Der Schimmelreiter. Novelle

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Aus der Reihe: Reclam Taschenbuch
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Der alte Tede Haien stand eben vor der Tür und sah ins Wetter: ›Na, Trien’!‹, sagte er, als sie pustend vor ihm stand und ihren Krückstock in die Erde bohrte, ›was bringt Sie Neues in Ihrem Sack?‹

›Erst lass mich in die Stube, Tede Haien! dann soll Er’s sehen!‹ und ihre Augen sahen ihn mit seltsamem Funkeln an!

›So komm Sie!‹, sagte der Alte. Was gingen ihn die Augen des dummen Weibes an.

Und als beide eingetreten waren, fuhr sie fort: ›Bring Er den alten Tabakskasten und das Schreibzeug von dem Tisch – – Was hat er denn immer zu schreiben? – – So; und nun wisch Er ihn sauber ab!‹

Und der Alte, der fast neugierig wurde, tat alles, was sie sagte; dann nahm sie den blauen Überzug bei beiden Zipfeln und schüttete daraus den großen Katerleichnam auf den Tisch. ›Da hat Er ihn!‹, rief sie; ›Sein Hauke hat ihn totgeschlagen.‹ Hierauf aber begann sie ein bitterliches Weinen; sie streichelte das dicke Fell des toten Tieres, legte ihm die Tatzen zusammen, neigte ihre lange Nase über dessen Kopf und raunte ihm unverständliche Zärtlichkeiten in die Ohren.

Tede Haien sah dem zu. ›So‹, sagte er; ›Hauke hat ihn totgeschlagen?‹ Er wusste nicht, was er mit dem heulenden Weibe machen sollte.

Die Alte nickte ihn grimmig an: ›Ja, ja; so Gott, das hat er getan!‹ und sie wischte sich mit ihrer von Gicht verkrümmten Hand das Wasser aus den Augen. ›Kein Kind, kein Lebigs mehr!‹, klagte sie. ›Und Er weiß es ja auch wohl, uns Alten, wenn’s nach Allerheiligen kommt, frieren abends im Bett die Beine, und statt zu schlafen, hören wir den Nordwest an unseren Fensterläden rappeln. Ich hör’s nicht gern, Tede Haien, er kommt daher, wo mein Junge mir im Schlick versank.‹

Tede Haien nickte, und die Alte streichelte das Fell ihres toten Katers: ›Der aber‹, begann sie wieder, ›wenn ich winters am Spinnrad saß, dann saß er bei mir und spann auch und sah mich an mit seinen grünen Augen! Und kroch ich, wenn’s mir kalt wurde, in mein Bett – es dauerte nicht lang, so sprang er zu mir und legte sich auf meine frierenden Beine, und wir schliefen so warm mitsammen, als hätte ich noch meinen jungen Schatz im Bett!‹ Die Alte, als suche sie bei dieser Erinnerung nach Zustimmung, sah den neben ihr am Tische stehenden Alten mit ihren funkelnden Augen an.

Tede Haien aber sagte bedächtig: ›Ich weiß Ihr einen Rat, Trien’ Jans‹, und er ging nach seiner Schatulle und nahm eine Silbermünze aus der Schublade – ›Sie sagt, dass Hauke Ihr das Tier vom Leben gebracht hat, und ich weiß, Sie lügt nicht; aber hier ist ein Krontaler von Christian dem Vierten; damit kauf Sie sich ein gegerbtes Lammfell für Ihre kalten Beine! Und wenn unsere Katze nächstens Junge wirft, so mag Sie sich das größte davon aussuchen; das zusammen tut wohl einen altersschwachen Angorakater! Und nun nehm Sie das Vieh und bring Sie es meinethalb an den Racker in der Stadt, und halt Sie das Maul, dass es hier auf meinem ehrlichen Tisch gelegen hat!‹

Während dieser Rede hatte das Weib schon nach dem Taler gegriffen und ihn in einer kleinen Tasche geborgen, die sie unter ihren Röcken trug; dann stopfte sie den Kater wieder in das Bettbühr, wischte mit ihrer Schürze die Blutflecken von dem Tisch und stakte zur Tür hinaus. ›Vergiss Er mir nur den jungen Kater nicht!‹, rief sie noch zurück.

– – Eine Weile später, als der alte Haien in dem engen Stüblein auf und ab schritt, trat Hauke herein und warf seinen bunten Vogel auf den Tisch; als er aber auf der weiß gescheuerten Platte den noch kennbaren Blutfleck sah, frug er, wie beiläufig: ›Was ist denn das?‹

Der Vater blieb stehen: ›Das ist Blut, was du hast fließen machen!‹

Dem Jungen schoss es doch heiß ins Gesicht: ›Ist denn Trien’ Jans mit ihrem Kater hier gewesen?‹

Der Alte nickte: ›Weshalb hast du ihr den totgeschlagen?‹

Hauke entblößte seinen blutigen Arm. ›Deshalb‹, sagte er; ›er hatte mir den Vogel fortgerissen!‹

Der Alte sagte nichts hierauf; er begann eine Zeitlang wieder auf und ab zu gehen; dann blieb er vor dem Jungen stehen und sah eine Weile wie abwesend auf ihn hin. ›Das mit dem Kater hab ich rein gemacht‹, sagte er dann; ›aber, siehst du, Hauke, die Kate ist hier zu klein; zwei Herren können darauf nicht sitzen – es ist nun Zeit, du musst dir einen Dienst besorgen!‹

›Ja, Vater‹, entgegnete Hauke; ›hab dergleichen auch gedacht.‹

›Warum?‹, frug der Alte.

– ›Ja, man wird grimmig in sich, wenn man’s nicht an einem ordentlichen Stück Arbeit auslassen kann.‹

›So?‹, sagte der Alte, ›und darum hast du den Angorer totgeschlagen? Das könnte leicht noch schlimmer werden?‹

– ›Er mag wohl Recht haben, Vater; aber der Deichgraf hat seinen Kleinknecht fortgejagt; das könnt ich schon verrichten!‹

Der Alte begann wieder auf und ab zu gehen und spritzte dabei die schwarze Tabaksjauche von sich: ›Der Deichgraf ist ein Dummkopf, dumm wie ’ne Saatgans! Er ist nur Deichgraf, weil sein Vater und Großvater es gewesen sind, und wegen seiner neunundzwanzig Fennen. Wenn Martini herankommt und hernach die Deich- und Sielrechnungen abgetan werden müssen, dann füttert er den Schulmeister mit Gansbraten und Met und Weizenkringeln und sitzt dabei und nickt, wenn der mit seiner Feder die Zahlenreihen hinunterläuft, und sagt: ,Ja, ja, Schulmeister, Gott vergönn’s Ihm! Was kann Er rechnen!‘ Wenn aber einmal der Schulmeister nicht kann oder auch nicht will, dann muss er selber dran und sitzt und schreibt und streicht wieder aus, und der große dumme Kopf wird ihm rot und heiß, und die Augen quellen wie Glaskugeln, als wollte das bisschen Verstand da hinaus.‹

Der Junge stand gerade auf vor dem Vater und wunderte sich, was der reden könne; so hatte er’s noch nicht von ihm gehört. ›Ja, Gott tröst’!‹, sagte er, ›dumm ist er wohl; aber seine Tochter Elke, die kann rechnen!‹

Der Alte sah ihn scharf an. ›Ahoi, Hauke‹, rief er; ›was weißt du von Elke Volkerts?‹

– ›Nichts, Vater; der Schulmeister hat’s mir nur erzählt.‹

Der Alte antwortete nicht darauf; er schob nur bedächtig seinen Tabaksknoten aus einer Backe hinter die andere. ›Und du denkst‹, sagte er dann, ›du wirst dort auch mitrechnen können.‹

›O ja, Vater, das möcht schon gehen‹, erwiderte der Sohn, und ein ernstes Zucken lief um seinen Mund.

Der Alte schüttelte den Kopf: ›Nun, aber meinethalb; versuch einmal dein Glück!‹

›Dank auch, Vater!‹, sagte Hauke und stieg zu seiner Schlafstatt auf dem Boden; hier setzte er sich auf die Bettkante und sann, weshalb ihn denn sein Vater um Elke Volkerts angerufen habe. Er kannte sie freilich, das ranke achtzehnjährige Mädchen mit dem bräunlichen schmalen Antlitz und den dunklen Brauen, die über den trotzigen Augen und der schmalen Nase ineinander liefen; doch hatte er noch kaum ein Wort mit ihr gesprochen; nun, wenn er zu dem alten Tede Volkerts ging, wollte er sie doch besser darauf ansehen, was es mit dem Mädchen auf sich habe. Und gleich jetzt wollte er gehen, damit kein anderer ihm die Stelle abjage; es war ja kaum noch Abend. Und so zog er seine Sonntagsjacke und seine besten Stiefeln an und machte sich guten Mutes auf den Weg.

– Das langgestreckte Haus des Deichgrafen war durch seine hohe Werfte, besonders durch den höchsten Baum des Dorfes, eine gewaltige Esche, schon von weitem sichtbar; der Großvater des jetzigen, der erste Deichgraf des Geschlechtes, hatte in seiner Jugend eine solche osten der Haustür hier gesetzt; aber die beiden ersten Anpflanzungen waren vergangen, und so hatte er an seinem Hochzeitsmorgen diesen dritten Baum gepflanzt, der noch jetzt mit seiner immer mächtiger werdenden Blätterkrone in dem hier unablässigen Winde wie von alten Zeiten rauschte.

Als nach einer Weile der lang aufgeschossene Hauke die hohe Werfte hinaufstieg, welche an den Seiten mit Rüben und Kohl bepflanzt war, sah er droben die Tochter des Hauswirts neben der niedrigen Haustür stehen. Ihr einer etwas hagerer Arm hing schlaff herab, die andere Hand schien im Rücken nach dem Eisenring zu greifen, von denen je einer zu beiden Seiten der Tür in der Mauer war, damit, wer vor das Haus ritt, sein Pferd daran befestigen könne. Die Dirne schien von dort ihre Augen über den Deich hinaus nach dem Meer zu haben, wo an dem stillen Abend die Sonne eben in das Wasser hinabsank und zugleich das bräunliche Mädchen mit ihrem letzten Schein vergoldete.

Hauke stieg etwas langsamer an der Werfte hinan und dachte bei sich: ›So ist sie nicht so dösig!‹ dann war er oben. ›Guten Abend auch!‹, sagte er zu ihr tretend; ›wonach guckst du denn mit deinen großen Augen, Jungfer Elke?‹

›Nach dem‹, erwiderte sie, ›was hier alle Abend vor sich geht; aber hier nicht alle Abend just zu sehen ist.‹ Sie ließ den Ring aus der Hand fallen, dass er klingend gegen die Mauer schlug. ›Was willst du, Hauke Haien?‹, frug sie.

›Was dir hoffentlich nicht zuwider ist‹, sagte er. ›Dein Vater hat seinen Kleinknecht fortgejagt, da dachte ich bei euch in Dienst.‹

Sie ließ ihre Blicke an ihm herunterlaufen: ›Du bist noch so was schlanterig, Hauke!‹, sagte sie; ›aber uns dienen zwei feste Augen besser als zwei feste Arme!‹ Sie sah ihn dabei fast düster an; aber Hauke hielt ihr tapfer stand. ›So komm‹, fuhr sie fort; ›der Wirt ist in der Stube, lass uns hineingehen!‹

———–

Am anderen Tage trat Tede Haien mit seinem Sohne in das geräumige Zimmer des Deichgrafen; die Wände waren mit glasurten Kacheln bekleidet, auf denen hier ein Schiff mit vollen Segeln oder ein Angler an einem Uferplatz, dort ein Rind, das kauend vor einem Bauernhause lag, den Beschauer vergnügen konnte; unterbrochen war diese dauerhafte Tapete durch ein mächtiges Wandbett mit jetzt zugeschobenen Türen und einen Wandschrank, der durch seine beiden Glastüren allerlei Porzellan- und Silbergeschirr erblicken ließ; neben der Tür zum anstoßenden Pesel war hinter einer Glasscheibe eine holländische Schlaguhr in die Wand gelassen.

 

Der starke, etwas schlagflüssige Hauswirt saß am Ende des blankgescheuerten Tisches im Lehnstuhl auf seinem bunten Wollenpolster. Er hatte seine Hände über dem Bauch gefaltet und starrte aus seinen runden Augen befriedigt auf das Gerippe einer fetten Ente; Gabel und Messer ruhten vor ihm auf dem Teller.

›Guten Tag, Deichgraf!‹, sagte Haien, und der Angeredete drehte langsam Kopf und Augen zu ihm hin. ›Ihr seid es, Tede?‹, entgegnete er, und der Stimme war die verzehrte fette Ente anzuhören, ›setzt Euch; es ist ein gut Stück von Euch zu mir herüber!‹

›Ich komme, Deichgraf‹, sagte Tede Haien, indem er sich auf die an der Wand entlanglaufende Bank dem anderen im Winkel gegenübersetzte. ›Ihr habt Verdruss mit Euerem Kleinknecht gehabt und seid mit meinem Jungen einig geworden, ihn an dessen Stelle zu setzen!‹

Der Deichgraf nickte: ›Ja, ja, Tede; aber – was meint Ihr mit Verdruss? Wir Marschleute haben, Gott tröst’ uns, was dagegen einzunehmen!‹ und er nahm das vor ihm liegende Messer und klopfte wie liebkosend auf das Gerippe der armen Ente. ›Das war mein Leibvogel‹, setzte er behaglich lachend hinzu; ›sie fraß mir aus der Hand!‹

›Ich dachte‹, sagte der alte Haien, das Letzte überhörend, ›der Bengel hätte Euch Unheil im Stall gemacht.‹

›Unheil? Ja, Tede; freilich Unheil genug! Der dicke Mopsbraten hatte die Kälber nicht gebörmt; aber er lag vollgetrunken auf dem Heuboden, und das Viehzeug schrie die ganze Nacht vor Durst, dass ich bis Mittag nachschlafen musste; dabei kann die Wirtschaft nicht bestehen!‹

›Nein, Deichgraf; aber dafür ist keine Gefahr bei meinem Jungen.‹

Hauke stand, die Hände in den Seitentaschen, am Türpfosten, hatte den Kopf im Nacken und studierte an den Fensterrähmen ihm gegenüber.

Der Deichgraf hatte die Augen zu ihm gehoben und nickte hinüber: ›Nein, nein, Tede‹; und er nickte nun auch dem Alten zu; ›Euer Hauke wird mir die Nachtruh nicht verstören; der Schulmeister hat’s mir schon vordem gesagt, der sitzt lieber vor der Rechentafel, als vor einem Glas mit Branntwein.‹

Hauke hörte nicht auf diesen Zuspruch, denn Elke war in die Stube getreten und nahm mit ihrer leichten Hand die Reste der Speisen von dem Tisch, ihn mit ihren dunkeln Augen flüchtig streifend. Da fielen seine Blicke auch auf sie. ›Bei Gott und Jesus‹, sprach er bei sich selber, ›sie sieht auch so nicht dösig aus!‹

Das Mädchen war hinausgegangen: ›Ihr wisset, Tede‹, begann der Deichgraf wieder, ›unser Herrgott hat mir einen Sohn versagt!‹

›Ja, Deichgraf; aber lasst Euch das nicht kränken‹, entgegnete der andere, ›denn im dritten Gliede soll der Familienverstand ja verschleißen; Euer Großvater, das wissen wir noch alle, war einer, der das Land geschützt hat!‹

Der Deichgraf, nach einigem Besinnen, sah schier verdutzt aus: ›Wie meint Ihr das, Tede Haien?‹, sagte er, und setzte sich in seinem Lehnstuhl auf; ›ich bin ja doch im dritten Gliede!‹

›Ja so! Nicht für ungut, Deichgraf; es geht nur so die Rede!‹ Und der hagere Tede Haien sah den alten Würdenträger mit etwas boshaften Augen an.

Der aber sprach unbekümmert: ›Ihr müsst Euch von alten Weibern dergleichen Torheit nicht aufschwatzen lassen, Tede Haien; Ihr kennt nur meine Tochter nicht, die rechnet mich selber dreimal um und um! Ich wollt nur sagen, Euer Hauke wird außer im Felde auch hier in meiner Stube mit Feder oder Rechenstift so manches profitieren können, was ihm nicht schaden wird!‹

›Ja, ja, Deichgraf, das wird er; da habt Ihr völlig Recht!‹, sagte der alte Haien und begann dann noch einige Vergünstigungen bei dem Mietkontrakt sich auszubedingen, die abends vorher von seinem Sohne nicht bedacht waren. So sollte dieser außer seinen leinenen Hemden im Herbst auch noch acht Paar wollene Strümpfe als Zugabe seines Lohnes genießen; so wollte er selbst ihn im Frühling acht Tage bei der eigenen Arbeit haben, und was dergleichen mehr war. Aber der Deichgraf war zu allem willig; Hauke Haien schien ihm eben der rechte Kleinknecht.

– – ›Nun, Gott tröst’ dich, Junge‹, sagte der Alte, da sie eben das Haus verlassen hatten, ›wenn der dir die Welt klarmachen soll!‹

Aber Hauke erwiderte ruhig: ›Lass Er nur, Vater; es wird schon alles werden.‹

———–

Und Hauke hatte so Unrecht nicht gehabt; die Welt, oder was ihm die Welt bedeutete, wurde ihm klarer, je länger sein Aufenthalt in diesem Hause dauerte; vielleicht umso mehr, je weniger ihm eine überlegene Einsicht zu Hülfe kam, und je mehr er auf seine eigene Kraft angewiesen war, mit der er sich von jeher beholfen hatte. Einer freilich war im Hause, für den er nicht der Rechte zu sein schien; das war der Großknecht Ole Peters, ein tüchtiger Arbeiter und ein maulfertiger Geselle. Ihm war der träge, aber dumme und stämmige Kleinknecht von vorhin besser nach seinem Sinn gewesen, dem er ruhig die Tonne Hafer auf den Rücken hatte laden und den er nach Herzenslust hatte herumstoßen können. Dem noch stilleren, aber ihn geistig überragenden Hauke vermochte er in solcher Weise nicht beizukommen; er hatte eine gar zu eigne Art, ihn anzublicken. Trotzdem verstand er es, Arbeiten für ihn auszusuchen, die seinem noch nicht gefesteten Körper hätten gefährlich werden können, und Hauke, wenn der Großknecht sagte: ›Da hättest du den dicken Niß nur sehen sollen; dem ging es von der Hand!‹, fasste nach Kräften an und brachte es, wenn auch mit Mühsal, doch zu Ende. Ein Glück war es für ihn, dass Elke selbst oder durch ihren Vater das meistens abzustellen wusste. Man mag wohl fragen, was mitunter ganz fremde Menschen aneinander bindet; vielleicht – sie waren beide geborene Rechner, und das Mädchen konnte ihren Kameraden in der groben Arbeit nicht verderben sehen.

Der Zwiespalt zwischen Groß- und Kleinknecht wurde auch im Winter nicht besser, als nach Martini die verschiedenen Deichrechnungen zur Revision eingelaufen waren.

Es war an einem Maiabend; aber es war Novemberwetter; von drinnen im Hause hörte man draußen hinterm Deich die Brandung donnern. ›He, Hauke‹, sagte der Hausherr, ›komm herein; nun magst du weisen, ob du rechnen kannst!‹

›Uns’ Weert‹, entgegnete dieser; – denn so nennen hier die Leute ihre Herrschaft – ›ich soll aber erst das Jungvieh füttern!‹

›Elke!‹, rief der Deichgraf; ›wo bist du, Elke! – Geh zu Ole, und sag ihm, er sollte das Jungvieh füttern; Hauke soll rechnen!‹

Und Elke eilte in den Stall und machte dem Großknecht die Bestellung, der eben damit beschäftigt war, das über Tag gebrauchte Pferdegeschirr wieder an seinen Platz zu hängen.

Ole Peters schlug mit einer Trense gegen den Ständer, neben dem er sich beschäftigte, als wolle er sie kurz und klein haben: ›Hol’ der Teufel den verfluchten Schreiberknecht!‹

Sie hörte die Worte noch, bevor sie die Stalltür wieder geschlossen hatte.

›Nun?‹, frug der Alte, als sie in die Stube trat.

›Ole wollte es schon besorgen‹, sagte die Tochter, ein wenig sich die Lippen beißend, und setzte sich Hauke gegenüber auf einen grobgeschnitzten Holzstuhl, wie sie noch derzeit hier an Winterabenden im Hause selbst gemacht wurden. Sie hatte aus einem Schubkasten einen weißen Strumpf mit rotem Vogelmuster genommen, an dem sie nun weiterstrickte; die langbeinigen Kreaturen darauf mochten Reiher oder Störche bedeuten sollen. Hauke saß ihr gegenüber in seine Rechnerei vertieft, der Deichgraf selbst ruhte in seinem Lehnstuhl und blinzelte schläfrig nach Haukes Feder; auf dem Tisch brannten, wie immer im Deichgrafenhause, zwei Unschlittkerzen, und vor den beiden in Blei gefassten Fenstern waren von außen die Läden vorgeschlagen und von innen zugeschroben; mochte der Wind nun poltern, wie er wollte. Mitunter hob Hauke seinen Kopf von der Arbeit und blickte einen Augenblick nach den Vogelstrümpfen oder nach dem schmalen ruhigen Gesicht des Mädchens.

Da tat es aus dem Lehnstuhl plötzlich einen lauten Schnarcher, und ein Blick und ein Lächeln flog zwischen den beiden jungen Menschen hin und wider; dann folgte allmählig ein ruhigeres Atmen; man konnte wohl ein wenig plaudern; Hauke wusste nur nicht, was.

Als sie aber das Strickzeug in die Höhe zog, und die Vögel sich nun in ihrer ganzen Länge zeigten, flüsterte er über den Tisch hinüber: ›Wo hast du das gelernt, Elke?‹

›Was gelernt?‹, frug das Mädchen zurück.

– ›Das Vogelstricken?‹, sagte Hauke.

›Das? Von Trien’ Jans draußen am Deich; sie kann allerlei; sie war vorzeiten einmal bei meinem Großvater hier im Dienst.‹

›Da warst du aber wohl noch nicht geboren?‹, sagte Hauke.

›Ich denk wohl nicht; aber sie ist noch oft ins Haus gekommen.‹

›Hat denn die die Vögel gern?‹, frug Hauke; ›ich meint, sie hielt es nur mit Katzen!‹

Elke schüttelte den Kopf: ›Sie zieht ja Enten und verkauft sie; aber im vorigen Frühjahr, als du den Angorer totgeschlagen hattest, sind ihr hinten im Stall die Ratten dazwischengekommen; nun will sie sich vorn am Hause einen andern bauen.‹

›So‹, sagte Hauke und zog einen leisen Pfiff durch die Zähne, ›dazu hat sie von der Geest sich Lehm und Steine hergeschleppt! Aber dann kommt sie in den Binnenweg; – hat sie denn Konzession?‹

›Weiß ich nicht‹, meinte Elke; aber er hatte das letzte Wort so laut gesprochen, dass der Deichgraf aus seinem Schlummer auffuhr. ›Was Konzession?‹, frug er und sah fast wild von einem zu der andern. ›Was soll die Konzession?‹

Als aber Hauke ihm dann die Sache vorgetragen hatte, klopfte er ihm lachend auf die Schulter: ›Ei was, der Binnenweg ist breit genug; Gott tröst’ den Deichgrafen, sollt’ er sich auch noch um die Entenställe kümmern!‹

Hauke fiel es aufs Herz, dass er die Alte mit ihren jungen Enten den Ratten sollte preisgegeben haben, und er ließ sich mit dem Einwand abfinden. ›Aber uns’ Weert‹, begann er wieder, ›es tät wohl dem und jenem ein kleiner Zwicker gut, und wollet Ihr ihn nicht selber greifen, so zwicket den Gevollmächtigten, der auf die Deichordnung passen soll!‹

›Wie, was sagt der Junge?‹ und der Deichgraf setzte sich vollends auf, und Elke ließ ihren künstlichen Strumpf sinken und wandte das Ohr hinüber.

›Ja, uns’ Weert‹, fuhr Hauke fort, ›Ihr habt doch schon die Frühlingsschau gehalten; aber trotzdem hat Peter Jansen auf seinem Stück das Unkraut auch noch heute nicht gebuscht; im Sommer werden die Stieglitzer da wieder lustig um die roten Distelblumen spielen! Und dicht daneben, ich weiß nicht, wem’s gehört, ist an der Außenseite eine ganze Wiege in dem Deich; bei schön Wetter liegt es immer voll von kleinen Kindern, die sich darin wälzen; aber – Gott bewahr’ uns vor Hochwasser!‹

Die Augen des alten Deichgrafen waren immer größer geworden.

›Und dann‹ – sagte Hauke wieder.

›Was dann noch, Junge?‹, frug der Deichgraf; ›bist du noch nicht fertig?‹ und es klang, als sei der Rede seines Kleinknechts ihm schon zu viel geworden.

›Ja, dann, uns’ Weert‹, sprach Hauke weiter; ›Ihr kennt die dicke Vollina, die Tochter vom Gevollmächtigten Harders, die immer ihres Vaters Pferde aus der Fenne holt, – wenn sie nur eben mit ihren runden Waden auf der alten gelben Stute sitzt, hü hopp! so geht’s allemal schräg an der Dossierung den Deich hinan!‹

Hauke bemerkte erst jetzt, dass Elke ihre klugen Augen auf ihn gerichtet hatte und leise ihren Kopf schüttelte.

Er schwieg; aber ein Faustschlag, den der Alte auf den Tisch tat, dröhnte ihm in die Ohren, ›da soll das Wetter dreinschlagen!‹, rief er, und Hauke erschrak beinahe über die Bärenstimme, die plötzlich hier hervorbrach: ›Zur Brüche! Notier mir das dicke Mensch zur Brüche, Hauke! Die Dirne hat mir im letzten Sommer drei junge Enten weggefangen! Ja, ja, notier nur‹, wiederholte er, als Hauke zögerte; ›ich glaub sogar, es waren vier!‹

›Ei, Vater‹, sagte Elke, ›war’s nicht die Otter, die die Enten nahm?‹

›Eine große Otter!‹, rief der Alte schnaufend; ›werd doch die dicke Vollina und eine Otter auseinanderkennen! Nein, nein, vier Enten, Hauke – Aber was du im Übrigen schwatzest, der Herr Oberdeichgraf und ich, nachdem wir zusammen in meinem Hause hier gefrühstückt hatten, sind im Frühjahr an deinem Unkraut und an deiner Wiege vorbeigefahren und haben’s doch nicht sehen können. Ihr beide aber‹, und er nickte ein paar Mal bedeutsam gegen Hauke und seine Tochter, ›danket Gott, dass ihr nicht Deichgraf seid! Zwei Augen hat man nur, und mit hundert soll man sehen. – – Nimm nur die Rechnungen über die Bestickungsarbeiten, Hauke, und sieh sie nach; die Kerls rechnen oft zu liederlich!‹

 

Dann lehnte er sich wieder in seinen Stuhl zurück, ruckte den schweren Körper ein paar Mal und überließ sich bald dem sorgenlosen Schlummer.

———–

Dergleichen wiederholte sich an manchem Abend. Hauke hatte scharfe Augen und unterließ es nicht, wenn sie beisammensaßen, das eine oder andre von schädlichem Tun oder Unterlassen in Deichsachen dem Alten vor die Augen zu rücken, und da dieser sie nicht immer schließen konnte, so kam unversehens ein lebhafterer Geschäftsgang in die Verwaltung, und die, welche früher im alten Schlendrian fortgesündigt hatten und jetzt unerwartet ihre frevlen oder faulen Finger geklopft fühlten, sahen sich unwillig und verwundert um, woher die Schläge denn gekommen seien. Und Ole, der Großknecht, säumte nicht, möglichst weit die Offenbarung zu verbreiten und dadurch gegen Hauke und seinen Vater, der doch die Mitschuld tragen musste, in diesen Kreisen einen Widerwillen zu erregen; die andern aber, welche nicht getroffen waren, oder denen es um die Sache selbst zu tun war, lachten und hatten ihre Freude, dass der Junge den Alten doch einmal etwas in Trab gebracht habe. ›Schad nur‹, sagten sie, ›dass der Bengel nicht den gehörigen Klei unter den Füßen hat; das gäbe später sonst einmal wieder einen Deichgrafen, wie vordem sie da gewesen sind; aber die paar Demat seines Alten, die täten’s denn doch nicht!‹

Als im nächsten Herbst der Herr Amtmann und Oberdeichgraf zur Schauung kam, sah er sich den alten Tede Volkerts von oben bis unten an, während dieser ihn zum Frühstück nötigte. ›Wahrhaftig, Deichgraf‹, sagte er, ›ich dacht’s mir schon, Ihr seid in der Tat um ein Halbstieg Jahre jünger geworden; Ihr habt mir diesmal mit all Euern Vorschlägen warm gemacht; wenn wir mit alledem nur heute fertig werden!‹

›Wird schon, wird schon, gestrenger Herr Oberdeichgraf‹, erwiderte der Alte schmunzelnd; ›der Gansbraten da wird schon die Kräfte stärken! Ja, Gott sei Dank, ich bin noch allezeit frisch und munter!‹ Er sah sich in der Stube um, ob auch nicht etwa Hauke um die Wege sei; dann setzte er in würdevoller Ruhe noch hinzu: ›So hoffe ich zu Gott, noch meines Amtes ein paar Jahre in Segen warten zu können.‹

›Und darauf, lieber Deichgraf‹, erwiderte sein Vorgesetzter sich erhebend, ›wollen wir dieses Glas zusammen trinken!‹

Elke, die das Frühstück bestellt hatte, ging eben, während die Gläser aneinander klangen, mit leisem Lachen aus der Stubentür. Dann holte sie eine Schüssel Abfall aus der Küche und ging durch den Stall, um es vor der Außentür dem Federvieh vorzuwerfen. Im Stall stand Hauke Haien und steckte den Kühen, die man der argen Witterung wegen schon jetzt hatte heraufnehmen müssen, mit der Furke Heu in ihre Raufen. Als er aber das Mädchen kommen sah, stieß er die Furke auf den Grund. ›Nu, Elke!‹, sagte er.

Sie blieb stehen und nickte ihm zu: ›Ja, Hauke; aber eben hättest du drinnen sein müssen!‹

›Meinst du? Warum denn, Elke?‹

›Der Herr Oberdeichgraf hat den Wirt gelobt!‹

– ›Den Wirt? Was tut das mir?‹

›Nein, ich mein, den Deichgrafen hat er gelobt!‹

Ein dunkles Rot flog über das Gesicht des jungen Menschen: ›Ich weiß wohl‹, sagte er, ›wohin du damit segeln willst!‹

›Werd nur nicht rot, Hauke; du warst es ja doch eigentlich, den der Oberdeichgraf lobte!‹

Hauke sah sie mit halbem Lächeln an. ›Auch du doch, Elke!‹, sagte er.

Aber sie schüttelte den Kopf: ›Nein, Hauke; als ich allein der Helfer war, da wurden wir nicht gelobt. Ich kann ja auch nur rechnen; du aber siehst draußen alles, was der Deichgraf doch wohl selber sehen sollte; du hast mich ausgestochen!‹

›Ich hab das nicht gewollt, dich am mindsten‹, sagte Hauke zaghaft, und er stieß den Kopf einer Kuh zur Seite: ›Komm, Rotbunt, friss mir nicht die Furke auf, du sollst ja alles haben!‹

›Denk nur nicht, dass mir’s leid tut, Hauke‹, sagte nach kurzem Sinnen das Mädchen; ›das ist ja Mannessache!‹

Da streckte Hauke ihr den Arm entgegen: ›Elke, gib mir die Hand darauf!‹

Ein tiefes Rot schoss unter die dunkeln Brauen des Mädchens. ›Warum? Ich lüg ja nicht!‹, rief sie.

Hauke wollte antworten; aber sie war schon zum Stall hinaus, und er stand mit seiner Furke in der Hand und hörte nur, wie draußen die Enten und Hühner um sie schnatterten und krähten.

———–

Es war im Januar von Haukes drittem Dienstjahre, als ein Winterfest gehalten werden sollte; ›Eisboseln‹ nennen sie es hier. Ein ständiger Frost hatte beim Ruhen der Küstenwinde alle Gräben zwischen den Fennen mit einer festen ebenen Krystallfläche belegt, sodass die zerschnittenen Landstücke nun eine weite Bahn für das Werfen der kleinen mit Blei ausgegossenen Holzkugeln bildeten, womit das Ziel erreicht werden sollte. Tagaus, tagein wehte ein leichter Nordost: alles war schon in Ordnung; die Geestleute in dem zu Osten über der Marsch belegenen Kirchdorf, die im vorigen Jahre gesiegt hatten, waren zum Wettkampf gefordert und hatten angenommen; von jeder Seite waren neun Werfer aufgestellt; auch der Obmann und die Kretler waren gewählt. Zu letzteren, die bei Streitfällen über einen zweifelhaften Wurf miteinander zu verhandeln hatten, wurden allezeit Leute genommen, die ihre Sache ins beste Licht zu rücken verstanden, am liebsten Burschen, die außer gesundem Menschenverstand auch noch ein lustig Mundwerk hatten. Dazu gehörte vor allen Ole Peters, der Großknecht des Deichgrafen. ›Werft nur wie die Teufel‹, sagte er; ›das Schwatzen tu ich schon umsonst!‹

Es war gegen Abend vor dem Festtag; in der Nebenstube des Kirchspielkruges droben auf der Geest war eine Anzahl von den Werfern erschienen, um über die Aufnahme einiger zuletzt noch Angemeldeten zu beschließen. Hauke Haien war auch unter diesen; er hatte erst nicht wollen, obschon er seiner wurfgeübten Arme sich wohl bewusst war; aber er fürchtete durch Ole Peters, der einen Ehrenposten in dem Spiel bekleidete, zurückgewiesen zu werden; die Niederlage wollte er sich sparen. Aber Elke hatte ihm noch in der elften Stunde den Sinn gewandt: ›Er wird’s nicht wagen, Hauke‹, hatte sie gesagt; ›er ist ein Tagelöhnersohn; dein Vater hat Kuh und Pferd und ist dazu der klügste Mann im Dorf!‹

›Aber, wenn er’s dennoch fertigbringt?‹

Sie sah ihn halb lächelnd aus ihren dunkeln Augen an. ›Dann‹, sagte sie, ›soll er sich den Mund wischen, wenn er abends mit seines Wirts Tochter zu tanzen denkt!‹ – Da hatte Hauke ihr mutig zugenickt.

Nun standen die jungen Leute, die noch in das Spiel hineinwollten, frierend und fußtrampelnd vor dem Kirchspielskrug und sahen nach der Spitze des aus Felsblöcken gebauten Kirchturms hinauf, neben dem das Krughaus lag. Des Pastors Tauben, die sich im Sommer auf den Feldern des Dorfes nährten, kamen eben von den Höfen und Scheuern der Bauern zurück, wo sie sich jetzt ihre Körner gesucht hatten, und verschwanden unter den Schindeln des Turmes, hinter welchen sie ihre Nester hatten; im Westen über dem Haf stand ein glühendes Abendrot.

›Wird gut Wetter morgen!‹, sagte der eine der jungen Burschen und begann heftig auf und ab zu wandern; ›aber kalt! kalt!‹ Ein zweiter, als er keine Taube mehr fliegen sah, ging in das Haus und stellte sich horchend neben die Tür der Stube, aus der jetzt ein lebhaftes Durcheinanderreden herausscholl; auch des Deichgrafen Kleinknecht war neben ihn getreten. ›Hör, Hauke‹, sagte er zu diesem; ›nun schreien sie um dich!‹ und deutlich hörte man von drinnen Ole Peters’ knarrende Stimme: ›Kleinknechte und Jungens gehören nicht dazu!‹

›Komm‹, flüsterte der andere und suchte Hauke am Rockärmel an die Stubentür zu ziehen, ›hier kannst du lernen, wie hoch sie dich taxieren!‹

Aber Hauke riss sich los und ging wieder vor das Haus: ›Sie haben uns nicht ausgesperrt, damit wir’s hören sollen!‹, rief er zurück.

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