Buch lesen: «Altneuland»

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ALTNEULAND

Theodor Herzl

Inhaltsverzeichnis

ERSTES BUCH Ein gebildeter undverzweifelter junger Mann

1. Kapitel.

2. Kapitel.

3. Kapitel.

4. Kapitel.

5. Kapitel.

6. Kapitel.

ZWEITES BUCH Haifa 1923

1. Kapitel.

2. Kapitel.

3. Kapitel.

4. Kapitel.

5. Kapitel.

6. Kapitel.

DRITTES BUCH Das blühende Land

1. Kapitel.

2. Kapitel.

3. Kapitel.

4. Kapitel.

5. Kapitel.

6. Kapitel.

VIERTES BUCH Passah

1. Kapitel.

2. Kapitel.

3. Kapitel.

4. Kapitel.

5. Kapitel.

6. Kapitel.

FÜNFTES BUCH Jerusalem

1. Kapitel.

2. Kapitel.

3. Kapitel.

4. Kapitel.

5. Kapitel.

6. Kapitel.

NACHWORT DES VERFASSERS

Impressum

DEM ANDENKEN

meines Vaters Jakob Herzl,

geb. 17. April 1836, gest. 9. Juni 1902,

und

meiner Schwester Pauline Herzl,

geb. 10. März 1859, gest. 7. Februar 1878

gewidmet.

ERSTES BUCH

Ein gebildeter und
verzweifelter junger Mann
1. Kapitel.

Dr. Friedrich Löwenberg saß in tiefer Melancholie an dem runden Marmortische seines Kaffeehauses. Es war eines der alten gemütlichen Wiener Cafes auf dem Alsergrunde. Er kam seit Jahren dahin, schon als Student. Mit der Regelmäßigkeit eines Bureaukraten pflegte er um die fünfte Nachmittagsstunde einzutreten. Der blasse, kranke Kellner begrüßte ihn ergebenst. Löwenberg machte eine höfliche Verbeugung vor der ebenfalls blassen Kassiererin, mit der er nie sprach. Dann setzte er sich an den runden Lesetisch, trank seinen Kaffee, las alle Zeitungen durch, die ihm der Kellner beflissen brachte. Und wenn er mit den Tages- und Wochenzeitungen, Witzblättern und Fachjournalen fertig war, was nie weniger als anderthalb Stunden in Anspruch nahm, kamen die Gespräche mit Freunden oder die einsamen Träume.

Das heißt: ehemals waren es Plaudereien gewesen, jetzt waren es nur noch Träumereien, denn die zwei guten Gesellen, die jahrelang mit ihm diese eigentümlich leeren und charmanten Abendstunden im Cafe Birkenreis verbracht hatten, sie waren beide in den letzten Monaten verstorben. Beide waren älter gewesen als er, und es war wie der eine, Heinrich, in seinem Abschiedsbrief an Löwenberg schrieb, bevor er sich eine Revolverkugel in die Schläfe schoß: »es war sozusagen chronologisch begreiflich, daß sie früher verzweifeln als er.« Der andere, Oswald, war nach Brasilien gezogen, um für eine Ansiedlung jüdischer Proletarier tätig zu sein, und dort war er unlängst dem gelben Fieber erlegen.

So kam es, daß Friedrich Löwenberg seit einigen Monaten einsam an dem alten Tische saß und, wenn er sich durch den Zeitungshaufen durchgeschlagen hatte, vor sich hinträumte, ohne eine Ansprache zu suchen. Er war zu müde, neue Bekanntschaften zu schließen, als wäre er nicht dreiundzwanzig Jahre alt, sondern ein Greis gewesen, der schon zu oft hatte von lieben Leuten Abschied nehmen müssen. Da saß er und starrte in den leichten Dunst hinein, der die ferneren Winkel des Saales verschleierte. Um den Billardtisch standen mit langen Stöcken und kühnen Stoßgeberden einige junge Leute. Die waren nicht unvergnügt, obwohl sie sich in ähnlicher Lage befanden, wie er: es waren angehende Ärzte, neugebackene Doktoren der Rechte, absolvierte Techniker. Die höheren Studien hatten sie vollendet, und zu tun gab es nichts. Die meisten waren Juden und pflegten zu klagen, wenn sie nicht gerade Billard oder Karten spielten, wie schwer es »in dieser Zeit« sei, das Fortkommen zu finden. Einstweilen vertrieben sie sich diese Zeit mit endlosen Spielpartien. Löwenberg bedauerte und beneidete zugleich diese Gedankenlosen. Sie waren eigentlich nur bessere Proletarier, Opfer einer Anschauungsweise, die vor zwanzig oder dreißig Jahren in den mittleren Schichten der Judenschaft geherrscht hatte. Die Söhne sollten etwas anderes werden, als die Väter gewesen. Los vom Handel, von den Geschäften. Da hatte ein Massenauszug des Nachwuchses nach den »gebildeten« Berufen stattgefunden. Das Ende war ein jammervoller Überfluss an studierten Leuten, die keine Beschäftigung fanden, zu bescheidener Lebensführung nicht mehr taugten, in Ämtern nicht unterschlüpfen konnten, wie ihre christlichen Kollegen, und sozusagen auf dem Markte lagen. Dabei hatten sie Standespflichten, ein kümmerlich hochmütiges Standesbewusstsein und recht mittellose Titel. Die einiges Vermögen besaßen, konnten es langsam aufzehren, oder sie lebten aus der väterlichen Tasche weiter.

Andere lauerten auf die »gute Partie«, mit der hübschen Aussicht, Eheknecht im Solde eines Schwiegervaters zu werden. Die dritten unternahmen eine rücksichtslose und nicht immer reinliche Konkurrenz in Berufen, welche eine vornehmere Lebenshaltung erforderten. So daß man das wunderliche und traurige Schauspiel hatte, sie, die nicht einfache Kaufleute sein wollten, als »Akademiker« Geschäfte machen zu sehen: Geschäfte mit geheimen Krankheiten oder unerlaubten Prozessen. Manche wurden aus Not Journalisten und handelten mit öffentlicher Meinung. Noch andere tummelten sich in Volksversammlungen herum, hausierten mit wertlosen Schlagworten, um bekannt zu werden und parteiliche Beziehungen zu ergattern, die später Nutzen bringen mochten.

Keinen dieser Wege wollte Löwenberg gehen. »Du taugst nicht fürs Leben,« hatte der arme Oswald ihm vor der Abreise nach Brasilien in grimmiger Laune gesagt, »denn du ekelst dich vor zu vielen Dingen. Man muss was hinunterschlucken können, zum Beispiel Ungeziefer, Unrat. Davon wird man dick und kräftig, und man bringt es zu etwas. Aber du, du bist nichts als ein feiner Esel. Geh’ in ein Kloster, Ophelia! … Daß du ein anständiger Mensch bist, wird dir niemand glauben, weil du ein Jud’ bist … also was? Du wirst mit den paar Groschen Erbteil früher als mit deiner Rechtspraxis fertig werden. Dann wirst du doch etwas anfangen müssen, wovor du dich ekelst — oder dich aufhängen. Ich bitte dich, kauf dir einen Strick, solange du noch einen Gulden hast. Auf mich kannst du nicht rechnen. Erstens werde ich nicht hier sein, zweitens bin ich dein Freund.«

Oswald hatte ihn bereden wollen, mit nach Brasilien zu gehen. Friedrich Löwenberg aber konnte sich dazu nicht entschließen. Den heimlichsten Grund seiner Weigerung nannte er freilich dem Freunde nicht, der damals hinauszog, um auf fremder Erde früh den Tod zu finden. Es war ein blonder, schwärmerischer Grund, ein äußerst süßes Geschöpf. Nicht einmal den beiden vertrauten Freunden wagte er von Ernestinen zu sprechen. Er fürchtete die Scherze über sein zartestes Gefühl. Und nun waren die beiden Guten nicht mehr da. Er konnte sie nicht mehr, auch wenn er wollte, um ihren Rat und ihre Teilnahme bitten. Denn es war eine schwere, schwere Sache. Er wollte sich vorstellen, was wohl die beiden dazu gesagt hätten, wenn sie nicht von ihm gegangen wären, sondern noch dasäßen auf ihren alten Plätzen an dem runden Lesetische. Er schloss die Augen ein wenig und träumte das Gespräch.

»Meine Freunde, ich bin verliebt — nein, ich liebe …«

»Armer Kerl!« würde Heinrich sagen.

Oswald aber: »Eine solche Dummheit sieht dir ganz ähnlich, lieber Friedrich.«

»Es ist mehr als eine Dummheit, meine lieben Freunde, es ist schon ausgewachsener Wahnsinn. Denn Herr Löffler, ihr Vater, wird mich wahrscheinlich auslachen, wenn ich ihn um die Hand Ernestinens bitte. Ich bin nichts als ein Advokaturskandidat mit vierzig Gulden Monatsgehalt. Ich habe nichts, gar nichts mehr. Die letzten Monate waren mein Ruin. Die wenigen hundert Gulden, die noch von meinem Erbe übrig waren, sind aufgezehrt. Ich weiß ja, daß es ein Unsinn war, mich so von allem zu entblößen. Aber ich wollte in ihrer Nähe sein, ihre Anmut sehen, ihre holde Stimme hören. Da musste ich im Sommer den Kurort besuchen, wo sie war, und nun Theater, Konzerte. Ich mußte mich auch gut kleiden, um in ihre Gesellschaften zu kommen. Und jetzt habe ich nichts mehr und liebe sie noch immer so, nein, mehr als je.«

»Und was willst du tun?« würde Heinrich fragen. »Ich will ihr sagen, daß ich sie liebe, und will sie bitten, ein paar Jahre auf mich zu warten, bis ich mir eine Existenz geschaffen habe.«

Da hörte er im Traume Oswalds höhnisches Lachen »Jawohl, warten! So unvernünftig ist Ernestine Löffler nicht, daß sie auf einen Hungerleider warten wird, bis sie verblüht ist. Hahaha!«

Aber das Lachen erscholl wirklich neben Friedrich Löwenberg, und er öffnete bestürzt die Augen, Herr Schiffmann, ein junger Bankbeamter, den Friedrich im Löfflerschen Hause kennengelernt hatte, stand vor ihm und lachte herzlich:

»Scheinen gestern spät ins Bett gegangen zu sein, Herr Doktor, daß Sie jetzt schon schläfrig sind.«

»Ich habe nicht geschlafen,« sagte Friedrich verlegen.

»Na, heute wird es auch lange dauern. Sie gehen doch zu Löfflers?« Herr Schiffmann setzte sich ungezwungen an den Lesetisch.

Friedrich konnte den Burschen nicht sonderlich leiden. Dennoch ließ er sich seine Gesellschaft gefallen, weil er mit ihm von Ernestinen reden durfte und öfters durch ihn erfuhr, in welches Theater Ernestine gehen werde. Herr Schiffmann hatte nämlich feine Beziehungen zu Theaterkassierern und verschaffte Sperrsitze selbst zu den unzugänglichsten Vorstellungen.

Friedrich sagte: »Ja, ich bin heute auch zu Löfflers eingeladen.«

Herr Schiffmann hatte eine Zeitung in die Hand genommen und rief aus: »Das ist doch sonderbar!«

»Was denn?«

»Diese Annonce!«

»Ah, Sie lesen auch die Annoncen?« sagte Friedrich, ironisch lächelnd.

»Wie heißt: auch?« erwiderte Schiffmann. »Ich lese hauptsächlich die Annoncen. Die sind das Interessanteste in der Zeitung — vom Börsenbericht abgesehen.«

»So? Ich habe den Börsenbericht noch nie gelesen.«

»Nun ja, Sie! … Aber ich ich brauche nur einen Blick auf den Kurszettel, so sag’ ich Ihnen die ganze europäische Lage. Dann kommen aber gleich die Annoncen. Sie haben keine Ahnung, was da alles drin steht. Das ist, wie wenn ich auf einen Markt geh. Da gibt es eine Menge Sachen und Menschen zu verkaufen. Das heißt: zu verkaufen ist ja eigentlich alles in der Welt — nur der Preis ist nicht immer zu erschwingen … Wenn ich da hereinschau’ in den Inseratenteil, erfahr’ ich immer, was es für Gelegenheiten gibt. Alles soll man wissen, nichts soll man brauchen… Aber da seh’ ich schon seit ein paar Tagen eine Annonce, die ich nicht versteh’.«

»Ist sie in einer fremden Sprache?« »Da sehen Sie her, Doktor!« Schiffmann hielt ihm das Blatt hin und deutete auf eine kleine Anzeige, die so lautete:

»Gesucht wird ein gebildeter und verzweifelter junger Mann, der bereit ist, mit seinem Leben ein letztes Experiment zu machen. Anträge unter N.O. Body an die Expedition.«

»Ja, Sie haben recht,« sagte Friedrich, »das ist ein merkwürdiges Inserat. Ein gebildeter und verzweifelter junger Mann! Solche sind vielleicht zu finden. Aber der Nachsatz macht die Sache schwerer. Wie verzweifelt muß einer sein, wenn er mit seinem Leben ein letztes Experiment wagen soll.«

»Er scheint ihn auch nicht gefunden zu haben, der Herr Body. Ich seh’ die Annonce immer wieder. Wissen möcht’ ich aber doch, wer dieser Body mit dem sonderbaren Geschmack ist.«

»Das ist niemand.«

»Wie heißt niemand?«

»N. O. Body = nobody. Niemand auf Englisch.«

»Ah, so … Ans Englische hab’ ich nicht gedacht. Alles soll man wissen, nichts soll man brauchen … Aber es wird Zeit, wenn wir nicht zu spät zu Löfflers kommen wollen. Grad’ heute muß man pünktlich sein.«

»Warum gerade heute?« fragte Löwenberg.

»Bedaure, kann ich nicht sagen. Bei mir ist Diskretion Ehrensache … Aber Sie können sich auf eine Überraschung gefasst machen … Kellner, zahlen!«

Eine Überraschung? Friedrich empfand plötzlich eine unbestimmte Angst.

Als er mit Schiffmann das Kaffeehaus verließ, bemerkte er einen Knaben von etwa zehn Jahren außen in der Türnische. Der Junge hatte in seinem dünnen Röckchen die Schultern hoch hinaufgezogen, die Arme verschränkt an den Leib geklemmt, und er stampfte mit den Füßen den leicht herangewehten Schnee dieses geschützten Winkels. Das Hüpfen nahm sich beinahe possierlich aus. Aber Friedrich sah, daß das arme Kind in den zerrissenen Schuhen bitterlich fror. Er griff in die Tasche, suchte beim Scheine der nächsten Laterne drei Kupferkreuzer aus dem Kleingelde hervor und gab sie dem Knaben. Dieser nahm sie, sagte leise mit fröstelnder Stimme »Dank!« und lief schnell davon.

»Was? Sie unterstützen den Straßenbettel?« sagte Schiffmann indigniert.

»Ich glaube nicht, daß dieser Kleine sich zum Vergnügen im Dezemberschnee herumtreibt … Mir scheint auch, es war ein Judenjunge.«

»Dann soll er sich an die Kultusgemeinde wenden oder an die israelitische Allianz und nicht am Abend bei Kaffeehäusern herumstehen!«

»Regen Sie sich nicht auf, Herr Schiffmann, Sie haben ihm doch nichts gegeben.«

»Mein lieber Doktor,« sagte Schiffmann bestimmt, »ich bin Mitglied des Vereines gegen Verarmung und Bettelei. Jahresbeitrag ein Gulden.« …

2. Kapitel.

Die Familie Löffler wohnte im zweiten Stock eines großen Zinshauses in der Gonzagagasse. Im Erdgeschosse befand sich die Tuchniederlage der Firma »Moriz Löffler und Komp.«

Als Friedrich und Schiffmann in das Vorzimmer traten, bemerkten sie an der Menge der schon dahängenden Winterröcke und Mäntel, daß die Gesellschaft heute zahlreicher sein mußte als gewöhnlich.

»Ein ganzes Kleidergeschäft,« meinte Schiffmann.

Im Salon waren einige Leute, die Friedrich schon kannte. Fremd war ihm aber der kahlköpfige Herr, der neben Ernestinen am Klavier stand und ihr ganz vertraulich zulächelte.

Das junge Mädchen streckte dem Ankömmling liebenswürdig die Hand entgegen: »Herr Doktor Löwenberg, lassen Sie sich vorstellen. Das ist Herr Leopold Weinberger.«

»Mitchef der Firma Samuel Weinberger und Söhne in Brünn,« ergänzte Papa Löffler nicht ohne Feierlichkeit und Wohlwollen.

Die beiden Herren reichten einander erfreut die Hände, und Friedrich nahm bei dieser Gelegenheit wahr, daß Herr Weinberger, der Mitchef der Brünner Firma, beträchtlich schielte und eine sehr feuchte Handfläche hatte. Das mißfiel Friedrich nicht, weil es den ersten, blitzartigen Gedanken verscheuchte, von dem er bei seinem Eintritte befallen worden war. Ernestine mit einem solchen Menschen — das war einfach unmöglich. Wie sie jetzt dastand, schlank, anmutig, das holde Haupt lieblich geneigt, entzückte sie seine Augen. Er mußte sich aber ein wenig zurückziehen, denn andere Gäste kamen und wurden begrüßt. Nur Herr Leopold Weinberger aus Brünn behauptete sich einigermaßen zudringlich an Ernestinens Seite.

Friedrich erkundigte sich bei Schiffmann.

»Dieser Herr Weinberger ist wohl ein alter Bekannter des Hauses?«

»Nein,« sagte Schiffmann, »sie kennen ihn erst seit vierzehn Tagen, aber es ist eine feine Tuchfirma.«

»Was ist fein, Herr Schiffmann, das Tuch oder die Firma?« fragte Friedrich belustigt und getröstet. Denn ein Mensch, den man erst seit vierzehn Tagen kannte, war doch sicherlich kein Bräutigam.

»Beides,« erwiderte Schiffmann. »Samuel Weinberger und Söhne kriegen so viel Geld wie sie wollen - für vier Percent. Hochprima … Überhaupt geht es heute hier nobel zu. Sehen Sie: der Magere dort mit den Glotzaugen, das ist Schlesinger, der Prokurist von Baron Goldstein. Er ist ein zuwiderer Mensch, aber sehr beliebt.«

»Warum?«

»Wie heißt, warum? Weil er der Prokurist von Baron Goldstein ist … Kennen Sie den mit dem grauen Backenbart? Auch nicht? Ja, von wo kommen Sie denn? Das ist der Großspekulant Laschner, einer der bedeutendsten Börsianer. Der spielt Ihnen mit ein paar tausend Effekten wie gar nichts. Jetzt ist er gerade sehr reich. Mir gesagt! Ob er nächstes Jahr noch etwas haben wird, weiß ich nicht. Heute hat seine Gemahlin die größten Brillantenboutons… die anderen sind ihr auch alle darauf neidig.«

Frau Laschner saß in einer Ecke des Salons mit mehreren ebenfalls stark geputzten Damen, und sie sprachen leidenschaftlich von Hüten. Die übrigen Gruppen waren noch in der kühlen Stimmung vor dem Nachtmahl. Auch schienen einige von der bevorstehenden Überraschung unterrichtet zu sein, die Schiffmann im Kaffeehaus angedeutet hatte. Sie machten diskrete Mienen und flüsterten miteinander. Friedrich fühlte sich unbehaglich, ohne recht zu wissen warum. In dieser Gesellschaft spielte er nächst Schiffmann die unbedeutendste Rolle. Sonst hatte er das nie bemerkt, weil Ernestine mit ihm zu bleiben pflegte, wenn er kam. Aber heute wandte sie keinen Blick und kein Wort an ihn. Herr Weinberger aus Brünn mußte ein sehr anregender Plauderer sein. Noch etwas empfand Friedrich als Demütigung des Schicksals. Er und Schiffmann waren die einzigen, die nicht im Frack oder Smoking erschienen waren, sondern im Salonrock. Dadurch waren sie auch äußerlich als die Parias des Abends gekennzeichnet. Am liebsten wäre er weggegangen, aber dazu fand er nicht den Mut.

Der große Salon war schon überfüllt. Man schien aber noch jemanden zu erwarten. Friedrich wandte sich mit einer Frage an seinen Elendsgenossen. Schiffmann wußte es auch wirklich, denn er hatte soeben eine Bemerkung der Hausfrau erlauscht. »Man wartet nur noch auf Grün und Blau.« »Wer ist das?« fragte Friedrich.

»Was? Sie kennen Grün und Blau nicht? Die zwei geistreichsten Menschen von Wien? Es gibt doch keine Gesellschaft, keine Hochzeit, keinen Polterabend, oder was immer, ohne Grün und Blau. Manche sagen. Grün ist der Geistreichere; manche sagen, Blau. Grün ist mehr auf Wortspiele eingerichtet, Blau macht sich mehr über die Leute lustig. Blau hat darum auch schon mehr Pätsch’ bekommen, aber das geniert ihn nicht. Er hat das richtige Gesicht dafür. Seine Wangen werden nicht rot, wenn man sie ohrfeigt … In den besseren jüdischen Kreisen sind die zwei Herren sehr beliebt. Nur kann einer den anderen nicht ausstehen — natürlich, sie sind ja Konkurrenten.«

Eine kleine Bewegung im Salon. Herr Grün war eingetreten, ein langer hagerer Mensch mit rötlichem Bart und auffallend weit vom Kopf abstehenden Ohren, die Herr Blau die »uneingesäumten Ohren« nannte, weil ihr oberer Rand nicht der Muschel zu gefaltet war, sondern flach auslag.

Ernestinens Mutter ging dem berühmten Witzbold mit einem liebenswürdigen Vorwurf entgegen: »Warum kommen Sie erst jetzt, Herr Grün?«

»Ich hab’ nicht später kommen können,« antwortete er humoristisch. Die es hörten, lächelten dankbar. Doch über die Züge des Humoristen flog ein Schatten: Blau war erschienen.

Herr Blau, ein mittelgroßer Mann von etwa dreißig Jahren, hatte ein glattrasiertes Gesicht, und auf der stark gebogenen Nase saß ihm ein Kneifer.

»Ich war im Wiedener Theater,« sagte er, »bei der Premiere. Nach dem ersten Akt bin ich weggegangen.«

Die Mitteilung erregte Interesse. Damen und Herren scharten sich um Blau, der weiter berichtete: »Der erste Akt ist zum allgemeinen Erstaunen nicht durchgefallen.«

Frau Laschner rief ihrem Gatten herrisch zu: »Moriz, ich will morgen dazu gehen.«

Blau fuhr fort: »Die Freunde der Librettisten haben sich ausgezeichnet unterhalten.«

»So gut ist die Operette?« fragte Schlesinger, der Prokurist des Baron Goldstein.

»Nein - so schlecht!« erklärte Blau. »Die Freunde der Verfasser unterhalten sich doch nur, wenn das Stück schlecht ist.«

Man ging zu Tisch. Der große Speisesaal war noch zu klein für die heutige Gesellschaft. Man saß dicht gedrängt. Ernestine neben Herrn Weinberger. Friedrich und Schiffmann hatten am untersten Ende der Tafel Platz nehmen müssen.

Anfänglich gab es mehr Tellergeklapper und Klirren von Eßzeug als Gespräche. Herr Blau rief seinem Konkurrenten über den Tisch zu:

»Grün — essen Sie nicht so laut! Man hört seinen eigenen Fisch nicht.«

»Sie sollten keinen Fisch essen, sondern Neidhammelkeule.«

Die Anhänger des Herrn Grün lachten über diesen Witz. Die Anhänger des Herrn Blau fanden ihn matt.

Aber die Aufmerksamkeit der Tafelrunde wurde von den beiden Witzbolden abgelenkt, als ein älterer Herr, der neben Frau Löffler saß, mit etwas lauterer Stimme sagte:

»Bei uns in Mähren wird die Lage auch schlecht. In den kleineren Landstädten sind die Leute wirklich in Gefahr. Sind die Deutschen schlecht aufgelegt, schlagen sie den Juden die Fenster ein. Sind die Tschechen schief gewickelt, brechen sie bei den Juden ein. Die armen Leute fangen an auszuwandern. Aber sie wissen nicht, wohin sie sollen.«

»Moritz!« schrie in diesem Augenblick Frau Laschner, »ich will übermorgen ins Burgtheater.«

»Gib jetzt Ruh!« antwortete der Börsenmann. »Doktor Weiß erzählt uns, wie es bei ihnen in Mähren aussieht. Auf Ehre nicht schön.«

Samuel Weinberger, der Vater des Herrn Leopold Weinberger, mischte sich ein: »Herr Doktor, Sie als Rabbiner sehen etwas zu schwarz.« »Weiß sieht immer schwarz!« sagte einer der Spaßmacher, aber der Witz fiel ins Leere. Samuel Weinberger fuhr fort: »Ich fühl’ mich in meiner Fabrik ganz sicher. Wenn man bei mir Spektakel macht, ruf ich die Polizei oder geh’ zum Platzkommando. Wenn das Gesindel nur die Bajonette sieht, hat es schon Respekt.«

»Das ist aber doch ein trauriger Zustand,« meinte Rabbiner Weiß mit Sanftmut.

Der Advokat Doktor Walter, der ursprünglich Voglstock geheißen hatte, bemerkte: »Ich weiß nicht mehr, wer gesagt hat: Mit Bajonetten kann man alles machen; nur sich darauf setzen kann man nicht.«

»Ich seh’ schon,« rief Laschner, »wir werden alle wieder den gelben Fleck tragen müssen.« »Oder auswandern,« sagte der Rabbiner. »Ich bitte Sie, wohin?« fragte Walter. »Ist es vielleicht anderswo besser? Sogar im freien Frankreich haben die Antisemiten die Oberhand.«

Doktor Weiß aber, der arme Rabbiner einer mährischen Kleinstadt, der entschieden nicht wusste, in welchen Kreis er da geraten war, wagte eine schüchterne Einwendung: »Es gibt seit einigen Jahren eine Bewegung, man nennt sie die zionistische. Die will die Judenfrage durch eine großartige Kolonisation lösen. Es sollen alle, die es nicht mehr aushalten können, in unsere alte Heimat, nach Palästina gehen.«

Er hatte ganz ruhig gesprochen und nicht wahrgenommen, wie die Gesichter um ihn her sich allmählich zum Lächeln verzogen, und er war daher ordentlich verdutzt, als das Gelächter beim Worte Palästina plötzlich losbrach. Es war ein Lachen in allen Tonarten. Die Damen kicherten, die Herren brüllten und wieherten. Nur Friedrich Löwenberg fand diesen Heiterkeitsausbruch brutal und ungeziemend gegen den alten Mann. Blau benützte die erste Pause im allgemeinen Gelächter, um zu erklären: »Wenn es in der neuen Operette einen einzigen solchen Witz gegeben hätte, wär’ uns wohl gewesen.«

Grün schrie; »Ich werde Botschafter in Wien.«

Erneutes Gelächter. Einige riefen dazwischen: »Ich auch, ich auch.«

Da sagte Blau ernst: »Meine Herren, alle können es nicht werden. Ich glaube, die österreichische Regierung wird so viele jüdische Botschafter nicht annehmen. Sie müssen sich um andere Posten umsehen.«

Der alte Rabbiner war aber sehr verlegen und sah nicht mehr von seinem Teller auf, indessen die Humoristen Grün und Blau sich mit einer wahren Lust auf den spaßigen Stoff warfen. Sie teilten das neue Reich ein, schilderten die Zustände. Am Schabbes wird die Börse geschlossen sein. Der König wird den Männern, die sich um das Vaterland oder um die Börse herum Verdienste erworben haben, den Davidsorden oder den Orden vom »fleischigen Schwert!« verleihen. Wer aber soll König sein?

»Jedenfalls Baron Goldstein,« sagte der Witzbold Blau.

Herr Schlesinger, der Prokurist dieses berühmten Bankiers, bemerkte unwillig: »Ich bitte, die Person des Herrn Baron von Goldstein nicht in die Debatte zu ziehen, wenigstens nicht in meiner Gegenwart.«

Fast alle Anwesenden gaben ihm durch Kopfnicken ihre Zustimmung zu erkennen. Der witzige Herr Blau beging wirklich manchmal Taktlosigkeiten. Die Person des Herrn Baron Goldstern in die Debatte zu ziehen, das ging denn doch ein bisschen zu weit. Herr Blau aber fuhr fort: »Justizminister wird Herr Doktor Walter. Er bekommt den Adelsstand mit dem Prädikate »von Voglstock«. Walter Edler von Veigistock.«

Man lachte. Der Advokat errötete über seinen Vatersnamen und rief dem Witzling zu: »Sie haben schon lang keine fremde Hand in Ihrem Gesicht gespürt.«

Grün, der Wortwitzige, aber Vorsichtigere, flüsterte seiner Nachbarin eine Silbenkombination zu, in der das Wort Ohrfeiglstock vorkam.

Frau Laschner erkundigte sich: »Wird es Theater auch geben in Palästina? Sonst geh’ ich nicht hin.« »Gewiß, gnädige Frau,« sagte Grün. »Bei den Festvorstellungen im Hoftheater von Jerusalem wird die ganze Israelite versammelt sein.«

Der Rabbiner Weiß meinte nun schüchtern: »Über wen machen Sie sich lustig, meine Herren? Über sich selbst?« »Nein, ernst werden wir uns nehmen!« sagte Blau. »Ich bin stolz, daß ich ein Jud’ bin,« erklärte Laschner, »denn wenn ich nicht wär’ stolz, wär’ ich doch auch ein Jud’. Also bin ich lieber gleich stolz.«

In diesem Augenblick gingen die beiden Stubenmädchen hinaus, eine andere Schüssel zu holen. Die Hausfrau bemerkte: »Wenn die Dienstboten dabei sind, sollte man lieber nicht über jüdische Sachen reden.«

Blau erwiderte sofort: »Entschuldigen, gnädige Frau, ich hab’ nicht gewußt, daß Ihre Dienstboten nicht wissen, daß Sie Juden sind.«

Einige lachten.

»Nun ja,« sagte Schlesinger mit Autorität; »aber man muß es doch nicht an die große Glocke hängen.«

Champagner wurde hereingebracht. Schiffmann stieß seinen Nachbar Löwenberg mit dem Ellbogen: »Jetzt wird’s losgehen!«

»Was wird losgehen?« fragte Friedrich.

»Haben Sie’s denn noch immer nicht heraus?«

Nein, Friedrich hatte es noch immer nicht erraten. Aber im nächsten Augenblick wurde ihm die Gewißheit. Herr Löffler klopfte mit dem Messer an sein Glas und erhob sich. Stille trat ein. Die Damen lehnten sich zurück. Der Humorist Blau schob noch schnell einen Bissen in den Mund, er kaute, während Papa Löffler sprach: »Meine hochverehrten Freunde! Ich bin in der angenehmen Lage, Ihnen eine freudige Mitteilung zu machen. Meine Tochter Ernestine hat sich mit Herrn Leopold Weinberger aus Brünn, Mitchef der Firma Samuel Weinberger und Söhne, verlobt. Das Brautpaar soll leben. Hoch!«

Hoch! Hoch! Hoch! Alle hatten sich erhoben. Die Gläser klangen. Dann ging man um den Tisch herum, zu den Eltern, zum Brautpaare, Glück wünschend. Auch Friedrich Löwenberg machte diesen Weg mit, obwohl er eine Wolke vor den Augen hatte. Eine Sekunde lang war er vor Ernestine gestanden und hatte mit zitternder Hand sein Glas dem ihrigen genähert. Sie sah flüchtig über ihn hinweg.

Dann war die Stimmung an der Tafel fröhlich geworden. Ein Trinkspruch folgte dem anderen. Schlesinger hielt eine würdevolle Rede. Grün und Blau zeigten sich auf der Höhe ihrer humoristischen Aufgabe, Grün verrenkte in seinem Toast noch mehr Silben als gewöhnlich, und Blau machte allerlei taktlose Anspielungen. Die Gesellschaft geriet in die beste Laune.

Friedrich hörte das alles nur undeutlich, wie aus der Ferne, und es war ihm zumute, als befände er sich in einem dichten Nebel, in dem man nichts sieht und schwer Atem holen kann.

Das Mahl ging zu Ende. Friedrich hatte den einzigen Gedanken, fortzukommen, weit weg von all diesen Leuten. Er kam sich überflüssig vor in diesem Zimmer, in dieser Stadt, in der Welt überhaupt. Aber als er sich in dem kleinen Gedränge nach der Tafel unauffällig hinausdrücken wollte, kam ihm Ernestine in den Weg. Lieblich war ihre Stimme, als sie ihn anhielt: »Sie haben mir noch nichts gesagt, Herr Doktor!« »Was soll ich Ihnen sagen, Fräulein Ernestine? … Ich wünsch’ Ihnen Glück. Ja, ja — ich wünsche Ihnen viel Glück zu dieser Verlobung.«

Aber da war schon der Bräutigam wieder neben ihr, legte den Arm mit der Sicherheit des Besitzers um ihre Taille und zog sie fort. Sie lächelte.

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