weise hat man offenbar auch Monika umgebracht.«

Eichendorff legte die Stirn in Falten. »Das tut mir aufrichtig leid.«

Er grübelte eine Weile vor sich hin. »Wie sieht’s mit einem Alibi aus?«

»Ich habe keines, das jemand bestätigen könnte.«

»Okay ... und der Verdacht der Polizei ... rührt der nur daher, dass du dich-«

Weiter kam er nicht, denn die Tür ging auf und erneut kam jemand herein. Es war Hauptkommissar Falter.

»Oh, Pardon«, meinte er. »Brauchen Sie noch einen Moment, meine Herren?«

Doch Eichendorff schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht.«

Falter nickte und setzte sich auf den Stuhl an der gegenüberliegenden Seite des Tisches. Thaddäus schätzte ihn ebenfalls auf Ende dreißig, vielleicht auch etwas älter. Seinen Trenchcoat hatte er natürlich abgelegt, jetzt trug er einen dunkelgrünen Rollkragenpullover. Falters Haare schienen dem Beamten indes ähnliche Sorgen zu bereiten, wie Thaddäus die seinen. Auch hier waren es braune, widerspenstige Locken, die in alle Richtungen abstanden.

»Es ist doch in Ordnung für Sie, wenn wir unser Gespräch aufnehmen, oder?«, fragte Falter in einem etwas abwesend wirkenden Tonfall. Es folgte ein Fingerzeig in Richtung des Mikrofons, das vor ihm auf dem Tisch stand.

»Ja, das ist in Ordnung. Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, knurrte Eichendorff. Die adrette Fassade bekam erste Risse. »Aber würden Sie mir bitte verraten, warum sich Herr von Bergen überhaupt hier befindet?«

Michael Falter sah von seinem beschriebenen College-Block auf, den er vor sich auf den Tisch hingelegt hatte. Eine gewisse Coolness lag in seinem Blick. Er ließ sich von der Bissigkeit eines sicherlich überbezahlten Anwalts nicht beirren.

»Zunächst einmal möchte ich feststellen, dass Herr von Bergen sofort eingewilligt hat, hierher mitzukommen«, klärte er ohne Umschweife auf. »Und außerdem möchte ich festhalten, dass ich Herrn von Bergen hier nicht als dringend Tatverdächtigen festhalte oder etwas Ähnliches.«

»Weshalb haben Sie ihn dann überhaupt hierher gebeten?«

»Es gibt da eine ... nennen wir es mal Auffälligkeit.«

»Herr von Bergen hat in einer Zeitung eine Reportage über den Mord an dem Verleger Brünning veröffentlicht«, führte Stefan Eichendorff aus, bevor der Kommissionsleiter überhaupt dazu kam.

Der nickte wiederum. »Völlig richtig. Und nun wurde eine Person, mit der Herr von Bergen sehr gut bekannt war, auf völlig identische Weise Opfer eines Tötungsdeliktes.«

So war es wohl. Egal, wie bitter es schmeckte.

Der Anwalt versetzte: »Und das allein bewegt Sie, Herrn von Bergen zu einer Vernehmung einzubestellen?«

Doch Falter schüttelte den Kopf, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen. »Nein. Zunächst einmal habe ich ihn nicht einbestellt, sondern ihn gebeten, auf freiwilliger Basis zur Klärung der Umstände beizutragen. Dass sich Herr von Bergen gleich einen hochdotierten Anwalt dazu holt, konnte ich ja nicht ahnen.«

»Aber insgeheim haben Sie gehofft, Sie könnten ihn hier durch Befragungen in einen Zusammenhang mit dem Tötungsdelikt bringen?«

»Doktor Eichendorff, ich bitte Sie. Wir sind doch alle Profis hier.«

Eichendorff rümpfte übertrieben die Nase. »Das dachte ich auch – zumindest, bevor ich hierher kam.«

Hauptkommissar Falter seufzte ein wenig entnervt.

»Gut«, sagte er. »Dann lassen wir doch den Zirkus sein. Herr Thaddäus von Bergen hatte sich bereiterklärt, einige Fragen hier zu beantworten.«

Mit einem fragenden Blick vergewisserte Stefan Eichendorff sich bei Thaddäus, ob dies in dessen Sinne sei. Thaddäus hingegen signalisierte Falter mit einem Nicken, dass er loslegen sollte.

»Herr von Bergen«, begann er. »Sie haben einen gut recherchierten Artikel in der großen Wochenzeitung Chronos über den bizarren Mord an Wolf-Dieter Brünning geschrieben. Die geschilderten Sachverhalte, denke ich, beruhen auf Informationen der Hamburger Polizei, richtig?«

 

»Ja«, bestätigte Thaddäus. »Sie haben ja selbst genug darüber veröffentlicht. Mehrere Pressemeldungen, zudem die Aufforderung, Auffälligkeiten bitte sofort bei einer Dienststelle zu melden. Außerdem gab es eine ausführliche Pressekonferenz.«

Falter nickte. »Die gab es in der Tat. Ich war selbst zugegen. Danke, dass Sie mich daran erinnern. Ich zweifle nicht an der Qualität Ihrer journalistischen Arbeit, Herr von Bergen. Auch, wenn ich zugeben muss, dass die pseudo-psychologischen Erwägungen Ihres Artikels auf mich eher störend gewirkt haben.«

Thaddäus ging nicht darauf ein. Sollte Falter seinen Text ruhig einordnen, wie er wollte. Journalistisch war er jedenfalls vollkommen integer.

Doch Falter ging nicht weiter auf die Spitze ein. »Mich interessiert Ihre Arbeit in dieser Angelegenheit jedoch nur am Rande. Vielmehr interessiert mich die Tatsache, dass Sie unser neuestes Opfer, Monika Harms, persönlich und sogar sehr gut kannten.«

»Sehr gut ist übertrieben.«

»Frau Harms war eine attraktive und sicherlich auch intelligente junge Frau, die Sie zur lokal niedrigst möglichen Miete in ihrer Villa haben wohnen lassen.«

Aha! Jetzt verstand Thaddäus zumindest, woher der Wind wehte.

»Das stimmt so nicht einmal annähernd«, entgegnete er offen. »Ich habe Frau Harms die gezahlte Miete sogar privat zurückerstattet.«

Der Kommissionsleiter zeigte zum ersten Mal an diesem Abend einen ernsthaft überraschten Gesichtsausdruck. Er besann sich aber und führte das Ganze so professionell wie möglich fort. »Darf ich mich dann erkundigen, warum Sie so ... gönnerhaft gewesen sind? In welcher Beziehung standen Sie zu Frau Harms?«

»Wenn Sie schon mit dieser Betonung fragen: In keiner intimen Beziehung. Wir standen in einem Mietverhältnis zueinander, das war alles. Darüber hinaus herrschte zwischen uns ein freundschaftlicher Umgangston.«

»Und wieso die erlassene Miete?«

»Aus demselben Grund, warum ich sie auch allen anderen Mietern in der Villa erlasse: Ich habe das Geld nicht nötig.«

»Sie meinen Herrn Amir Benayoun und Frau Kirsten Hollstätter?«, vergewisserte Falter sich kurz mit einem Blick auf seine Notizen.

»Eben die«, meinte Thaddäus. »Ich vermiete die Räume im oberen Stock der Villa schon seit Jahren an Studenten. Dafür stelle ich kein Personal ein, das sich um Sauberkeit und Erhalt des Hauses kümmert. Das erledigen meine Mieter im Gegenzug. So lautet der Deal.«

Erstaunt hob Falter eine Augenbraue. »Und wo liegt der Vorteil? Ich meine, Sie müssen ja schon eine Menge Grundvertrauen haben, sich fremde Leute in ein so wertvolles Anwesen zu holen.«

»Grundvertrauen? Das müsste ich doch auch in Personal haben, oder?«

»Sie könnten gut beleumundetes Personal einstellen.«

»Stimmt. Aber ehrlich gesagt, hätte ich davon nicht viel.«

»Na ja, Ihre Villa würde in Schuss gehalten werden.«

Thaddäus winkte ab. »Aber gerade das passiert ja auch so. Der Vorteil ist doch auf beiden Seiten offensichtlich: Ich muss mich nicht mit Personal abmühen und habe stets hochintelligente junge Leute im Haus. Ich muss also nicht allein mein Dasein in einer riesigen Villa fristen. Im Gegenzug erhalten die Studenten eine Wohnmöglichkeit in bester Lage und in Campusnähe. Sie bezahlen kein Geld, sondern kümmern sich dafür um das Haus und den Garten.«

Falter schien nicht restlos überzeugt zu sein, also fügte Thaddäus noch hinzu: »Ja, es ist ein recht unorthodoxes Modell, das gebe ich zu. Aber ich habe bisher gute Erfahrungen damit gemacht und sehe keinen Grund, davon abzuweichen.«

Wieder hob der Kommissionsleiter eine Augenbraue. »Aber Sie bestreiten nicht, dass Sie zu Ihren Mietern ein ... freundschaftliches Verhältnis haben?«

»Wieso sollte ich? Ich bin vielleicht unorthodox, was den Umgang mit und in einem kostspieligen teuren Haus angeht, aber ich bin kein Misanthrop. Warum sollte ich Leute bei mir wohnen lassen, mit denen ich nicht gut auskomme?«

»Na ja«, brummte Falter. »Schlagzeugspielen hat Sie zumindest keiner gehört.«

Eichendorff blickte scharf in Thaddäus’ Richtung.

»Aber nicht, weil ich nicht gespielt habe«, bemerkte dieser. Und etwas unsicherer fügte er hinzu: »Oder?«

»Nein, das stimmt schon. Herr Benayoun war nach eigenen Angaben in einem Seminar in der Universität, Frau Hollstätter bei ihrem festen Freund in Bergedorf. Beides konnten wir uns jeweils bestätigen lassen.«

Stefan Eichendorff schaltete sich daraufhin direkt ein: »Trotzdem sind Sie ja weit davon entfernt, Herrn von Bergen irgendetwas in Bezug auf das Tötungsdelikt direkt anlasten zu können.«

Doch Falter hob den Zeigefinger. »Nicht so vorschnell! Sie haben zwar Recht, wenn Sie sagen, dass ich Herrn von Bergen nichts anlasten kann – das will ich ja auch gar nicht unbedingt, schließlich sind wir ja Profis, wie vorhin so schön betont wurde. Aber wir müssen festhalten, dass es immer noch die Verbindung über Ihren Artikel im Chronos gibt, Herr von Bergen.«

Thaddäus atmete hörbar aus, sah zu Stefan Eichendorff, als müsse er sich vergewissern, dann wieder zu Falter. »Sie meinen also tatsächlich, dass es wirklich dieselbe Person war, die auch Brünning ermordet hat?«

Falter nickte. »Das Vorgehen ist zumindest exakt dasselbe. Und nun muss ich mir die Frage stellen, ob es irgendeinen Zusammenhang zwischen dem Mord an Frau Harms und Ihrem Artikel im Chronos gibt.«

Wieder mischte sich Stefan Eichendorff ein: »Sie meinen, weil mein Klient darin die Vorgehensweise des Shakespeare-Mörders genauestens wiedergegeben hat?«

»Vielleicht deshalb. Und natürlich, weil das Mordopfer zu Herrn von Bergens direktem Umfeld gehört.«

»Aber das ist doch nicht zwingend. Die Information hätte ein Mörder ebenso gut aus den Pressemeldungen der Polizei filtern können.«

»Aber ermordet wurde hier niemand, der mit Polizisten befreundet oder bekannt war, sondern eine Studentin aus dem engen Bekanntenkreis von Herrn von Bergen.«

Eichendorff schüttelte den Kopf. »Das kann ebenso gut genau aus diesem Grund eingefädelt worden sein – um die Spur dorthin zu lenken. Außerdem müsste es dann ja auch eine Verbindung zum ersten Opfer, diesem Herrn Brünning, geben.«

Falter nickte. »Gibt es denn eine?«

Sowohl er als auch Stefan Eichendorff sahen Thaddäus erwartungsvoll an. Der dachte angestrengt nach und versuchte, so schnell es ging, jede Schublade seines aufgewühlten Gedächtnisses zu durchforsten.

»Nicht, dass ich wüsste«, musste er schließlich passen. Hatte sein Vater eventuell vor vielen Jahren einmal etwas mit Brünnings Verlagshaus zu tun gehabt? Er konnte es sich nicht vorstellen. Aufgefallen war ihm all die Jahre über zumindest nichts.

»Dann bleibt außerdem die Möglichkeit, dass es sich bei Herrn Brünning und bei Frau Harms um zwei verschiedene Täter handelt«, konstatierte Falter. »Von denen der zweite ganz genau wusste, was der erste getan hat.«

Doch Dr. Stefan Eichendorff wäre kein Anwalt gewesen, der Honorare in schwindelerregenden Höhen kassierte, wenn er seinen Beruf nicht halbwegs passabel ausführen würde.

»Das habe ich doch bereits vor einer Minute gesagt. Aber Sie lehnen sich auch ganz schön weit aus dem Fenster, Herr Falter. Sie wissen nicht, ob mein Klient überhaupt irgendetwas mit Ihrem Fall zu tun hat. Und trotzdem betonen Sie wiederholt, dass die Vorgehensweise identisch gewesen sei, richtig?«

»Ja«, nickte dieser knapp.

»Sind denn auch die Tatwerkzeuge dieselben? Oder zumindest vom gleichen Fabrikat?«

Er wandte sich zu Thaddäus um: »Wie ist Brünning noch gleich umgebracht worden?«

»Messerstiche«, murmelte Thaddäus. »Mit einem langen Messer in die Augen.«

Innerlich schüttelte er sich bei dem Gedanken, dass auch Monikas Leben derart geendet hatte.

»Was ist mit dem Betäubungsmittel?«, fiel ihm ein.

»Guter Punkt«, versetzte Eichendorff in Richtung des Kommissars. »Ist es dasselbe, das auch Herrn Brünning verabreicht wurde?«

»Wir warten noch auf den Obduktionsbericht«, sagte Falter gepresst.

Doch der Anwalt war gerade in Fahrt gekommen. »Gibt es sonst noch etwas? Denn falls nicht, dann kann mein Klient jetzt auch gehen. Sie könnten höchstens feststellen, dass Herr von Bergen mit seiner Reportage eine exakte Anleitung zu dem Shakespeare-Tötungsdelikt einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Aber es gibt nichts, aber auch gar nichts sonst, was ihn direkt mit dem Delikt in Verbindung bringt.«

Falter stöhnte entnervt auf. »Ihr Klient kann jederzeit gehen, Herr Eichendorff. Ich hatte nur gehofft, dass es eventuell irgendeine Verbindung zwischen den Opfern oder zumindest eine Verbindung zu Herrn von Bergen gibt.«

»Mit anderen Worten: Sie haben bisher keine anderen Ideen.«

»Herr Eichendorff«, verteidigte Falter sich. »Gerade Sie sollten wissen, wie wichtig die ersten achtundvierzig Stunden nach der Tat sind. Wir haben die Besitztümer von Frau Harms leider noch nicht ausgewertet. Unsere Spezialisten aus der EDV befassen sich gerade mit-«

»Schön«, unterbrach Eichendorff ihn unsanft. »Ich denke, für weitere Fragen steht Herr von Bergen Ihnen sicherlich später zur Verfügung. Und zwar bei sich zuhause in Harvestehude.«

Eine kurze Stille trat ein.

»Oder haben Sie jetzt etwa noch weitere Fragen?«

Doch Falter starrte auf seinen College-Block, der vor ihm lag.

»Nein«, meinte er schließlich.